Liturgie vom Tablet?

Liturgie-Experte Alexander Deeg über das Für und Wider digitaler Geräte im Gottesdienst

Leipzig (epd). Alexander Deeg, Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig, ist zurückhaltend, wenn es um die Verwendung von Tablets im Gottesdienst geht. Argumente gebe es eher gegen als für das Tablet als Ersatz für liturgische Bücher – „aber nicht gegen das Tablet als Vorlage für die Predigt“, sagt Deeg im Interview.

Pfarrerin im Talar liest eine digitale Kopie einer historischen Bibel auf ihrem Tablet

„Ein Tablet symbolisiert die Unendlichkeit der Kommunikation, die Vielfalt und Pluralität“, sagt Alexander Deeg. Als Ersatz für ein liturgisches Buch sollte man es aufgrund dieser unterschiedlichen Symbolik lieber nicht verwenden.

Die evangelische Kirche setzt auf das Digitale. Da erscheint es nur konsequent, dass Pfarrerinnen oder Pfarrer im Gottesdienst vom Tablet lesen. Oder nicht?

Alexander Deeg: Bei der Frage nach dem Tablet im Gottesdienst geht es für mich nicht um die Modernität oder Zeitgemäßheit kirchlicher Kommunikation da kann und muss Kirche eine Menge lernen! sondern um die beiden zusammenhängenden Fragen: Was ist eigentlich Gottesdienst und was soll darin geschehen? Und: Wofür steht und was symbolisiert ein Tablet im Unterschied zu einem liturgischen Buch?

Ein liturgisches Buch wie zum Beispiel das „Evangelische Gottesdienstbuch“ oder die Agenden zu Taufen, Trauungen, Beerdigungen et cetera entstammt einem langen Diskussionsprozess, bei dem sehr viele Menschen beteiligt waren und sind, wie Liturgische Ausschüsse, Synoden und Gemeinden, die die Texte erproben. Es steht daher für die Überindividualität der Liturgie und in gewisser Weise für die Gemeinschaft der Kirche. Außerdem hat ein Buch einen Anfang und ein Ende und ist so begrenzt.

Das alles gilt nicht für ein Tablet. Ein Tablet symbolisiert eher die Unendlichkeit der Kommunikation, die Vielfalt und Pluralität. Es ist ja gerade dadurch gekennzeichnet, dass auf ihm gearbeitet und gespielt werden kann, dass mit ihm unterschiedlichste Filme geschaut und Geschäfte gemacht werden können. Damit hat beides – Buch und Tablet – einen ganz unterschiedlichen Symbolwert.

Es ist also ein Unterschied, ob man ein Tablet für die Predigt oder für die Liturgie verwendet?

Deeg: Erfreulicherweise haben auch Evangelische in den vergangenen Jahrzehnten neu gelernt, welche Bedeutung Symbole und Rituale für die Kommunikation überhaupt, ganz besonders aber auch für die gottesdienstliche Kommunikation haben. Es macht für mich einen großen Unterschied, ob im Gottesdienst Aktive ihre Predigt von einem Tablet ablesen oder ob sie ein Tablet für die liturgischen Texte und biblischen Lesungen verwenden.

Das hängt mit der unterschiedlichen Rolle von Predigenden und Liturginnen und Liturgen zusammen und mit dem unterschiedlichen Charakter der jeweiligen Texte. Eine Predigt ist aktuelles und persönliches Wort. Sie steht in der Verantwortung der Predigenden. Sie kann frei gehalten oder aus einem Ringbuch oder von einem Tablet vorgelesen werden.

Und liturgische Texte?

Deeg: Liturgische Texte sind Texte der Gemeinde. Liturginnen und Liturgen treten zwar aus der Gemeinde hervor, beten aber für und mit den in der Gemeinde Versammelten. Ein Lektionar oder das Gottesdienstbuch symbolisiert, dass hier nicht das Ureigenste zur Sprache kommt, sondern etwas, das Gemeinschaft stiftet und verbindet.

Martin Luther hatte übrigens ein gutes Gespür für die Besonderheit der Predigt im liturgischen Vollzug. Während er als Liturg im Messgewand agierte, legte er dieses vor der Predigt ab und predigte im üblichen schwarzen Gewand des Gelehrten. Nach der Predigt und vor dem Abendmahl zog er dann das Messgewand wieder über. Er inszenierte also symbolisch den Wechsel der unterschiedlichen Rollen – eine Praxis, die in vielen lutherischen Gegenden über lange Zeit üblich war.

Was ist zurzeit in Gottesdiensten üblich?

