„Es ist eine Sisyphos-Arbeit gegen immer neue Widerstände“

Im Jahr der 60. Aktion sieht „Brot für die Welt“-Präsidentin Cornelia Füllkrug-Weitzel ihre Organisation vor neuen Herausforderungen

Zum 60. Mal sammelt die evangelische Hilfsorganisation "Brot für die Welt" in diesem Jahr vor Weihnachten für Hungernde weltweit. Der Einsatz für die Ärmsten der Armen zeigt Fortschritte, steht aber auch vor neuen Hindernissen. Im Interview spricht „Brot für die Welt-Präsidentin Cornelia Füllkrug-Weitzel über Migration und Gerechtigkeit.

Brot für die Welt-Präsidentin Cornelia Füllkrug-Weitzel, Portrait

Vor fast 60 Jahren warb "Brot für die Welt" mit dem Bild der "Hungerhand" um Spenden. Heute sehen die Plakate ganz anders aus. Wie hat sich die Botschaft, mit der Sie an die Menschen treten, verändert?

Cornelia Füllkrug-Weitzel: 1959 hat nach Jahrzehnten des Kolonialismus mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung gehungert. Das wurde den Deutschen erstmals bewusst – das Fernsehen kam erst damals auf. Die Menschen waren mithin an „Hungerhände“ noch nicht gewöhnt. Deshalb hatte das Motiv und die Aufforderung zur Barmherzigkeit einen unmittelbaren Appell-Charakter. Heute ist es uns wichtig, die Würde der Menschen hervorzuheben und sie nicht als Opfer von etwas darzustellen, sondern als Menschen, die sich – mit etwas Unterstützung – auch selbst helfen können. Geblieben ist die Aussage, dass Hunger ein Skandal ist.

„Brot für die Welt“ hat von Anfang an das Motto gehabt: Hilfe zur Selbsthilfe. Dabei haben Sie immer mit einheimischen Partnerorganisationen gearbeitet. Das war Mitte des vergangenen Jahrhunderts nicht selbstverständlich. Warum wurde das Motto gewählt?

Füllkrug-Weitzel: Das Motto war ungewöhnlich aber gleichzeitig zeitgemäß. Denn es war die Zeit der Dekolonisation, und diese war mit dem Anspruch auf Selbstständigkeit und Selbstverantwortung der jungen Nationen verbunden. Diesen Anspruch haben auch die Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika vertreten. Sie wollten nicht mehr die „Missionskirche“ sein, sondern auf eigenen Füßen stehen und am selbstbestimmten Aufbau ihrer Nation teilnehmen. Für uns als Werk, das im Verbund mit den Kirchen weltweit arbeitet und seine lokalen Partner ernst nimmt, war das Motto also naheliegend.

Ihr Themenspektrum ist in den vergangenen 30 Jahren breiter geworden. Sie befassen sich mit dem Klimawandel, den Themen Rüstungsexporte und Kinderarbeit. Wie kam es dazu?

Füllkrug-Weitzel: Wer Hunger wirksam bekämpfen will, muss auch auf die Rahmenbedingungen achten, darauf, was Hunger noch begünstigt. Mit folgender Geschichte kann man gut die Weiterentwicklung von „Brot für die Welt“ erzählen: Gibt man dem Menschen einen Fisch, kann er sich einen Tag ernähren, gibt man ihm eine Angel, kann er sich immer selbst ernähren. Doch reicht es nicht aus, eine Angel zu haben, wenn stromaufwärts Fabriken den Fluss verseuchen. Und wenn man mit seiner Angel gegen Hochseefischereiflotten antritt, hat man auch keine Chance. Unsere Partner haben uns in den 90er Jahren nahe gelegt, dass wir auf eine Änderung dieser Rahmenbedingungen gemeinsam Einfluss nehmen müssen.

In welchen Bereichen haben Sie das Gefühl, dass Ihr Einsatz Erfolge zeigt?

Füllkrug-Weitzel: Keine Organisation kann alleine den Kurs der Politik verändern, deshalb arbeiten wir im Verbund mit anderen. So konnten wir etwa mit unserem internationalen kirchlichen Netzwerk ACT Alliance im Vorfeld der Klimaverhandlungen in Paris unsere jeweiligen Regierungen überzeugen, das Thema klimabedingte „Schäden und Verluste“ im Pariser Klimaabkommen 2015 wenigstens als Arbeitsauftrag zu verankern. Davon sind einige unserer Partner jetzt schon massiv betroffen. Eine Partnerin aus Äthiopien sagte jüngst: Wir rennen im Jahresrhythmus einer Klimakrise nach der anderen hinterher, ohne uns davon erholen zu können. Es geht für uns gar nicht mehr um Entwicklung oder Gestaltung, sondern nur noch darum, mit humanitärer Hilfe das Sterben von Menschen und Tieren zu verhindern.

