"Getrennt und doch partnerschaftlich verbunden - zum Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland"
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,
viele von uns hätten damals wohl schlechte Karten gehabt. Damals, als evangelischen wie katholischen Theologen untersagt wurde, sich in der Öffentlichkeit zu politischen Fragen zu äußern. Wer es dennoch tat, musste auf Grund des „Kanzelparagraphen“ damit rechnen, bestraft zu werden. Aber das war nicht alles. Otto von Bismarck führte im so genannten „Kulturkampf“ neben dem Kanzelparagraphen die Zivilehe und die Schulaufsicht durch den Staat ein. Diese Maßnahmen sollten vor allem den Einfluss der katholischen Kirche einschränken, trafen aber auch die evangelische. Manches wurde bald wieder abgemildert oder sogar rückgängig gemacht, aber: Die Grundlagen für die Trennung von Kirche und Staat waren gelegt.
Rechtlich wurde die Trennung von Kirche und Staat 1919 durch die Weimarer Reichsverfassung vollzogen. Auf sie verweist dreißig Jahre später das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, wenn es das „getrennte Miteinander“ von Staat und Kirche beschreibt, das uns heute selbstverständlich ist.
Mein Vortrag hat drei Teile: Zunächst möchte ich in der gebotenen Kürze darlegen oder besser: daran erinnern, wie das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland theologisch gedacht und rechtlich geordnet ist. Der zweite Teil meiner Ausführungen beschreibt, welche Konsequenzen das für die Rolle der Kirche in Staat und Gesellschaft hat. Schließlich werde ich drittens davon erzählen, wie Kirche und Staat in der Tätigkeit des Bevollmächtigten der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union zueinander finden. Damit hoffe ich, Ihnen das zuvor Erörterte anschaulich machen zu können.
I. Theologische und rechtliche Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland
Die theologischen Grundlagen des Verhältnisses von Kirche und Staat eingehend zu erörtern, würde hier den Rahmen sprengen. Deshalb beschränke ich mich darauf, an die fünfte These der Barmer Theologischen Erklärung zu erinnern. Diese Erinnerung ist nicht allein dem Jubiläumsjahr geschuldet, sondern geschieht, weil Barmen V Staat und Kirche in noch heute gültiger Weise einander zuordnet und zugleich voneinander unterscheidet.
Die fünfte Barmer These steht unter dem biblischen Leitwort „Fürchtet Gott, ehrt den König.“ (1. Petr 2, 17) Im Anschluss daran heißt es: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“
Zweierlei ist mir daran besonders wichtig. Zum einen wird der Staat – freilich nur, sofern er für Recht und Frieden sorgt! – als göttliche Anordnung verstanden und als Wohltat empfunden. In einer Zeit, in der immer mehr Staaten auf der Welt als gescheiterte Staaten, als „failed states“, gelten – denken Sie nur an Syrien, den Sudan oder den Süd-Sudan und die dort stattfindende unsägliche Gewalt – liegt das eigentlich auf der Hand. Ein funktionierender Rechtsstaat ist eine Wohltat und ein nicht zu unterschätzender Beitrag für den Frieden im Land und in der ganzen Welt. Als solcher ist er Grund zur Dankbarkeit gegen Gott. Das aber bedeutet, dass jene, die Lebenszeit und Lebenskraft für die Gestaltung des Gemeinwesens aufwenden, nicht als „die da oben“ verunglimpft werden dürfen, die angeblich nur den eigenen Vorteil, vor allem aber den Machterhalt im Sinn haben. Im Gegenteil: Menschen, die politische Verantwortung tragen, bedürfen der Solidarität der Bürgerinnen und Bürger und des Gebetes der Kirche. Es hat schon seinen guten Sinn, dass das Gebet „für die Obrigkeit“ Sonntag für Sonntag Teil des Allgemeinen Kirchengebets ist.
Die Solidarität mit und das Gebet für die politisch Verantwortlichen – das ist das zweite - bedeuten nun aber nicht, dass die Kirche ihnen nach dem Mund zu reden hätte. Sie darf es nicht, denn für den Staat gilt wie für alle anderen Bereiche unseres Lebens, was die zweite Barmer These so formuliert: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben (…) Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“ Für den politischen Bereich folgert Barmen V: „Sie (die Kirche) erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“ Die Solidarität der Kirche mit den politisch Verantwortlichen ist also eine kritische. Dabei kommt es darauf an, die Kritik stets als theologisch begründete Kritik laut werden zu lassen. Bei jeder politischen Einlassung der Kirche muss erkennbar sein, warum sie sich durch das Zeugnis der Schrift verpflichtet sieht, gerade hier und gerade jetzt und gerade so Stellung zu nehmen. Wichtig ist der Hinweis von Barmen V, dass auch die Regierten politische Verantwortung tragen. Deshalb wird die Kirche nicht müde, vor demokratischen Wahlen dazu aufzurufen, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen.
Nach diesen kurzen theologischen Überlegungen seien nun die rechtlichen Grundlagen des Verhältnisses von Kirche und Staat in Deutschland skizziert. Mit den Religionsbestimmungen der Weimarer Reichsverfassung von 1919 entstand ein Regelwerk, das drei Grundsätzen folgte: Religionsfreiheit, weltanschauliche Neutralität des Staates, Selbstbestimmung aller Religionsgemeinschaften. Dieses Regelwerk sollte die Freiheit und Gleichberechtigung aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gegenüber dem säkularen Staat garantieren. Es schrieb eine Trennung von Kirche und Staat fest, allerdings nicht in der Weise des Laizismus, der alles Religiöse im Privatbereich verortet sehen will. Die Weimarer Reichsverfassung und ihr folgend das Grundgesetz beschreiben vielmehr – so der Staatsrechtler Hans Michael Heinig - eine „freiheitsdienende Offenheit des Staates für die Religionen seiner Bürger“ . Das Bundesverfassungsgericht nennt die Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften eine „fördernde“; ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Es besteht ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Staat und Kirche.
