Predigt über Mt 26,6-13 in der Hauptkirche St. Katharinen in Hamburg zur Eröffnung der Woche für das Leben

EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm

Als nun Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen, trat zu ihm eine Frau, die hatte ein Glas mit kostbarem Salböl und goss es auf sein Haupt, als er zu Tisch saß. Als das die Jünger sahen, wurden sie unwillig und sprachen: Wozu diese Vergeudung? Es hätte teuer verkauft und das Geld den Armen gegeben werden können. Als Jesus das merkte, sprach er zu ihnen: Was betrübt ihr die Frau? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit. Dass sie das Öl auf meinen Leib gegossen hat, das hat sie für mein Begräbnis getan. Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.

Liebe Gemeinde,

wir feiern heute die Eröffnung der Woche für das Leben. Und wir beschäftigen uns dabei mit dem Sterben. Selbstverständlich ist das nicht. Denn das Sterben gilt als der Abbruch des Lebens. Wer leben will, will vom Sterben nichts wissen. So erleben wir es heute jedenfalls - in einer Zeit, in der der Tod immer mehr aus unserem Leben herausgehalten wird. Anders als in früheren Zeiten und in anderen Teilen der Welt, haben die wenigsten Kinder je eine Leiche gesehen. Und auch die meisten erwachsenen Menschen begegnen dem Tod im Alltag vor allem im Fernsehen. In manchen Krimis kommen mehr Leichen vor als die Zuschauer je in ihrem eigenen Leben sehen werden. Wenn ein Angehöriger stirbt, wird der Leichnam so schnell wie möglich aus dem Haus gebracht. Totenwache, Aussegnung, Abschied am Totenbett sind die Ausnahme geworden.

Sterben macht Angst. Vielleicht ist es die Endgültigkeit, die uns solche Angst macht. Oder die Möglichkeit, dass wir beim Sterben leiden. Oder der Abbruch der Beziehungen, den wir mit dem Sterben verbinden. Wir sind weg, wenn wir sterben. Oder wir erleben, wie einer, der uns lieb ist, vielleicht der Liebste im Leben ist, einfach weg ist.

Es gibt schon gute Gründe dafür, dass uns das Sterben Angst macht, unser eigenes Sterben oder auch das Sterben eines anderen. Wahrscheinlich war es immer schon so. In früheren Zeiten, in denen die Menschen hierzulande permanent mit dem Tod konfrontiert waren, ob durch Pest, Hunger oder Krieg, hat er ihnen Angst gemacht. Und heute ist es noch genauso. Wenn wir heute Fernsehbilder aus Regionen der Welt sehen, in denen der Tod ein ständiger Begleiter ist, aufgrund von Hunger, aufgrund von Krieg, aufgrund von Terror, dann sehen wir nicht abgestumpft gleichmütig wirkende Menschen, sondern dann sehen wir besinnungslos schreiende Mütter, Männer mit verzweifelten Gesichtern, zur Klage erhobene Hände. Der Tod verursacht Trauer und manchmal auch Schrecken, egal wo er auftritt. Das ist heute so und das war früher wahrscheinlich auch nicht anders.

Schon die Bibel gibt davon Zeugnis. Man muss sich nur einmal klarmachen, wie die 12 Männer, die in der Bibel als "Jünger" Jesu bezeichnet werden, mit diesem Thema umgehen. Jesus versucht ihnen immer wieder klarzumachen, dass sein Weg ein Leidensweg sein wird, dass er in den Tod führen wird. Die Geschichte von Jesu Leidensankündigungen und der Reaktion der Jünger darauf ist eine bemerkenswerte Geschichte. Die Jünger wollen es nicht hören. Und Jesus reagiert irritiert. Bei Petrus ist es besonders drastisch.

Im Matthäusevangelium heißt es: "Seit der Zeit fing Jesus an, seinen Jüngern zu zeigen, wie er nach Jerusalem gehen und viel leiden müsse von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fuhr ihn an und sprach: Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht!" Und Jesus reagiert scharf: Er wendet sich um zu Petrus und sagt: "Geh weg von mir, Satan! Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist." (Mt 16,21-23).

Die Männer können mit der Aussicht dass Jesus Leid und Tod widerfahren wird, nicht umgehen. Als Jesus tatsächlich festgenommen wird, verleugnet Petrus ihn. Und als er stirbt, laufen die Jünger weg.

Umso erstaunlicher ist die Geschichte von der Salbung in Betanien. Es ist das erste Mal in den Berichten über Jesu Worte und sein Wirken, dass jemand versteht, was mit Jesus passieren wird. Dass jemand die Aussicht auf das Leiden aushält. Dass jemand mit dem Tod umgehen kann. Es ist eine Frau, ein "Jüngerin", wie man vielleicht sagen kann, die mit einem liebevollen, ja zärtlichen Ritual sichtbar macht, dass sie auch im Leiden und im Tod an Jesu Seite ist. Es sind die Frauen, die dann später tatsächlich am Kreuz bei Jesus sind, als er stirbt, die am Ostermorgen zum Grab gehen, und die dort die ungeheure Botschaft von Jesu Auferstehung hören.

Die Frau bringt ein Glas mit kostbarem Salböl mit und gießt es auf Jesu Haupt. Die Jünger protestieren: "Wozu diese Vergeudung? Es hätte teuer verkauft und das Geld den Armen gegeben werden können." Es ist Jesus selbst, der den Verstehenshorizont für das öffnet, was da passiert. "Dass sie das Öl auf meinen Leib gegossen hat, das hat sie für mein Begräbnis getan." Und er selbst gibt diesem Akt und der Frau, die ihn vollzieht eine Bedeutung, die kaum zu überschätzen ist: "Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat."

