Die Furcht, Mensch zu sein

Annette Kurschus, Päses der Evangelischen Kirche von Westfalen und stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende über jüdisches Leben und Antisemitismus in Deutschland

Das jüdische Leben in Deutschland erblüht. Doch der Antisemitismus macht vieles kaputt. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Portrait von Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD

Annette Kurschus, Päses der Evangelischen Kirche von Westfalen und stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Ende Juni dieses Jahres nahm ich als Vertreterin der Kirchen an einer Gedenkveranstaltung in Weißrussland teil, wo in Malyj Trostenez von deutschen Händen und in deutschem Namen in den Jahren 1942 bis 1944 Abertausende Menschen ermordet wurden. Sowjetische Kriegsgefangene und sogenannte Partisanen und vor allem: Jüdinnen und Juden. Sie ­waren aus ihrer deutschen oder österreichischen Heimat de­portiert worden – und ihr Weg endete in Malyj Trostenez mit dem Tod.

An diesem „Schreckensort“ der europäischen Geschichte, wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Gedenkrede formulierte, kam mir ein Satz in den Sinn, den ich nur wenige Tage zuvor an anderer Stelle gehört hatte: „Wie und ob Jüdinnen und Juden in einem Land leben und ihren Glauben ausüben können, sagt viel über die Gesundheit einer Gesellschaft.“ So hatte es Natalia Verzhbovska, die junge Rabbinerin der liberalen jüdischen Gemeinde in Unna, gesagt, als ich sie auf der Baustelle der neuen Synagoge besuchte. Nächstes Jahr soll die festliche Einweihung sein.

So wie die junge Frau das sagte, sprachen daraus nicht zuerst Mahnung oder Besorgnis, sondern ich hörte eher das Gefühl heraus, angekommen zu sein; ich hörte den klaren Klang von Dankbarkeit für vielfältige erfahrene Unterstützung. Die nicht gerade große und doch sehr ­lebendige jüdische Gemeinde in Unna lebt ihren Glauben und ihre religiöse Tradition sehr selbstbewusst. Zu einem Gutteil besteht sie aus jüdischen Menschen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion und angesichts des damals dort wachsenden Antisemitismus nach Deutschland kamen.

Wie groß mag die Herausforderung gewesen sein, in einem neuen Land, einer fremden Sprache und einer an­deren Kultur Fuß zu fassen? Und dies umso mehr dort, von wo noch vor einem Menschenalter millionenfacher Tod für die Jüdinnen und Juden Europas ausging?

Wo es gegen Juden geht, steht die ­Sicherheit aller Minderheiten auf dem Spiel

Um so staunenswerter ist es, dass es dank diesen rund 220.000 sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlingen erstmals seit dem Nationalsozialismus und der Schoah wieder wachsende jüdische Gemeinden in Deutschland gibt. Und um so dankbarer muss es uns machen, wenn – wie zum Beispiel in Unna und in vielen Begegnungen des jüdisch-christlichen Dialogs – im Gespräch mit Jüdinnen und Juden als Grundton mitklingt: „Es ist gut, dass wir hier sind, und wir sind gern hier. Wir sind ein Teil dieses Landes und dieser Stadt. Das wollen wir zeigen, und das lässt man uns spüren.“

Bei allem Stolz auf das lebendige Gemeindeleben und bei aller Vorfreude auf die neue Synagoge war auf der Baustelle in Unna allerdings auch von Sicherheitsglas und Schutzzäunen die Rede. Die braucht man bei anderen Gotteshäusern nicht. Immer noch und wieder neu stellen Menschen in Deutschland jüdisches Leben in unserem Land infrage und hetzen gegen Menschen, die sich als Jüdinnen und Juden zu erkennen geben. Auch dies sagt etwas darüber aus, wie es um die „Gesundheit“ unseres Miteinanders bestellt ist.

Wo alte und neue, einheimische oder zugewanderte Antisemitismen laut und handgreiflich werden, brauchen zuerst Jüdinnen und Juden unsere Solidarität und unsere Stimme. Sie brauchen von uns Zeichen des Protests und Zeichen des Rechts. Wo es gegen Juden und Jüdinnen geht, stehen zugleich das Recht und die Sicherheit aller Minderheiten auf dem Spiel und nicht zuletzt die Würde einer ganzen Gesellschaft. Der Philosoph Jean-Paul Sartre formulierte es so: „Der Antisemitismus ist die Furcht vor dem Menschsein.“

Annette Kurschus (für chrismon)