Die Rechte, die die beiden großen Kirchen in Anspruch nehmen, sind keine Privilegien, die anderen nicht zustünden. Sie leiten sich aus dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ab, der unter bestimmten Voraussetzungen allen Religionsgemeinschaften sowie nicht-religiösen Weltanschauungsgemeinschaften zuerkannt werden kann. Das ergibt sich aus Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung in Verbindung mit Artikel 140 des Grundgesetzes. Schon heute sind beispielsweise die Zeugen Jehovas und - seit wenigen Monaten - die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde Körperschaften des öffentlichen Rechts.
Am klarsten spiegelt sich unser auf Kooperation ausgerichtetes Staatskirchenrecht in den Verträgen zwischen staatlichen Körperschaften des Bundes und der Länder mit den Kirchen wider. Sie bringen schon durch ihre Form zum Ausdruck, dass die Be-ziehungen von Staat und Kirche durch Unabhängigkeit und Kooperation geprägt sind: Staat und Kirche sind getrennt und doch aufeinander bezogen. Der für Ihre und die anderen Kirchen in Niedersachsen grundlegende Staatskirchenvertrag ist der Loccumer Vertrag von 1955. Die in den Länderverträgen ausgestalteten Regeln orientieren sich vielfach am Grundgesetz, gehen aber auch darüber hinaus: Sie erstrecken sich zum Beispiel auf den Bereich der Hochschulen, der Friedhöfe, der Denkmalpflege und des Rundfunks - oft ist die ganze Bandbreite des staatlich-kirchlichen Zusammenwirkens daran abzulesen.
Die grundlegenden „Schnittstellen“, die das Verhältnis zwischen Kirche und Staat charakterisieren, finden sich indes im Grundgesetz. Die meisten von Ihnen werden mit diesen „Schnittstellen“ – oft werden sie auch „gemeinsame Angelegenheiten“ oder „res mixtae“ genannt - auf die eine oder andere Weise vertraut sein. Darunter fallen beispielsweise der Religionsunterricht, die Kirchensteuer, die Seelsorge in der Bundeswehr, in Krankenhäusern und Gefängnissen.
Ich beginne mit dem Religionsunterricht. Er ist eine Konsequenz der durch das Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit und auf partner-schaftliche Zusammenarbeit ausgerichtet. Art. 7 GG schreibt fest, dass der Staat das Aufsichtsrecht wahrnimmt, während die Religionsgemeinschaften den Unterricht in Übereinstimmung mit ihren jeweiligen Grundsätzen inhaltlich verantworten. Der Religionsunterricht soll der freien religiösen und ethischen Orientierung von Kindern und Jugendlichen dienen. Das gilt auch für muslimischen Religionsunterricht, dessen Einrichtung die EKD befürwortet.
Obwohl die Verankerung im Grundgesetz deutlich macht, dass der Religionsunterricht als gemeinschaftliche Aufgabe gesellschaftlich erwünscht und sinnvoll ist, wird seine Bedeutung heute zunehmend in Frage gestellt. Das Scheitern des Volksbegehrens zum Religionsunterricht im Jahr 2009 in Berlin ist nur ein besonders deutliches Signal für eine Entwicklung, mit der die meisten von Ihnen im Rahmen Ihrer Tätigkeit immer wieder konfrontiert werden dürften. Inwieweit diese gesellschaftliche Entwicklung die Kraft entfalten wird, das verfassungsmäßig geregelte, partnerschaftliche Verhältnis von Kirche und Staat eines Tages zu verändern, bleibt abzuwarten. Die Antwort hängt auch davon ab, inwieweit es uns gelingt, die Bedeutung des konfessionellen Religionsunterrichtes an öffentlichen Schulen überzeugend - und vielleicht noch überzeugender als bisher – in die Gesellschaft hinein zu vermitteln.
Zwei weitere „Berührungspunkte“ zwischen Kirche und Staat sind die Kirchensteuer und die Staatsleistungen. Da ich vermute, dass Vizepräsident Dr. Krämer gleich in seinem Referat darauf eingehen wird, überspringe ich diese beiden Punkte, bin aber in der Aussprache selbstverständlich auch darauf ansprechbar.