Diese Geschichte spricht mitten hinein in unsere heutige Welt, in der wir so sprachlos gegenüber dem Tod geworden sind. Wie sehr können wir die Angst der Jünger nachvollziehen, die diese dunklen Andeutungen über das bevorstehende Leiden nicht hören wollen, die vom Tod nicht reden wollen, bis es unvermeidlich geworden ist.

Und welche Kraft hat genau inmitten dieser Gefühlslage die zeichenhafte Aktion der Frau. Man kann die Liebe, die Dichte der Beziehung, die Tiefe der Verbindung, die zwischen der Frau und Jesus besteht, noch heute durch diesen fast zwei Jahrtausende alten Text spüren. Und man kann spüren, dass diese Tiefe der Beziehung etwas ist, was durch Leid und Tod gerade nicht aufgehoben, sondern, im Gegenteil, bekräftigt wird. Man kann in der Geschichte spüren, was Paulus mit so eindrucksvollen Worten beschreibt und was für jeden und jede einzelne von uns heute so tröstlich ist: "Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn (Röm 8,38f).

Wenn wir in diesen Tagen in der "Woche für das Leben" über "Sterben in Würde" nachdenken, dann ist das vielleicht das Wichtigste: dass wir eine Kultur des Sterbens entwickeln, die nicht länger von der Angst geleitet ist, sondern in der die Liebe Raum gewinnt. Eine Kultur, in der Sterben nicht mehr der Abbruch von Beziehung, sondern die Erfüllung und Verwandlung von Beziehung ist. Eine Kultur in der über dem Schmerz und Trauer über den Abschied nie die Ahnung von offener Zukunft und neuem Leben verloren geht.

In Würde sterben dürfen, heißt eben nicht, alle Optionen zu haben, um sich jederzeit selbst töten zu können. Sondern in Würde sterben heißt, nie aus der Beziehung zu Gott und den Menschen herauszufallen. Das ist keine Theorie. Wer persönlich oder im Amt der Seelsorge Menschen am Lebensende begleitet hat, weiß die Geschichten zu erzählen von dem Frieden, in dem Menschen sterben können, wenn sie liebevoll begleitet werden, wenn sie noch einmal das Mahl des Herren gereicht bekommen, wenn ihre Schuld vergeben wird und wenn sie tief in der Seele spüren, wie sich die Tür öffnet in ein Reich, das kein Leid mehr kennt, in dem kein Schmerz mehr ist noch Geschrei und in dem alle Tränen abgewischt sind.

Das ist Sterben in Würde!

Die liebevolle Salbung Jesu durch die Frau "zum Begräbnis", wie Jesus sagt, ist ein eindrucksvolles Zeugnis genau dafür. Genau für das, was wir heute am dringendsten brauchen.

Und noch etwas sagt uns diese Geschichte, das aktueller nicht sein könnte. Der Protest der Jünger gegen die Handlung der Frau speist sich aus Überlegungen, die uns heute sehr bekannt vorkommen. Die Jünger sagen: "Wozu diese Vergeudung? Es hätte teuer verkauft und das Geld den Armen gegeben werden können."

Nutzenabwägungen haben immer einen gewissen Platz, wenn es um die Verteilung knapper Ressourcen geht. Und so mancher fragt sich beim Hören oder Lesen dieser Geschichte vielleicht auch, ob die Jünger nicht Recht haben. Aber Nutzenerwägungen haben eben Grenzen. Es ist für unsere Diskussionen um den Umgang mit dem Sterben heute schon bemerkenswert, wo diese biblische Geschichte die Grenze markiert: die liebevolle Begleitung von Menschen, die auf den Tod zugehen, ist nicht aufrechenbar gegen einen noch so hohen anderen Zweck.

"Was betrübt ihr die Frau?" - sagt Jesus. "Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit." Auch heute begegnen wir Christus in den Sterbenden. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht - sagt Christus im Gleichnis vom Weltgericht. Und wir dürfen ihn durchaus darin noch konkreter hören: ich bin ein Sterbender gewesen und ihr habt mich begleitet. Solche Christusnähe in den geringsten seiner Brüder und Schwestern ist etwas, was sich aller Zweckerwägung entzieht.

Deswegen geht es nicht nur um haushaltstechnische Verteilungsprozesse, wenn im politischen Berlin jetzt über neue Gesetze für den Umgang mit dem Lebensende diskutiert wird. An der Frage, ob es uns endlich gelingt die Finanzierung der Pflege so auszustatten, dass Pflegekräfte Kranke und Sterbende wirklich liebevoll begleiten können, entscheidet sich, ob wir die Berufung auf das Christliche in unserer Kultur nur vor uns hertragen oder ob wir es wirklich zum Orientierungsmaßstab für unser Handeln machen. Jeder Mensch, der jetzt lebt, muss sich, wenn er stirbt, auf eine Pflege und Begleitung verlassen können, die ihm die Angst vor unwürdigen Umständen am Lebensende nimmt. Niemand soll mehr meinen, dass er nur würdig sterben kann wenn er sich das Leben nimmt!

Keiner sage, dass das nicht geht. Die Jünger haben gemurrt, weil ihnen die Aktion der Frau zu aufwendig war. Jesus hat gesagt: "Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat."

Und Jesu Worte sind wahr geworden. Wir, die wir heute hier in der Hamburger Katharinenkirche in Jesu Namen zusammen sind, die wir diese alte Geschichte hören und ihrer Bedeutung nach spüren, sind der lebendige Beweis dafür.

Deswegen dürfen wir auch darauf hoffen, dass die Vision, die der diesjährigen Woche für das Leben die Überschrift gegeben hat, Wirklichkeit wird: "In Würde sterben"!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN