Statement der amtierenden Ratsvorsitzenden Bischöfin Kirsten Fehrs
Zur Veröffentlichung der ForuM-Studie: Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie Deutschland
Bischöfin Kirsten Fehrs, amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland
Statement anlässlich der Übergabe der Ergebnisse der Aufarbeitungsstudie „ForuM“ am 25. Januar 2024 in Hannover
Vielen Dank, Herr Professor Wazlawik! Von dieser ForuMStudie, die Sie uns gestern im Beteiligungsforum vorgestellt haben, habe ich vieles erwartet, aber das Gesamtbild hat mich doch erschüttert. Immer wieder neu, seit ich mich mit dem Thema befasse, erschüttert mich aufrichtig diese abgründige Gewalt, die so vielen Menschen in der Kirche angetan wurde. Zugleich, das ist mein zweites Gefühl, empfinde ich Achtung gegenüber allen, die mit großem Engagement daran mitgewirkt haben, dass wir nach 3 Jahren diese Ergebnisse in Händen haben. Wir haben sie gewollt – und wir nehmen sie mit Demut an.
Erschütterung, ich finde kein anderes Wort. Denn es erschüttert auch die Grundfeste unserer Kirche und Diakonie, schwarz auf weiß vermittelt zu bekommen, mit welch perfider und brutaler Gewalt Erwachsenen, Jugendlichen und auch Kindern (!) unsägliches Unrecht angetan wurde. Mit schweren Verletzungen an Leib und Seele, mit zum Teil lebenslangen Folgen. Und um es ganz klar zu sagen: Sexualisierte Gewalt – das ist keine „Beziehung“, kein versehentliches Berühren, keine Bagatelle, sondern bewusste Missachtung, ja, die brutale Verachtung menschlicher und kindlicher Selbstbestimmung – es ist Machtmissbrauch, es ist rohe und perfide, physische und psychische Gewalt, und das, wie wir hören werden, oft über Jahre hin.
Wir sprechen hier über Gewalt auch an Kindern, etwa in Kitas, von der niemand etwas gewusst haben will. Wir sprechen über ein Wegsehen des Umfelds, der Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen, und schlicht über das eklatante Versagen unserer Kirche und Diakonie, betroffenen Menschen gerecht zu werden. Wir haben sie zur Tatzeit nicht geschützt und wir haben sie nicht würdig behandelt, als sie den Mut gefasst haben, sich zu melden.
Erschüttert, aufgerüttelt bin ich, aber fassungslos nicht. Wer heute angesichts der Ergebnisse von ForuM aus allen Wolken fällt, der muss in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten, die Augen vor der Realität von sexualisierter Gewalt in unserer Gesellschaft und eben auch in unserer Kirche und Diakonie verschlossen haben. Wir haben diese Studie nicht initiiert, weil wir wissen wollten, „ob“ es sexualisierte Gewalt bei uns gab und gibt. Wir haben sie initiiert, weil wir deren systematischen Faktoren, die Risikostrukturen unabhängig und wissenschaftlich identifiziert, verifiziert und analysiert sehen wollten. Und klar ist: wir haben täterschützende Strukturen. Dank besonders der qualitativen Teilprojekte in dieser Studie ist das deutlich geworden. Aber auch quantitativ ist relevant, wie die bisherigen Zahlen, die – klar! - nur ein Teil des Hellfeldes abgebildet haben, nach oben zu korrigieren sind. Weil nur die Zusammenschau von quantitativer und qualitativer Forschung ein hilfreiches Gesamtbild gibt. Denn nein, es sind keine Einzelfälle. Und ja, darauf dass es überdies eine gesamtgesellschaftliche Dunkelfeldstudie geben muss, habe ich seit Jahren insistiert.