In der Kirche immer wieder umstritten war und ist die enge Zusammen-arbeit von Staat und Kirche in der Militärseelsorge. Nachdem ich in diesem Bereich fast sechs Jahre lang gearbeitet habe – bis gestern war ich im Nebenamt Militärbischof – bin ich davon überzeugt, dass die Kooperation zweckmäßig und theologisch verantwortet gestaltet ist. Rechtsgrundlage für die Seelsorge in der Bundeswehr ist der Militärseelsorgevertrag von 1957. Darin vereinbaren die Bundesrepublik Deutschland und die Evangelische Kirche in Deutschland, dass die Militärseelsorge im Auftrag und unter Aufsicht der Kirche geschieht, der Staat aber für den organisatorischen Aufbau sorgt und die Kosten trägt. Letzteres geschieht, weil der Staat jedem Bürger und jeder Bürgerin die grundgesetzlich garantierte freie Religionsausübung ermöglichen muss. Da der Staat diese Möglichkeit einschränkt, indem er Soldatinnen und Soldaten kaserniert, ins Manöver schickt oder zu monatelangen Auslandseinsätzen verpflichtet, muss er für Ersatz sorgen. Das muss er übrigens nicht nur bei Soldaten sondern auch, wenn er Menschen zu Haftstrafen verurteilt. Deshalb werden auch die Kosten für Gefängnispfarrstellen vom Staat refinanziert. Da Militärpfarrerinnen und –pfarrer in einem hoch sensiblen Sicherheitsbereich arbeiten, werden sie von ihren Landeskirchen beurlaubt und in das Dienstverhältnis von Bundesbeamten auf Zeit berufen. Diese starke Beteiligung des Staates an einem kirchlichen Dienst hat in den Kirchen immer wieder Kritik hervorgerufen. Die letzte größere Diskussion gab es, als die östlichen Gliedkirchen der EKD entscheiden mussten, ob sie den Militärseelsorgevertrag übernehmen. Die Kritiker befürchten, dass es in der Rechtskonstruktion des Militärseelsorgevertrages Pfarrerinnen und Pfarrern nur schwer möglich sei, frei das Evangelium zu verkündigen und dabei, wenn erforderlich, auch kritische Töne anzuschlagen. Ich halte diese Befürchtung für unbegründet. Zum einen sind deutsche Militärpfarrer anders als fast alle anderen Militärpfarrer auf der Welt Zivilisten. Sie sind nicht in die militärische Hierarchie eingebunden, haben keinen Dienstgrad und stehen folglich in Äquidistanz zu allen Soldaten vom Schützen bis zum Generalinspekteur. Diese Sonderrolle in den Streitkräften wird von den Verantwortlichen der Bundeswehr nicht nur respektiert sondern ausdrücklich gewünscht. Zum andern ist es die Kirche, die Ziele und Inhalte der Militärseelsorge vorgibt; verantwortlich dafür ist der Militärbischof, der in keinerlei Dienstverhältnis zum Staat steht und allein dem Rat der EKD verantwortlich ist. Der Militärbischof trägt außerdem die letzte Verantwortung für die Personalauswahl, und ohne seine Zustimmung kann keine Militärpfarrerin und kein Militärpfarrer befördert, versetzt oder vorzeitig aus dem Dienst entlassen werden. Und schließlich: Alle Ämter in der Militärseelsorge einschließlich der Leitungsämter werden auf Zeit vergeben, um durch permanente Fluktuation die Haltung der kritischen Solidarität der Kirche zur Bundeswehr zu bewahren. Es versteht sich von selbst, dass der gesetzliche Rahmen immer neu mit Leben gefüllt und das Verhältnis von Kirche und Staat auch in diesem Bereich immer neu austariert werden muss. Meine Erfahrung sagt, dass das gut gelingt.
Zu den im Grundgesetz genannten „res mixtae“, die das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ausmachen, gehört nicht zuletzt der verfassungsmäßige Schutz christlicher Feiertage. Wie Sie wissen, werben wir evangelischerseits derzeit intensiv für einen Feiertag, der nicht grundsätzlich unter diesen Schutz fällt: Der Reformationstag, bisher nur in den östlichen Bundesländern, nicht aber in Berlin und im alten Bundesgebiet gesetzlich geschützt, könnte nach jetzigem Stand angesichts seines 500. Jubiläums im Jahr 2017 einmalig ein bundesweiter Feiertag werden. Einige Länder, darunter Niedersachsen, haben ihre Feiertagsgesetze dahingehend geändert oder ihre grundsätzliche Bereitschaft dazu bekundet. In Niedersachsen gibt es darüber hinaus sogar Überlegungen, den 31. Oktober dauerhaft zum Feiertag zu machen. Diese große Bereitschaft der meisten politischen Akteure in Bund und Ländern, dem Wunsch unserer Kirche nachzukommen – nach meinem Kenntnisstand hat sich allein Berlin noch zurückhaltend geäußert - ist ein deutliches Indiz dafür, dass das Miteinander von Kirche und Staat auch von Seiten der Politik als ein gutes geschätzt und unterstützt wird.
II. Die Rolle der Kirche in der Bundesrepublik Deutschland:
Leistungserbringerin, Mitgestalterin gesellschaftlichen Lebens, Stütze des demokratischen Rechtsstaats
Ich hoffe deutlich gemacht zu haben, dass das Staat-Kirche-Verhältnis in der Bundesrepublik von seinen gesetzlichen Grundlagen her auf eine Trennung und zugleich auf ein partnerschaftliches Miteinander ausgelegt ist, das sich immer wieder bewähren muss und bewährt. Der Staat erkennt die Kirchen und Religionsgemeinschaften als wichtige gesellschaftliche Akteure an. Die Kirche ist Leistungserbringerin im Sinne des staatlicherseits gewünschten Prinzips der Subsidiarität. Und sie ist verantwortliche Mitgestalterin unseres gesellschaftlichen Lebens und als solche auch politisch tätig. In alledem stützt und stärkt sie den demokratischen Rechtsstaat.