In Europa bemerkt man eine Rückbesinnung aufs Nationale und ein zunehmendes Misstrauen gegenüber internationalen Abkommen. Wie bewerten Sie die Debatte über den UN-Migrationspakt?

Füllkrug-Weitzel: Es ist ein Faktum, dass Migration stattfindet. Und es ist möglich, sie so zu gestalten, dass alle profitieren: Migranten, Herkunftsländer und Aufnahmeländer. Unsere Gesellschaft und Wirtschaft ist auf Migranten angewiesen, die Herkunftsländer auf die Rücküberweisungen der Migranten nach Hause - der umfangreichsten Quelle von Entwicklungshilfe überhaupt. Derzeit gibt es weltweit 258 Millionen Migrantinnen und Migranten. Das zu ignorieren, hilft nicht weiter. Der UN-Migrationspakt will sicherstellen – aus unserer Sicht noch zu schwach – dass Menschen, die migrieren, nicht Opfer von Menschenhandel oder Sklavenarbeit werden. Nur Zyniker oder Rassisten können das nicht begrüßen, wenn sie deren Versklavung oder Tod billigen, weil das möglicherweise abschreckenden Charakter hat.

Außerdem hat der Pakt keine verbindliche Gesetzeskraft, sondern regt nationale Einwanderungsgesetze an. Insofern kann man die Kampagne dagegen nur als gezielte Panikmache darstellen. Es ist ein Drama, dass auch Politiker aus Volksparteien sich immer mehr an solcher Unsachlichkeit beteiligen.

„1959 hungerte mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, heute einer von neun Menschen – das ist ein gewaltiger Fortschritt“

Cornelia Füllkrug-Weitzel Präsidentin von „Brot für die Welt“

Hat der zunehmende Populismus sich in den Spenden niedergeschlagen?

Füllkrug-Weitzel: Nein. Wir haben jetzt schon eine Million Spenden mehr als im vergangenen Jahr, und das Jahr ist noch nicht zu Ende. Wir hoffen, es mit deutlich über 62 Millionen Euro an Spenden abzuschließen. Die häufig von der Rechten geäußerten Zweifel, ob Entwicklung hilft, dienen dazu, Entwicklungszusammenarbeit schlechtzureden, haben aber wenig mit den Fakten zu tun: 1959 hat mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung gehungert - 56 Prozent. Heute hungert einer von neun Menschen weltweit. Das ist ein gewaltiger Fortschritt. Und das obwohl so viele negative Faktoren Entwicklungsfortschritte verhindert haben: die internationale Schuldenkrise in den 80ern, der Klimawandel, Kriege und Gewalt, ungerechte Handelsbedingungen und vieles mehr. Daher ist es eigentlich sogar erstaunlich, dass Armuts- und Hungerbekämpfung nicht erfolglos waren, obwohl es eine unablässige Sisyphos-Arbeit ist gegen immer neue Widerstände.

In Krisenregionen werden Helfer zunehmend zum Ziel bewaffneter Gruppen. Autoritäre Staaten schränken Handlungsspielräume ein. Wie macht sich das für Sie bemerkbar?

Füllkrug-Weitzel: Das ist leider kein Minderheitsphänomen sondern betrifft immer mehr Länder. Länder wie Russland, China, Südafrika, Brasilien oder auch Israel haben es vorgemacht und Entwicklungsländer folgen diesem Beispiel. Einige Regierungen verbieten, dass unsere Partner internationale Gelder annehmen. Oder sie werden aufgefordert, sich in solchen Fällen selbst als internationale Auslandsagenten zu bezeichnen. Andere Partner müssen sich jährlich neu registrieren. Das dauert dann zehn Monate, in denen sie kein Geld annehmen dürfen und Mitarbeiter entlassen müssen. Oder sie werden eingeschüchtert, verfolgt, inhaftiert und mit dem Tode bedroht. Brasilien ist jetzt schon problematisch, wird unter Präsident Jair Bolsonaro aber sicher noch zu einem gigantischen Problem. Er hat schon angekündigt, dass er soziale Bewegungen ausradieren will. Unsere dortigen Partner haben Todesangst.

Da Sie nun Ihre 60. Spendenaktion feiern: Wo sehen Sie „Brot für die Welt“ in 60 Jahren?

Füllkrug-Weitzel: Am schönsten wäre es, es würde uns in 60 Jahren nicht mehr geben, weil sich Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung endlich durchgesetzt haben. Realistischer ist aber meine Hoffnung, dass immer mehr Länder eine eigene Wirtschaftskraft entwickeln, so dass sie selbst für soziale Leistungen für die eigene Bevölkerung aufkommen können. Und dass wir nur noch in sehr wenigen Regionen an der Seite der Menschen bleiben müssen.

chrismon spezial zu 60 Jahre Brot für die Welt

chrismon spezial 60 Jahre „Brot für die Welt“