Die etwas anderen Winterspiele
Bei den Winterspielen des Christlichen Jugenddorfwerkes in Berchtesgaden kann man sich in Parasportarten ausprobieren
„Beweg dein Leben“, lautet das Motto der Winterspiele des Christlichen Jugenddorfwerkes in Berchtesgaden. Rund 800 Teilnehmende, zwischen fünf und 65 Jahren alt, sind aus ganz Deutschland angereist, um sich beim Wintersport auszuprobieren und in fremden Disziplinen über sich hinauszuwachsen. Dabei sind die Parasportler die Profis. Ein Beitrag zum zehnten Jahrestag der UN-Behindertenrechtskonvention.
„Schneller, schneller, schneller! Du schaffst das, Melissa, nicht aufgeben“, schallt es über die tief verschneite Ebene der Scharitzkehlalm. Eine Gruppe Jugendlicher feuert begeistert ein Mädchen an, das gerade als letzte Starterin in die Langlaufloipe gegangen ist und noch etwas unsicher wirkt. Denn bei diesem Wettbewerb der Winterspiele des Christlichen Jugenddorfwerks (CJD) haben selbst die erfahrenen Wintersportler kaum einen Vorteil. Schließlich steht hier niemand auf Skiern – alle sitzen auf einem Langlaufschlitten, wie ihn sonst Rollstuhlfahrer beim Langlauf benutzen. An Bauch und Beinen werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer festgeschnallt, dann müssen sie mit Hilfe zweier Skistöcke den Langlaufschlitten in Bewegung setzen, um die 30 Meter kurze Strecke zu bewältigen. Am Ende der Loipe warten Teammitglieder, um beim Wenden des Schlittens zu helfen, bevor es dann erneut 30 Meter zurückgeht.
„Ich habe total unterschätzt, wie viel Muskelkraft und Gleichgewicht es braucht, um den Schlitten auch nur ein bisschen zu bewegen“, erzählt Melissa, die von ihrem Abenteuer mit dem Langlaufschlitten immer noch außer Atem ist. Es sei eine besonders coole Erfahrung gewesen, meint sie. Die ist es auch für den Jugendlichen, der unter den Anfeuerungsrufen seiner Freunde gerade den Langlaufschlitten gewendet hat.
Mit kraftvollen Bewegungen stößt er sich mit den Stöcken ab und gleitet durch die Loipe. Doch dann gerät der Schlitten ins Schlingern, der Jugendliche verliert das Gleichgewicht und kippt seitlich in den Schnee. Schnell eilen ihm zwei seiner Freunde zur Hilfe, richten in wieder auf, setzen ihn zurück in die Loipe und geben ihm einen Stoß, damit er wieder Tempo aufnimmt. Teamgeist zeigen, einander helfen und füreinander da sein – beim Langlaufschlitten-Rennen funktioniert das Konzept des CJD, das hinter dieser Veranstaltung steckt, hervorragend.
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„Die Teilnehmenden sollen hier mal reinschnuppern wie es ist, Sport mit Handicap zu betreiben“, erzählt Karl Lotz, der dieses Angebot bei den CJD Winterspielen betreut. „In erster Linie geht es uns um den Spaß, aber auch darum, den Leuten auf eine erfreuliche Art und Weise das Thema ‚Leben mit Behinderung‘ näher zu bringen.“ Dabei ist es Lotz wichtig, dass die Teilnehmenden, die den Langlaufschlitten ausprobieren, zwei Botschaften verstehen: Zum einen gehe es darum, dass die Menschen Respekt für die Leistung von Parasportlern entwickeln, weil sie selbst merken, welches beachtliche Können dahintersteckt. Zum anderen – und das ist ihm mindestens genauso wichtig – geht es um die Sicht auf behinderte Menschen. „Sie sollen mit der Erkenntnis hier weggehen, dass man Behinderte nicht bemitleiden muss. Denn man kann auch in dieser Situation tolle Sachen machen und man hat viele Möglichkeiten.“ Dafür ist Karl Lotz ein leuchtendes Beispiel: Er sitzt selbst seit mehr als 30 Jahren im Rollstuhl, hat aber als Rennskifahrer im Monoski zweimal die Weltmeisterschaft sowie fünf Medaillen bei den Paralympics gewonnen.
Hemmschwellen abbauen und den Umgang normalisieren
Bei den CJD Winterspielen sollen die rund 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Deutschland unter anderem einen kleinen Einblick in die Lebenswelt von Menschen mit Behinderung bekommen. „Uns ist bewusst, dass das Leben mit einer Behinderung viel komplexer ist und nicht eben mal so ‚ausprobiert‘ werden kann“, so Jens Letzig, Organisator der Winterspiele und in der CJD-Zentrale Ansprechpartner für Sport- und Gesundheitspädagogik. Es gehe bei diesen Angeboten in erster Linie darum, die Menschen erstmal für die Thematik zu interessieren. „Wir wollen Hemmschwellen abbauen und unseren Teil dazu beitragen, den Umgang mit Menschen mit Behinderung zu normalisieren“, gibt er als Teilziel der Veranstaltung an.