Das Prinzip der Subsidiarität ist konstitutiv für unsere Demokratie, weil so die Vielfalt der in der Gesellschaft vorhandenen Strömungen und Kräfte zur Entfaltung kommt und Gleichschaltung verhindert wird. Indem die Kirchen mit dafür sorgen, dass das Subsidiaritätsprinzip seine Wirkung entfalten kann, tragen sie zur Stabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft bei. Dies findet vorwiegend im diakonischen Bereich statt. In der aktuellen Neuauflage der Broschüre „Evangelische Kirche in Deutschland - Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben" ist zu lesen, dass die Zahl der hauptamtlich Beschäftigten bei der Diakonie aktuell auf 449.000 angewachsen ist. Rund 10 Millionen Menschen nehmen deren Dienste in Anspruch. Aus dem diakonischen Engagement der evangelischen und der katholischen Kirche zieht unser Gemeinwesen einen mehrfachen Gewinn: Es profitiert von der besonderen Kompetenz der Mitarbeitenden von Diakonie und Caritas, von dem finanziellen Ei-genanteil, den die Kirche in verschiedenen Bereichen erbringt, und nicht zuletzt von dem zusätzlichen Engagement der sage und schreibe 700.000 Freiwilligen, die in den diakonischen Einrichtungen tätig sind . Hier stellen Kirche und Diakonie Möglichkeiten und Kräfte zur Verfügung, die allen Bürgerinnen und Bürgern zugute kommen. Damit wird ein Beitrag zur Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft geleistet, der seinesgleichen sucht.
Wichtige Partner des Staates sind die Kirchen auch in den Bereichen Bildung und Kultur. Über den Religionsunterricht hatte ich schon gesprochen. Hier sei noch ergänzt, dass dieser Unterricht nicht allein evangelischen oder katholischen Schülerinnen und Schülern zugute kommt. In Sachsen beispielsweise hat sich der Anteil derjenigen, die am Religionsunterricht teilnehmen, von 4 Prozent in 1992 auf fast 25 Prozent in 2012 gesteigert. Das bedeutet, dass in vielen Lerngruppen ein erheblicher Teil der Schüler nicht konfessionell gebunden ist. Auch in anderen Bundesländern erreichen die Kirchen im Religionsunterricht oftmals mehr Menschen als sie Mitglieder haben. Die Religionslehrerinnen und -lehrer leisten einen in unserer multireligiösen Gesellschaft immer wichtiger werdenden Beitrag zu Sinnstiftung und Orientierung, Verständigungsfähigkeit und Toleranz. Dieser Anspruch gilt in allen Bildungsbereichen, in denen die evangelische Kirche sich engagiert, sei es als Trägerin von Schulen, Hochschulen, Akademien oder Kindertagesstätten. Die hohe Nachfrage nach diesem kirchlichen Dienst an der Gesellschaft lässt sich mit Zahlen belegen: Entgegen dem Trend wächst zum Beispiel die Zahl der evangelischen Kindertagesstätten und –horte. (auf nunmehr knapp 8590 Einrichtungen. Jeder sechste Platz einer Kita wird von der evangelischen Kirche getragen.) Kirche und Diakonie tragen darüber hinaus 1.134 evangelische Schulen aller Schulformen.
Im Kulturbereich bringen die katholische und die evangelische Kirche jährlich erhebliche Mittel auf, nämlich zwischen 3,5 und 4,8 Milliarden Euro. Das entspricht in etwa dem Betrag, den alle Bundesländer zusammen pro Jahr zur Verfügung stellen. Mit dem Denkmalschutz und der Musik seien hier nur zwei Bereiche genannt, in denen sich die Kirche besonders engagiert.
Eine wichtige staatliche Aufgabe, an der sich die Kirche im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips beteiligt, ist die Entwicklungszusammenarbeit. Mehr als 120 Millionen Euro erhält das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst jedes Jahr vom Staat; hinzu kommen weitere rund 120 Millionen Euro, die über Kirchensteuereinnahmen und Spenden von der EKD und den Gliedkirchen zur Verfügung gestellt werden. Damit werden Projekte in Afrika, Asien und Lateinamerika gefördert. Anders als der Staat kann die Kirche dabei auf ein Netz von rund 3000 Partnerorganisationen vor Ort zurückgreifen, die auch in sehr abgelegenen Regionen oder unter sehr gefährlichen Bedingungen noch präsent sind. Diese Partner vor Ort können Menschen erreichen und mobilisieren, die für staatliche Organisationen nicht ohne weiteres erreichbar sind. Genau so wenig wäre der Staat in der Lage, Menschen in Deutschland für die Unterstützung von Projekten in Afrika, Asien oder Lateinamerika zu gewinnen.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen: Unsere Kirche wirkt über ihr Kerngeschäft hinaus. Sie stützt, tröstet und begleitet viele Millionen Menschen in unserem Land durch die Verkündigung des Evangeliums, und sie bietet ihnen eine geistliche und soziale Heimat in der Gemeinde. Das ist ihre erste und vornehmste Aufgabe. Aber damit lässt sie es nicht bewenden. Die evangelische wie die katholische Kirche leisten einen sozialproduktiven und die Demokratie stabilisierenden Beitrag, der nicht nur ihren jeweiligen Mitgliedern, sondern allen Menschen in unserem Land und auch Menschen jenseits der deutschen Grenzen zugutekommt. Diese Funktion der Kirche als Leistungsträgerin in der Gesellschaft und Stütze staatlicher Strukturen legitimiert den kirchlichen Anspruch, das Gemeinwesen mit zu gestalten. Zugleich erwächst dieser Anspruch aus den Erfahrungen kirchlichen Versagens in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Die Kirche darf und will die Gestaltung gesellschaftlichen Lebens nicht allein dem Staat überlassen. Deshalb hat sie zum Beispiel eigene Akademien errichtet und deshalb gibt es das Amt des Bevollmächtigten bei der Bundesrepublik Deutschland. Die theologische Begründung für die Mitwirkung der Kirche am gesellschaftlichen und politischen Leben habe ich vorhin mit dem Hinweis auf Barmen V zu geben versucht.