Deeg: In evangelischen Gottesdiensten ist derzeit sicher das schwarze Ringbuch der liturgisch-homiletische Standard. Aus diesem werden liturgische Texte und die Predigt vorgelesen. Der gerade beschriebene und meines Erachtens sinnvolle Medienwechsel, der mit dem liturgisch-homiletischen Rollenwechsel einhergeht, findet eher nicht statt.

Wie Gemeinden das Symbol des schwarzen Ringbuchs interpretieren, ist meines Wissens empirisch nicht erforscht. Ob sie es als individuellen Ausdruck der Liturgin oder des Liturgen wahrnehmen oder als beinahe rituelle Formvorgabe der evangelischen Liturgie deuten, ist nicht bekannt.

Diese Überlegung zeigt, dass es zweifellos interessant wäre, der Frage nach Tablet, Buch oder Ringbuch empirisch nachzugehen. Jedenfalls wissen wir aus neueren mikrosoziologischen Studien zum Gottesdienst, wie stark vermeintliche „Kleinigkeiten“ wahrgenommen und interpretiert werden – etwa das Justieren des Mikrofons vor dem ersten Wort der Sprecher.

Was spricht dagegen, dass Theologen ihre Texte erst gar nicht mehr ausdrucken, sondern gleich vom Tablet ablesen?

Deeg: Im Gottesdienst, wie auch bei jeder anderen „Inszenierung“, lassen sich die eingesetzten „Hilfsmittel“ nicht nur im Blick auf ihre Funktionalität beschreiben und bestimmen. Es geht also bei der Frage „Tablet – ja oder nein“ nicht nur um Praktikabilität oder Lesbarkeit, sondern entscheidend darum, welche Bedeutungen ein Gegenstand mit sich bringt und welche Deutungen er freisetzt.

Auch in evangelischen Gottesdiensten kommt – hoffentlich! – niemand auf die Idee, den Abendmahlswein in Plastikbechern auf dem Altar darzureichen oder für die Taufe statt einer Taufkanne eine Plastikflasche zu verwenden – obgleich die Funktionalität zweifellos vergleichbar wäre. Das heißt: Es geht um die mit unterschiedlichen Gegenständen gesetzte Symbolik – und damit wäre ich wieder bei dem Obengesagten.

Gibt es sonstige Argumente für oder gegen das Tablet? Zum Beispiel das vom Display bizarr beleuchtete Gesicht der Pfarrerin oder des Pfarrers? Eine Beerdigung bei Regen? Ein zur Neige gehendes Akku bei der Taufe? Datenschutzgründe?

Deeg: Zweifellos gibt es auch diese Argumente. Sie spielen aber meines Erachtens eine weit geringere Rolle als die oben genannten. Und für alle pragmatischen Probleme lassen sich immer auch Lösungen finden. Es wäre schade, wenn die Diskussion um „Tablet: Ja oder Nein?“ lediglich auf der Ebene der Pragmatik geführt werden würde.

Der lutherische Theologe und Diakonie-Pionier Wilhelm Löhe forderte im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die allzu karge protestantische Liturgie eine neue ästhetische Kultur in Kirchenräumen. Würde eine solche Kultur heute für oder gegen das Tablet sprechen?

Deeg: Es ist entscheidend, dass es nicht um eine „Ästhetisierung“ geht und nicht darum, dass sich das, was bestimmte Milieus schön finden oder für gut halten, durchsetzt, sondern dass es eine symbolische Logik gibt, die damit zu tun hat, dass man weiß, was man tut.

Darum ging es meiner Meinung nach auch Wilhelm Löhe. Wenn der Gottesdienst nicht eine Show eines Liturgen oder ein Dialogformat in Analogie zu anderen medialen Formaten ist, sondern – wie Luther meinte – ein Reden Gottes mit uns und unser Reden mit ihm, dann geht es entscheidend darum, dass alle unsere „horizontale“ Kommunikation in der Erwartung einer „vertikalen“ Unterbrechung geschieht.

Wir reden – ja! Aber das ist nicht das Entscheidende! Wir tun es, weil wir – so merkwürdig das klingt – damit rechnen und darauf hoffen, dass Gott selbst sein Wort ergreift und unser Leben verändert. Für diese „Versuchsanordnung“ des Gottesdienstes, für diesen Inhalt, braucht es Formen, die ihm entsprechen. Das heißt nicht, dass es darum geht, dass Gottesdienst „alt“ oder gar medial „veraltet“ sein muss. Natürlich gibt es einen Medienwandel. Aber die Fremdheit der Kommunikation darf sich doch ausdrücken. Dieses Argument spricht meines Erachtens dann doch eher gegen als für das Tablet als Ersatz für liturgische Bücher, aber nicht gegen das Tablet als Vorlage für die Predigt.

Interview: Stephan Cezanne (epd)