Letzig führt aus, dass „Viele vorher noch nie einen Jungen mit nur einem Bein beim Skifahren beobachtet haben oder jemanden mit Querschnittslähmung im Langlaufschlitten durch die Loipe haben gleiten sehen“. Durch diese Veranstaltung und die Angebote werde zuerst einmal der Horizont der Teilnehmer erweitert, damit sie sich besser vorstellen können, was alles möglich ist. Auch Karl Lotz findet die Herangehensweise richtig: „Man muss nicht immer gleich ganz tief ins Thema einsteigen und die ganze komplexe Situation mit allen Facetten aufzeigen. Schon so kleine Einblicke sind wertvoll.“
Um den Horizont der Teilnehmenden zu erweitern und sie erstmal grundsätzlich für das Thema zu interessieren, gibt es bei den CJD Winterspielen mehrere Angebote, bei denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst ausprobieren können, wie sich Sport für behinderte Menschen anfühlt. Dazu gehört neben der Langlaufschlittenanlage auch eine Blindenschießanlage, wie sie bei Biathlonwettbewerben von sehbehinderten Menschen verwendet wird. Geschossen wird dabei nicht mit Patronen wie bei den sehenden Biathleten, sondern per Infrarot. Sowohl Gewehr als auch Zielscheiben sind an einen Koffer angeschlossen, der per Steckdose mit Strom versorgt wird. Den Teilnehmenden werden die Augen verbunden und dann geht's los.
Da sie nichts sehen können, müssen sie sich vollkommen auf ein akustisches Signal verlassen: Je weiter der Laserpunkt von der Zielscheibe entfernt ist, desto tiefer, klopfender ist der Ton, je näher man am Ziel kommt, desto höher und konstanter wird er, bis zu einem grellen, pausenlosen Fiepen. Dann kann man abdrücken. Zehn Meter sind die Scheiben beim Para-Biathlon von den Schützen entfernt. Bei der CJD-Anlage ist es weniger und die Scheiben sind doppelt so groß – schließlich will man den Teilnehmenden auch die Chance auf ein Erfolgserlebnis geben. „Nachdem die Leute mal gemerkt haben, wie schwer es ist, sich nur auf sein Gehör zu verlassen, schätzen sie die Leistung von Blinden anders ein“, schildert Letzig.
Auch ehrgeizige Ziele gehören dazu
Am Götschen messen sich die Skifahrer beim Riesentorlauf. Für einige von ihnen ist es der erste kleine „Winterurlaub“, andere freuen sich einfach über die Gelegenheit zum Skifahren. So wie die 20-jährige Mara Fleig, die bereits zum zweiten Mal bei den CJD Winterspielen dabei ist. „Es ist schön, neue Menschen kennenzulernen und es macht einfach unfassbar viel Spaß, hier zu sein und das alles zu erleben“, erzählt sie. Mara und den anderen aus der Gruppe des CJD Offenburg ist die Gemeinschaft wichtig: Statt sich aufzuteilen, bleiben sie zusammen, um einander anzufeuern. Auch wenn nicht alle an der jeweiligen Aktion teilnehmen.
Ziemlich viel Applaus bekommt auch Paula vom CJD Braunschweig für ihre Abfahrt beim Riesentorlauf. Im Ziel wird sie stürmisch von einer Freundin umarmt, die wie verrückt auf Paula einredet. Das Mädchen selbst ist nicht ganz zufrieden mit ihrer Leistung. „Es war ganz ok, aber ich habe die Strecke nicht voll ausgefahren“, sagt sie selbstkritisch. Auch ehrgeizige Ziele gehören zu den Winterspielen – schließlich werden die Gewinner der Disziplinen und Altersgruppen am Abend auf der „Medal Plaza“ mit einer Medaille für ihre herausragende Leistung geehrt. Ums Gewinnen geht es den beiden Fünftklässlern Niklas und Vincent aus Elze hingegen nicht – bei ihnen steht der Spaß am Sport im Vordergrund. „Ich find's einfach toll, hier mit anderen Kindern aus ganz Deutschland zusammen Sport zu machen“, erzählt Vincent ganz aufgeregt.