Politik kritisch begleiten und das Gemeinwesen mit gestalten – das wollen die christlichen Kirchen aber auch aufgrund ihrer grundsätzlichen Zustimmung zur Staatsform der Demokratie, die die Übernahme von Verantwortung durch die Kirchen erfordert wie ermöglicht. In dem von EKD und Deutscher Bischofskonferenz gemeinsam verfassten Text „Demokratie braucht Tugenden“ aus dem Jahr 2006 ist die Überzeugung formuliert, dass unsere freiheitliche Demokratie „in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht“. Tatsächlich gibt es eine deutliche Konvergenz zwischen Art. 1 des Grundgesetzes, der die unantastbare Würde des Menschen konstatiert, und der biblischen Anthropologie, wie sie etwa im ersten Schöpfungsbericht oder in Psalm 8 zum Ausdruck kommt. In dem Sozialwort der Kirchen von 1997 haben der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der Ratsvorsitzende der EKD es als zentrales Anliegen der Kirchen bezeichnet, „zu einer Verständigung über die Grundlagen und Perspektiven einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Staat und Gesellschaft beizutragen“. Dabei nimmt die Kirche immer auch die Situation der Menschen weltweit in den Blick und erinnert an die Verantwortung für kommende Generationen.
Die Kirchen melden sich in zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu Wort. Sie tun dies ungefragt, werden aber auch nicht selten gebeten, sich mit ihrer Expertise in gesellschaftliche und politische Prozesse einzubringen. So haben Vertreter der EKD ihren Platz beispielsweise im Rundfunkrat öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten oder im Deutschen Ethikrat; der Vorsitzende des Rates der EKD wurde als Mitglied des Beirats für die Beratungen über das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) geladen, der ehemalige badische Landesbischof Ulrich Fischer hat die EKD in der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung vertreten, Landesbischof Ralf Meister ist in die Expertenkommission, die die Suche nach einem Atommüll-Endlager vorbereitet, berufen und ein Referent der Dienststelle des Bevollmächtigten arbeitet in einer Untergruppe der Islamkonferenz beim Bundesminister des Innern mit. Die Liste der Beispiele lässt sich mühelos verlängern.
Solche explizit gewünschten Kooperationen zeigen, wie selbstverständlich die Beteiligung der Kirchen für den Staat ist. Neben diesen strukturell oder punktuell erwünschten politischen Beteiligungsformen äußert sich die EKD in aktuellen Debatten natürlich auch immer wieder anlassbezogen. Auch diese Stellungnahmen werden gehört, mögen sie auch nicht in allen Fällen wohlgelitten sein. Insgesamt ist die Vielfalt der protestantischen Meinungsäußerungen bekanntermaßen ausgeprägter als bei unseren katholischen Geschwistern. Im Blick auf den offiziellen Kontakt der EKD zu den politischen Akteuren in Berlin und in Brüssel bemühen wir uns nach Kräften, diese Vielfalt zu bündeln und mit einer Stimme zu sprechen. Hier kommt der Bevollmächtigte des Rates ins Spiel.
III. Der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union
Die Dienststelle des Bevollmächtigten ist die Scharnierstelle zwischen Kirche und Bundespolitik. Der Bevollmächtigte ist zuständig für die politische Information des Rates und die politische Kommunikation der EKD. Damit ist er an einer Vielzahl gesellschaftlicher Diskussionen beteiligt und in besonderer Weise auch mit den Berührungspunkten von Staat und Kirche befasst.
Seit Oktober vergangenen Jahres habe ich dieses Amt inne. Mein Dienstsitz in Berlin befindet sich im Bezirk Mitte am Gendarmenmarkt, in Brüssel hat die Dienststelle ein Büro in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Europäischen Kommission. Die mir gestellte Kommunikationsaufgabe erfülle ich gemeinsam mit einem kleinen Stab aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die meisten Theologen oder Juristen. Sehr eng und vertrauensvoll arbeiten wir mit unseren katholischen Kollegen des Kommissariats der Deutschen Bischöfe in Berlin unter Leitung von Prälat Dr. Karl Jüsten zusammen. Die Erfahrung hat gezeigt: Je enger der ökumenische Schulterschluss, desto größer sind unsere Aussichten auf Erfolg. Vor wenigen Wochen erst hat Bundesministerin Nahles im Rahmen einer Veranstaltung zur ökumenischen Sozialinitiative die Bedeutung von kirchlichen Meinungsäußerungen, insbesondere, wenn sie ökumenisch erfolgen, ausdrücklich bekräftigt. Dass das ökumenische Miteinander zwischen den beiden Büros so reibungslos funktioniert, lässt mich hoffen, dass wir das gemeinsame Tun auch in anderen Bereichen stärken können. Die Tätigkeit der Dienststelle des Bevollmächtigten lässt sich in drei Felder gliedern
1. Kirche in Berlin und Brüssel
Zuerst und vor allem ist es unsere Aufgabe, Kirche für die in Berlin täti-gen Politikerinnen und Politiker zu sein. Dazu gehört die Feier von Got-tesdiensten. In den Sitzungswochen des Bundestages werden zweimal wöchentlich Andachten angeboten. Sie finden im Andachtsraum des Reichstagsgebäudes statt und werden im Wechsel von Prälat Jüsten, Mitarbeitenden meiner Dienststelle – natürlich auch von mir – und von Abgeordneten gestaltet. Nicht wenige Abgeordnete sind Diakone oder Prädikantinnen. Von den politischen Büros der Kirchen werden ferner die ökumenischen Gottesdienste verantwortet, die vor dem Beginn offizieller Staatsakte wie zum Beispiel bei der Konstituierung des Bundestages oder bei der Wahl des Bundespräsidenten gefeiert werden. Diese Angebote, die die strukturelle Verbundenheit von Kirche und Staat spiegeln, sind lebendige Berührungspunkte im Staat-Kirche-Verhältnis. Das gilt auch für die Dank- und Segensgottesdienste, die seit 2009 zum Abschluss einer Legislaturperiode im Bundestag gefeiert werden oder der jährliche Sendungsgottesdienst für die ausreisenden Diplomaten.