„Nicht die Betroffenen, wir als Institution müssen selbst Unrecht und Missstände ansprechen, angehen, aktiv aufarbeiten!“
Wir übernehmen als Institution Verantwortung für die Gewalttaten, die von Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen unserer Institution begangen wurden. Dazu gehört es als erstes, klar zu sagen: Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht. Und ich kann Sie, die Sie so verletzt wurden, nur von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten. Und zugleich sage ich: diese Bitte um Entschuldigung kann nicht unverbunden stehen. Sie ist eine Verpflichtung. Sie kann nur glaubwürdig sein, wenn wir dann auch handeln und mit Entschlossenheit weitere Veränderungsmaßnahmen auf den Weg bringen, die greifen. Heißt: Die neben all den Handlungsleitfäden und Präventionskonzepten, die es in den Landeskirchen längst gibt, auch eine Haltungs- und Kulturänderung weiter voranbringen. Denn die braucht es: eine Haltung, die sensibel und aufmerksam die Sichtweise und Forderungen, auch die Wut betroffener Menschen achtet. Es geht nicht um abarbeiten, es geht um aufarbeiten. Und um die angemessene Anerkennung des erlittenen Unrechts. Das ist wohlgemerkt eine Verantwortung und Pflicht, die niemals aufhört. Zugleich wird diese Studie schmerzhaft vor Augen führen, dass es offenbar ein viel längerer Weg ist von der Erkenntnis, wie es sein müsste hin zu einer realen Veränderung der Haltung auch vor Ort. Trotz steigender Präventionsbemühungen und Sensibilisierungen machen wir so bestürzend viel falsch, weisen betroffene Menschen zurück und verletzten sie erneut. Mir tut das in der Seele leid.
Und – genau deshalb - empfinde ich große Achtung! Ich stehe mit Achtung und Respekt davor, dass sich so viele betroffene Menschen aktiv in den Forschungsprozess eingebracht haben. Trotz allem. Ohne ihre Mitarbeit wäre diese unabhängige ForuM-Studie, die wir als EKD ja gerade wegen ihres überzeugenden betroffenen-partizipativen Konzeptes favorisiert haben, nicht möglich gewesen. Und so achte und respektiere ich ausdrücklich auch die konzentrierte, kritische und intensive Arbeit von allen Forschenden, die an diesem großen Projekt beteiligt waren. Hier wurde nicht allein nüchterne Forschung betrieben, hier wurde sich bei aller wissenschaftlichen Distanz auch persönlich sehr stark für Aufarbeitung und gegen sexualisierte Gewalt eingesetzt. Mein Dank gilt also Ihnen allen, die Sie die Projekte geleitet haben, ebenso wie den wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeiter*innen.
Bekannt ist: Die evangelische Kirche hat eine ausgeprägte föderale Struktur, mit einem partizipativen Selbstverständnis. Wie sehr da Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, wird uns die Studie bitter nachweisen. Und man muss erinnern, dass gerade die unterschiedlichen oder fehlenden Standards von Aufarbeitung und Anerkennung in den Landeskirchen ein Grund waren, im November 2018 mit dem Elf-Punkte Handlungsplan einen gesamtkirchlichen Prozess anzustoßen. Um der Transparenz willen, gerade für betroffene Menschen. Diese ForuMStudie wurde damals angestoßen. 2019 öffentlich von der EKD ausgeschrieben, erfolgte dann die Begutachtung der eingereichten Forschungsdesigns durch externe Gutachter*innen, in der sich ForuM durchsetzte. Gegen Ende 2020 konnte ForuM dann seine Arbeit aufnehmen, nachdem die Unabhängigkeit der Forschung durch eine Reihe von Vereinbarungen zwischen EKD und Forschungsverbund festgeschrieben und gesichert wurde.
Um den Wissenschaftler*innen einen ungehinderten Zugang zu Akten und Dokumenten zu ermöglichen, hat die EKD ihr Datenschutzgesetz geändert. Danach konnten sie direkte Einsicht in Akten, auch in Personalakten nehmen. Eine besondere Herausforderung stellten die Datenanfragen aus dem Teilprojekt E für alle Beteiligten dar. Die verschiedenen umfangreichen Fragebögen in mehreren Teilschritten und das Screening von Disziplinarakten hat unsere Institution nicht so leicht bewältigt. Ich weiß, dass die Forschenden unzufrieden waren und es zu Verzögerungen gekommen ist. Hier trafen erkennbar Vorstellungen der universitären Wissenschaft auf die Realitäten einer großen Institution. Aber durch Neueinstellungen und unzählige Überstunden konnten die Daten schlussendlich bereitgestellt und Fragen und Konflikte zumeist konstruktiv gelöst werden.
Wie geht es nun weiter? Denn dass dies nicht die erste und ganz bestimmt auch nicht die letzte Aufarbeitungsstudie ist, legt sich nahe. Und so ist der erste Schritt eben gerade nicht ein übereiltes Paket von Maßnahmen. Wir würden die Arbeit der Forschenden ja wahrlich nicht ernst nehmen, wenn wir heute oder morgen schon genau wüssten, was jetzt zu tun ist. Stattdessen beginnt mit dem morgigen Fachtag von ForuM ein Prozess der Ergebnisdiskussion in der Kirche und, ich bin mir sicher, auch in der Öffentlichkeit.
Dabei ist klar: Wir als evangelische Kirche sind in der Pflicht. Wir übernehmen die Verantwortung, die Ergebnisse in konkrete Maßnahmen entschlossen anzugehen. Die Diskussion über die Ergebnisse werden wir aber zusammen mit den Forschenden von ForuM und vor allem zusammen mit Betroffenenvertreter*innen führen. Denn die Arbeitsstruktur, die in der EKD gilt, ist und bleibt das Beteiligungsforum. In ihm diskutieren Betroffenenvertreter*innen und kirchliche Beauftragte zusammen alle Fragen zum Thema, und mehr noch: treffen die Entscheidung, welche Schlussfolgerungen die EKD und die Landeskirchen sowie die Diakonie aus dieser Studie ziehen. Zu diesem Weg der direkten Mitentscheidung von Betroffenenvertreter*innen im Beteiligungsforum haben sich alle Organe der EKD 2022 gebunden. Und diesen Weg werden wir selbstverständlich auch im Umgang mit den Ergebnissen gehen. An dieser Stelle möchte ich mich von Herzen bei den Betroffenenvertreter:innen bedanken; sie halten uns mit ihrer Kritik immer wieder den Spiegel vor und bewirken durch ihre große Klarheit wirklich Veränderung. Das ist gar nicht hoch genug zu schätzen.
Erlauben Sie mir ein letztes persönliches Wort: Ohne die betroffenen Menschen und ihren Mut zu sprechen, wäre das Thema Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche nicht ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Sie haben Worte gefunden, über das Furchtbare zu sprechen. Darin liegt für mich die Hoffnung, dass sich tatsächlich etwas verändert und auch andere nicht sprachlos bleiben. Aber: Nicht die Betroffenen, wir als Institution müssen selbst Unrecht und Missstände ansprechen, angehen, aktiv aufarbeiten! Denn: Christiane Lange aus der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum, die ich gefragt habe, ob ich ihre Worte hier verwenden darf, hat es für mich auf der Synode im November genau und treffend ausgedrückt: „Was Worte hat, wird wahr, tut weh und … lässt sich verändern.“ Es muss sich sehr viel ändern. Und das nehmen wir an.
Statement der amtierenden Ratsvorsitzenden Bischöfin Kirsten Fehrs anlässlich der Übergabe der Ergebnisse der Aufarbeitungsstudie „ForuM“ zum Download
Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt
Das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt ist ein bisher einzigartiges Modell der Betroffenenpartizipation. Dort werden alle Fragen, die sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie betreffen, von Betroffenenvertreter*innen und kirchlichen Vertreter*innen gemeinsam bearbeitet.