„Für unser soziales Miteinander sind die Maßnahmen verheerend“

Einsamkeit werde ein immer größeres Thema in der Gesellschaft, sagt die westfälischen Präses Annette Kurschus.

Bielefeld (epd). Zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind Kontaktbeschränkungen nach Auffassung der westfälischen Präses Annette Kurschus ein entscheidendes Mittel. Für das soziale Miteinander seien sie aber verheerend, sagte die leitende Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen dem Evangelischen Pressedienst (epd). Einsamkeit werde ein immer größeres Thema. Im epd-Interview spricht die stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auch über Anti-Corona-Demos und ungeahnte Chancen für die Weihnachtsbotschaft in der Pandemie.

Annette Kurschus

Die westfälische Präses und stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) erwartet wegen der Corona-Pandemie und der Beschränkungen des öffentlichen Lebens zu ihrer Eindämmung "das härteste Weihnachtsfest, das wir seit Jahrzehnten erlebt haben". Teilen Sie diese Einschätzung?

Kurschus: Weihnachten ist in besonderer Weise mit Traditionen verbunden: Die Menschen treffen sich in der Familie und pflegen ihre Bräuche, man ist sich nahe und genießt es, beieinander zu sein. Für ganz viele Menschen gehört neben Tannenbaumschmücken und Weihnachtsschmaus nach wie vor auch der Gottesdienst zu den Elementen, die nicht fehlen dürfen. Nun zeichnet sich ab, dass wir uns an den Festtagen nicht im großen Kreis treffen werden. Diesen Verlust des Gewohnten werden Viele als besonders hart empfinden. Das gilt auch für mich: Ich wäre gerne an Weihnachten mit meiner Familie zusammen und weiß noch nicht, wie wir in diesem Jahr feiern werden.

Wie steht es um die Weihnachts-Gottesdienste?

Kurschus: Auch bei den Gottesdiensten stecken wir wegen und trotz der vielen Unsicherheiten überall in der intensiven Planung. Wir wollen es so „vertraut“ wie möglich für die Menschen machen - wohl wissend, dass es eine Reihe von Einschränkungen geben wird. Die Gottesdienste an Heiligabend sind normalerweise besonders voll, die Menschen drängen sich dicht an dicht, das wird in diesem Jahr nicht möglich sein. Es wird Regelungen mit Abstand und Maske geben, viele Gemeinden planen Gottesdienste im Freien. Da wird man frieren. Da wird es unbehaglich sein, und auch das trübt womöglich die Stimmung. Wir werden Weihnachten auf ganz ungewohnte Weise erleben. Und, wer weiß, vielleicht kommen wir dem Kern von Weihnachten gerade so ganz neu auf die Spur.

Worin kann die Chance bestehen, die Sie andeuten, wenn Traditionen, Formen und Rituale nicht wie gewohnt gelebt werden können?

Kurschus: Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen an diesem Weihnachtsfest auf besondere Weise berührt werden. Die Botschaft von Weihnachten trifft ja ursprünglich in eine dunkle und zerrissene, einsame und unbehauste Welt. Vieles davon erleben auch wir in diesen Tagen. Wenn der Engel in Bethlehem zu den Hirten ruft:  „Fürchtet euch nicht“, spricht er in eine Welt voll Furcht hinein und wendet sich an Menschen, die am Rande stehen. In der Behaglichkeit unserer Kirchen singen und sagen wir das an jedem Weihnachtsfest. Vielleicht werden wir in diesem Jahr so deutlich spüren wie selten zuvor: Hier geht es um uns! Wir selbst sind es, die dringend der Rettung bedürfen. Und der Retter der Welt ist ausgerechnet jetzt auf dem Weg zu uns. Er hat Möglichkeiten, die weit über unsere Kräfte hinausgehen. Und er hat Gutes vor mit der Welt. Diese Botschaft hält unsere Hoffnung wach.

Kommen die Menschen am Rande denn in den Kirchen vor, die ja überwiegend eher bürgerliche Mittelstandskirchen sind? Und wie kann ihnen die Botschaft gerade in diesem Jahr vermittelt werden?

Kurschus: Wenn wir von Menschen „am Rande“ sprechen, haben wir schnell bestimmte Gruppen im Kopf und vor Augen. Aber lässt sich wirklich eindeutig definieren, wo der Rand ist und wer dort lebt? Womöglich lehrt uns dieses Weihnachtsfest eine ganz neue Sicht auf die „Ränder“ unserer Gesellschaft. Manche Menschen sehen sich in Zeiten der Pandemie plötzlich am Rande ihrer eigenen Möglichkeiten oder ihrer wirtschaftlichen Existenz. Singles machen die Erfahrung, dass sie plötzlich am Rande stehen und niemandem mehr begegnen, weil sie in ihrem Haushalt allein leben. Neue Ränder entstehen, und ich merke, wo ich selber „am Rand“ bin. Menschen kommen in den Blick, die wir bisher kaum wahrgenommen haben. So hoffe ich, dass Weihnachten uns in diesem Jahr neu sensibel macht für Menschen „am Rand“. Und dafür, was das alles heißen kann: am Rand und im Dunkeln zu sein.