Zur Präsenz von Kirche im politischen Berlin gehört sodann die Ge-meinschaft. Regelmäßig laden wir die evangelischen, aber auch die nicht konfessionell gebundenen Abgeordneten zum Frühstück in unsere Dienststelle ein, und zu Beginn der Legislaturperiode kamen nicht wenige neue Abgeordnete zum Abendessen in unser Haus am Gendarmenmarkt. Immer gibt es zu Beginn eine Andacht, im Verlauf der Veranstaltung einen thematischen Impuls und im Übrigen viel Zeit zum Gespräch und zum persönlichen Austausch. Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang der jährliche Johan-nesempfang für Repräsentanten aus Gesellschaft, Kirche und Staat, den der Bevollmächtigte ausrichtet.
Zu den Aufgabenfeldern von Kirche im politischen Berlin gehört selbstverständlich auch die Seelsorge. Sie geschieht wie in jeder Kirchengemeinde geplant zu einem verabredeten Termin, sehr häufig aber ungeplant bei Begegnungen aus einem anderen Anlass.
2. Engagement für die Schwachen
„Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die ver-lassen sind.“ (Sprüche 31,8). Dieser Bibelvers steht auf meiner Berufungsurkunde. Wenn die Kirche sich an politischen und gesellschaftlichen Debatten beteiligt, dann geht es dabei überwiegend um jene Menschen, deren Stimme im politischen Raum gar nicht oder nur schwach zu vernehmen ist.
Von Journalisten werde ich oft gefragt, wie meine Mitarbeiter und ich „unsere“ Themen in die politischen Diskurse einbringen. Ich kann Ihnen sagen: Das ist ein weites Feld. Es reicht von persönlichen Gesprächen mit politischen Akteuren auf allen Ebenen, von Briefen und schriftlichen Stellungnahmen, von der Teilnahme an Anhörungen und Fachgesprächen im Bundestag und in den Fraktionen bis hin zur Veranstaltung des „Treffpunkt Gendarmenmarkt“, des Diskussionsforums in unserer Dienststelle. Mit Vertretern welcher Parteien wir Kontakt aufnehmen, wen wir unterstützen und wen wir kritisieren, hängt natürlich vom jeweiligen Thema ab. Grundsätzlich wahrt der Bevollmächtigte die Äquidistanz zu allen Parteien.
Nun aber zu einigen konkreten inhaltlichen Beispielen. Sehr intensiv befasst sich unsere Dienststelle in Brüssel mit Flüchtlings- und Migrationsfragen. Ganz aktuell geht es dort um die Neudefinition der Justiz- und Innenpolitik der EU für die nächsten fünf Jahre. Am 27. Juni haben die Staats- und Regierungschefs der EU Strategische Richtlinien zur Zukunft der Justiz- und Innenpolitik und damit auch zur Asyl- und Migrationspolitik beschlossen. Ein Hauptanliegen ist dabei die Reform des Dublin-Systems, das die Zuständigkeitsverteilung unter den EU-Mitgliedstaaten für die Bearbeitung von Asylanträgen regelt. Außerdem sollen mehr legale Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge geschaffen werden, damit weniger Menschen illegale und lebensgefährliche Wege nach Europa riskieren und die Dienste von kriminellen Schlepperbanden in Anspruch nehmen müssen. Wir werden nicht müde, unsere Forderungen immer wieder einzubringen – einige davon sind bereits in Gesetze übernommen worden. So soll es nun endlich eine gesetzliche Grundlage für Flüchtlinge geben, die im Rahmen von Resettlementprogrammen eingereist sind. Diese Neuansiedlungsprogramme bieten Flüchtlingen aus Erstauf-nahmestaaten, die für diese Flüchtlinge nicht sicher sind oder in denen sie keine Lebensperspektive haben, die Möglichkeit, in ein Land weiterzureisen, wo sie sich ein Leben aufbauen können – in unserem Fall Deutschland. Für ein großzügiges Resettlementprogramm setzen sich die Kirchen auch gerade vor dem Hintergrund ein, dass dieses einen legalen Zugang nach Europa eröffnet und verhindert, dass sich Menschen in Lebensgefahr begeben, um hierher zu gelangen. Ein weiteres gelungenes Beispiel stellt unser Einsatz für eine gesetzliche, stichtagsfreie und altersunabhängige Bleiberechtsregelung dar: Nach fast zehn Jahren scheint die Aufnahme einer solchen Bleiberechtsregelung unmittelbar bevorzustehen.
Ein weiteres aktuelles Thema, in dem wir uns anwaltschaftlich zu Wort melden, ist das eben schon erwähnte transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. In Vertretung des Ratsvorsitzenden und des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz nehmen Prälat Karl Jüsten und ich an den Sitzungen des von Wirtschaftsminister Gabriel berufenen Beirats teil. Dort sind wir natür-lich nicht die einzigen Berater – aber wir sind die einzigen, die auf die möglichen Auswirkungen des Abkommens auf den Handel mit dem globalen Süden hingewiesen haben. In jeder seiner Sitzungen hat der Beirat einen thematischen Schwerpunkt; im Herbst soll es um Entwicklungspolitik gehen. In diesem Rahmen werden wir zentrale Forderungen erheben, wie negative Auswirkungen des TTIP auf Entwicklungsländer begrenzt werden können. Schon jetzt ist deutlich, dass sich reiche Länder und Schwellenländer gegenüber dem Abkom-men positionieren. Arme und kleine Länder wie zum Beispiel Liberia, Sierra Leone oder Uganda sind dazu weder in der Lage, noch werden sie sich durchsetzen können. Den Menschen in diesen extrem armen Ländern können wir mit Entwicklungsprojekten allein nicht nachhaltig helfen. Sie brauchen auch faire Handelsbedingungen. Hier ist die Stimme der Kirchen gefragt.
Ein weiterer Gegenstand der aktuellen gesellschaftlichen Debatte, der eine „Sache aller, die verlassen sind“ betrifft, ist ein ethischer, nämlich die Beihilfe zur Selbsttötung. Hier ist der Rat der EKD in der Vergan-genheit unmissverständlich dafür eingetreten, jede Form der organisierten Beihilfe zum Suizid unter Strafe zu stellen. Wir begrüßen, dass bei der Abstimmung des zu erwartenden Gesetzesentwurfs im Bundestag der Fraktionszwang aufgehoben ist, und wir begrüßen ebenfalls, dass dieser Entwurf erst für 2015 angekündigt ist. Wichtig wird es sein, die Debatte als eine Debatte über das menschenwürdige Sterben in Deutschland zu führen und für den Ausbau der palliativen Versorgung Sterbender einzutreten. Zu fragen ist aber auch, was zu tun ist, wenn ein schwerstkranker Mensch trotz palliativer Versorgung nicht mehr leben kann und will, zur Selbsttötung aber Hilfe benötigt. Wer kann diese Verantwortung tragen? Die Angehörigen? Der behandelnde Arzt? Niemand? Aber ist es verantwortbar, nichts zu tun? Sie merken: Hier gibt es mehr Fragen als Antworten. So empfanden auch die Abgeordneten, mit denen ich bei einer Anhörung durch die SPD-Fraktion diskutierte. So gerne ich auch mit Ihnen in ein Gespräch zum Thema einträte – mein Auftrag ist heute ein anderer.
Gern würde ich Ihre Aufmerksamkeit jetzt zu den beiden Broschüren lenken, die ich heute mitgebracht habe und in denen es nur mittelbar um die Fürsprache für die Schwachen geht.. Meine Dienstelle hat die Aufgabe, die Texte der EKD den inhaltlich zuständigen Politikerinnen und Politikern zukommen zu lassen
Da ist zunächst das so genannte Afghanistan-Papier, das die Kammer für Öffentliche Verantwortung Anfang des Jahres heraus-gegeben hat. Der Text mit dem Titel „Selig sind die Friedfertigen“ unternimmt es, den Einsatz in Afghanistan auf dem Hintergrund der Friedensdenkschrift des Rates der EKD von 2007 ethisch zu bewerten. Sie können sich vorstellen, dass mir als nun ehemaligem Militärbischof die Verbreitung dieses Textes besonders am Herzen gelegen hat. Ich habe ihn bei vielen Gelegenheiten persönlich vorgestellt, unter anderem im Rahmen eines Frühstücks mit Abgeordneten. Auch wenn ich das Amt des Militärbischofs nun abgegeben habe und bei meinem Nachfolger Sigurd Rink in guten Händen weiß, wird meine Dienststelle friedensethische Themen weiterhin bearbeiten.
Ein letztes Beispiel zur Charakterisierung der Tätigkeit des Bevollmächtigten und des Verhältnisses von Kirche und Staat ist diese zweite Broschüre. Es handelt sich um einen Leitfaden zur Europawahl, den unsere Brüsseler Dienststelle Anfang dieses Jahres veröffentlicht und allen Landeskirchen zugänglich gemacht hat. „Für eine gemeinsame Zukunft in einem geeinten Europa“ heißt der Text, in dem Kandidaten und Verfahren vorgestellt werden und die Wichtigkeit der EU-weiten Wahl unterstrichen wird. Mit dieser Handreichung wird die Bedeutung der europäischen Politik, die von der Überwindung der Wirtschaftskrise über die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit bis hin zur Lage in der Ukraine vor großen Herausforderungen steht, betont. Zugleich wird deutlich, welches Gewicht die EKD der Gestaltung von Politik auch jenseits unserer Landesgrenzen beimisst. Auf diese Weise will die evangelische Kirche ihren Beitrag zur Stärkung der demokratischen Strukturen in Europa leisten.)
3. Vertretung kirchlicher Interessen
Schließlich vertritt die Dienststelle des Bevollmächtigten die Interessen der Institution Kirche, doch ist dies der geringste Teil unserer Arbeit.
Ein „Dauerbrenner“ unserer Lobbyarbeit sind die kirchlichen Finanzen. Die Vorgänge in Limburg und - wenn auch in deutlich geringerem Maße - im evangelischen Dekanat in München haben der Kritik an den vermeintlichen Privilegien und Reichtümern der Kirche in diesem Jahr eine besondere Brisanz verliehen. Um den gängigen und immer wieder auch im politischen Raum geäußerten Vorurteilen etwas entgegen zu setzen, habe ich gemeinsam mit dem Kirchenamt der EKD im Januar diesen Flyer „Die evangelische Kirche und das Geld“ erstellt. Darin werden auf - wie ich finde - sehr anschauliche und prägnante Weise Antworten auf die prominentesten Irrtümer hinsichtlich der kirchlichen Finanzen gegeben. Diese Broschüre haben wir allen Abgeordneten des Bundestages zukommen lassen.