Bei den Corona-Auflagen ist aktuell eine Verschärfung im Gespräch. Begegnungen sollen nur noch mit einem einzigen weiteren Hausstand erlaubt sein, auch für Kinder und Jugendliche. Halten Sie das für angemessen, und was macht das mit den Menschen?

Kurschus: Ob das angemessen ist, vermag ich schwer zu beurteilen. Kontaktbeschränkungen sind offenbar ein entscheidendes Mittel zur Eindämmung der Pandemie. Das lehrt der Blick auf das Infektionsgeschehen. Für unser soziales Miteinander sind diese Maßnahmen aber verheerend. Wir müssen deshalb sehr genau auf die Verhältnismäßigkeit der Auflagen achten. Einsamkeit wird ein immer größeres Thema. Das betrifft alle Generationen: nicht nur alte, kranke oder psychisch labile Menschen, sondern auch junge Leute. Für Schülerinnen und Schüler ist es eine Qual und ein heftiger Einschnitt in ihr persönliches Leben, dass sie sich nicht mehr mit Freunden treffen können. Wir dürfen nicht allein bleiben und auch Menschen nicht allein lassen. Deshalb müssen wir an dieser Stelle immer neu darüber nachdenken, welche Wege es gibt, um miteinander in Kontakt zu treten. Auch wenn es mit Maske und auf Abstand sein muss.

Wie ist noch Seelsorge möglich, wenn die Kontaktbeschränkungen weiter verschärft werden?

Kurschus: Das ist ein ganz schwieriger Punkt. Wir haben in den vergangenen Wochen erlebt, wie Seelsorgerinnen und Seelsorger sich trotz der Beschränkungen mit aller gebotenen Umsicht zu den Menschen aufgemacht haben, die ihrer Nähe dringend bedurften. Wo dies nicht möglich war, haben Seelsorgerinnen und Seelsorger andere Formen und Wege des Kontakts gefunden: Briefeschreiben, Telefonieren, manche haben sich in den Garten gestellt und Lieder gesungen und die Botschaft der Hoffnung und des Trostes weitergesagt. Ich glaube, dass sich die Menschen, denen die Fürsorge galt, auch über diese Zeichen gefreut haben, so unzureichend sie auch sein mögen. Was auf jeden Fall klar ist: Wenn es ans Sterben geht, dürfen wir keinen einzigen Menschen allein lassen. Ich halte es für unverantwortlich, Menschen in elender Einsamkeit ihren letzten Weg gehen zu lassen. Wir müssen alles tun, damit das nicht geschieht. Es sollte wenigstens möglich sein, die Hand eines Menschen zu halten, auch wenn es mit einem Schutzanzug sein muss.

Rechnen Sie weiterhin mit Akzeptanz der Auflage in der Bevölkerung und haben Sie Verständnis für Proteste gegen die Auflagen?

Kurschus: Wir haben jetzt alle die Pflicht, uns umeinander zu kümmern und eigene Kontakte einzuschränken. Ich kann aber nachvollziehen, dass Menschen zunehmend überfordert sind und die Maßnahmen nicht mehr ertragen. Manche sind am Rande ihrer Nervenkraft, fühlen sich eingesperrt und halten nicht mehr aus, dass sie nicht tun dürfen, was sie gerne wollen und wonach sie sich sehnen. Das ist für mich allerdings mehr eine seelsorgliche Herausforderung als eine ideologische Frage. Deshalb kann ich Demonstrationen nicht nachvollziehen, bei denen die Gefährlichkeit des Virus geleugnet wird und die Maßnahmen gegen die Ausbreitung als überzogene Reaktion eines autoritären Staates dargestellt werden. Eine solche Haltung ist gefährlich.

Sie haben in Ihrem Bericht die Äußerung als vorschnell bezeichnet, die Corona-Pandemie sei keine Strafe Gottes. Halten Sie das denn für möglich?

Kurschus: Ich wollte damit sagen, dass wir Gott nicht in die Karten schauen und wissen können, wie er handelt und warum. Ich glaube, dass Gott diese Welt erschaffen hat und dass all sein Handeln in dieser Welt uns am Ende zum Heil dienen wird. Aber wie diese Wege des göttlichen Handelns aussehen, darüber erlaube ich mir kein Urteil. Es ist zu einfach zu behaupten: Wo Gott ist, da ist Licht und Friede und da werden alle Menschen heil. Ist dann also Gott dort nicht, wo Dunkel und Unfriede und Unheil herrschen? Ausgesperrt ausgerechnet da, wo wir ihn am nötigsten brauchen? Diese Fragen muss mein Glaube aushalten. Und mitten im bangen Fragen bin ich doch gewiss, dass Gott uns nicht dem Bösen überlässt - immerhin hat er den letzten und stärksten Feind, den Tod, mit dem Leben bezwungen.

epd-Gespräch: Ingo Lehnick