Über die in diesem Flyer veranschaulichten strukturellen Finanzierungswege hinaus gibt es die Möglichkeit, konkrete kirchliche Projekte mit EU-Mitteln zu fördern. Theoretisch wissen das viele Menschen in unserer Kirche, praktisch aber trauen sich nur wenige, diesen ungewohnten Weg über Europa zu gehen. Damit sich dies ändert, bietet unsere in der Brüsseler Dienststelle verortete Servicestelle für Förderpolitik seit 2011 Unterstützung bei der Beantragung von EU-Mitteln für kirchliche Einrichtungen an. Das dreiköpfige Team berät zu Projektvorhaben und unterstützt bei der Partnersuche und Antragstellung. Mehr als 700 Projekte haben die Brüsseler bisher betreut. Sie bieten regelmäßig Seminare und Vorträge an, um die Kompetenzen interessierter kirchlicher Mitarbeiter in der Fördermittelakquise zur stärken. Darüber hinaus informiert die Servicestelle auf ihrer Homepage und durch einen eigens eingerichteten Förder-Newsletter (die so genannte „Förderinfo Aktuell“ mit mehr als 1100 Abonnenten) zu Fördermitteln der EU. Zentrales Anliegen der EKD in diesem Bereich ist es, die Kirche durch den Aufbau von Kapazitäten in den zahlreichen Förderprogrammen der EU zu stärken. Inzwischen gibt es in zwölf Landeskirchen Stellen für spezielle EU-Förderreferenten – auch daran hat unsere Servicestelle in Brüssel entscheidend mitgewirkt. Nicht zuletzt vertritt sie darüber hinaus gegenüber den Institutionen der EU die Interessen der evan-gelischen Kirchen in der Förderpolitik.
Nicht nur in Brüssel gehört es für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum harten Brot des Tagesgeschäftes, sich in die Niederungen und Details unterschiedlichster finanzieller Zusammenhänge zu begeben. Damit Sie einen kleinen Eindruck erhalten, womit wir uns diesbezüglich gerade in Berlin beschäftigen, werde ich Ihnen nun ein paar Einzelheiten über die Frage der Umsatzsteuerpflicht von Beistandsleistungen zumuten, eine Frage, die Sie sich vermutlich noch nie gestellt haben. Was ist damit gemeint? Das oberste deutsche Steuergericht, der Bundesfinanzhof (BFH), hat 2011 deutsches Recht unter Berufung auf EU-Recht so ausgelegt, dass kommunale Beistandsleistungen - beispielsweise die entgeltliche Nutzung der Turnhalle einer Gemeinde durch eine andere Gemeinde – mehrwertsteuerpflichtig seien. Die Entscheidungen betreffen zwar direkt nur staatliche Körperschaften, doch besteht die Gefahr, dass die Steuerbehörden sie auch auf Beistandsleistungen im kirchlichen Bereich (zum Beispiel bei Kita-Verbänden auf Kirchenkreisebene) übertragen. Unser kirchliches Interesse liegt auf der Hand: Angesichts der demographischen Entwicklung müssen kirchliche (wie auch kommunale) Körperschaften verstärkt kooperieren. Wenn eine solche Zusammenarbeit mehrwertsteuerpflichtig ist, wird sie teuer und verliert ihren Sinn. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass eine organisatorisch sinnvolle Zusammenlegung von Aufgabenbereichen nicht durch steuerrechtliche Vorschriften erschwert wird. Konkret haben wir dieses Thema schon mehrfach gegenüber dem Bundesfinanzministerium angesprochen, zuletzt auch in einem Gespräch mit Bundesfinanzminister Schäuble im März. Das Bundesfinanzministerium hat zugesichert, dass, ehe die Rechtsprechung verbindlich wird, eine mehrjährige Übergangsfrist gelten soll. Außerdem wolle sich die Bundesregierung für eine Änderung des Europarechts einsetzen.
Auch an diesem letzten Beispiel wird noch einmal deutlich: Die Kooperationsbereitschaft von Seiten des Staates gegenüber der Kirche geht weit über das vom Grundgesetz Gebotene hinaus. Unsere Arbeit wird auch in Bereichen, die unsere eigenen Interessen betreffen, nicht als lästig ignoriert oder gar behindert, sondern in einem partnerschaftlichen Geist aufgenommen und nach Möglichkeit befördert.
Ich komme zum Schluss. Ich habe versucht zu zeigen, wie das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland theologisch und rechtlich geordnet ist und wie es sich faktisch darstellt. Worum es dabei aktuell geht, habe ich darzulegen versucht, indem ich Sie in unser Amt in Berlin habe schauen lassen. Das Fazit ist eindeutig: Kirche, Gesellschaft und Staat können mit dieser Situation sehr zufrieden sein. Wir sollten das produktive Verhältnis zwischen Staat und Kirche jedoch nicht für selbstverständlich halten. Nicht wenige Menschen betrachten das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland mit Argwohn. Vielen geht die Trennung von Kirche und Staat nicht weit genug; sie streben eine laizistische Lösung an, die die Religion in den Bereich des Privaten verbannt. Von einem neuen Kulturkampf kann gewiss nicht die Rede sein, doch besteht kein Anlass, sich entspannt zurückzulehnen und den Status Quo für unumstößlich zu halten. Dass Staat und Kirche getrennt und zugleich partnerschaftlich verbunden sind und dass das eine Wohltat für alle ist, bedarf ständiger Begründung und Werbung. Das kann jedoch nicht allein von der EKD und erst recht nicht allein von ihrem Bevollmächtigten geleistet werden. Hier sind wir alle gefragt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.