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Einer Mut- und Belastungsprobe ganz anderer Art können sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der CJD Winterspiele an der Rodelbahn am Königssee stellen. Wo sonst die Profi-Rennrodler und Bobfahrer bei Weltcups und Weltmeisterschaften runterrodeln, flitzen bei den Winterspielen blutige Anfänger mit mehr als 60 Stundenkilometern durch den Eiskanal. Die 20-jährige Zoe und die 19-jährige Yasemin leben in einer CJD-Wohngruppe und wagen gemeinsam mit ihrer Betreuerin Sarah das Abenteuer. Nach der Fahrt sind die drei Frauen völlig geflasht. „Das war so geil“, kommt es von Zoe, während Yasemin ihr mit: „Es war so gruselig“ ins Wort fällt – was beide zum Lachen bringt. Sie sind noch voller Adrenalin von ihrer rund 25-sekündigen Fahrt. „Mir zittern immer noch die Knie“, gesteht Zoe, die eigentlich noch nicht mal Schlittenfahren geht. „Ich dachte echt, dass ich das nicht packe, ich hatte solche Angst, dass ich falle.“ Dass sie sich am Ende doch getraut hat und damit über sich hinausgewachsen ist, macht sie unheimlich stolz und gibt ihr neues Selbstvertrauen.
Für Betreuerin Sarah war ein anderer Moment viel entscheidender: „Als wir unsere sauschweren Schlitten den verschneiten Hang zum Start zum Turbodrom hochgetragen haben, kamen ein paar andere Teilnehmer an und haben uns beim Tragen geholfen – einfach so“, erzählt sie. Erkennen, wenn andere Menschen Hilfe brauchen und sie ihnen anbieten, ohne etwas dafür als Gegenleistung zu verlangen – auch das ist eine der Lektionen, die unterschwellig bei den CJD Winterspielen vermittelt werden sollen. Genauso wie die Erkenntnis, dass man alleine zwar viel schaffen kann, es gemeinsam aber leichter ist.
VR-Brillen als Zugpferd für politische Bildung
Auch die politische Bildung kommt an diesen sportgeprägten Tagen nicht zu kurz. In einem Pavillon am Rande der Wettkampfstätte haben mehrere Auszubildende des CJD Frechen fünf schwarze Hocker aufgestellt und VR-Brillen bereitgelegt. „Mit unserem Projekt ‚Politik vor Augen‘ wollen wir auf die Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen“, erklärt Pierre Reichenweillaner. Die VR-Brillen dienen dabei als Zugpferd – viele Besucher sind erstmal vor allem daran interessiert, einmal so eine VR-Brille aufzusetzen und auszuprobieren. „Und dann lernen sie währenddessen in der VR-Welt mehr darüber, wie man Lebensmittelverschwendung reduzieren kann“, so Reichenweillaner.
Zum Beispiel erfahren sie, wie mit Hilfe der App „Too Good to Go“ Restaurants in ganz Deutschland übriggebliebenes Essen, das sie sonst wegwerfen müssten, zu bestimmten Zeiten für den halben Preis verkaufen. Reichenweillaner und die anderen Auszubildenden stellen den Besuchern nach ihrem VR-Erlebnis immer noch ein paar Fragen, ob sie auf dieses oder jenes geachtet haben, um einschätzen zu können, wie sehr sich ihr Gegenüber auf das Thema eingelassen hat. „Am Anfang wollten wir immer wissen, ob die Leute noch Fragen haben, da kam aber nie etwas“, erzählt Reichenweillaner, „als wir dann aber den Spieß umgedreht und selbst nachgefragt haben, sind richtig gute Gespräche entstanden, und wir konnten einige Menschen tatsächlich zum Nachdenken anregen.“
Aber nicht nur die Besucher des Standes gewinnen durch diese Aktion. Auch die Auszubildenden lernen etwas sehr Wertvolles: „Ich hätte vorher nie gedacht, dass ich so aus mir herausgehen und mit völlig fremden Menschen reden kann“, gesteht Reichenweillaner, „ich habe jetzt weniger Berührungsängste, und die Arbeit hier hat mir definitiv mehr Selbstbewusstsein verliehen.“
Berchtesgaden: Dem historischen Ort Rechnung tragen
Wenn die Winterspiele an einem so geschichtsträchtigen Ort wie Berchtesgaden stattfinden (seit 1923 war der Berchtesgadener Obersalzberg Hitlers Feriendomizil, nach 1933 wurde er zum zweiten Regierungssitz neben Berlin ausgebaut), darf natürlich auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht fehlen. In Führungen durch das Dokumentationszentrum Obersalzberg lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer etwas über die historische Wirklichkeit des Ortes und die nationalsozialistische Diktatur.
Es ist ein freiwilliger Programmpunkt, für den sie auf andere sportliche Events verzichten müssen, was dem Interesse aber keinen Abbruch tut. Und es kommen nicht nur Mitarbeitende, sondern auch viele Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Altersstufen. „Mich interessiert das Thema, seit wir es in der Schule gemacht haben“, erzählt der 17-jährige Philip, der in einer therapeutischen Wohngruppe des CJD lebt. „Und als es hieß, dass wir zu den Winterspielen nach Berchtesgaden fahren und uns auch den Obersalzberg anschauen können, war das einer der Hauptgründe für mich, überhaupt mitzufahren.“ Philip schätzt vor allem die Abwechslung zwischen den lustigen, sportlichen und den ernsteren Angeboten.
Bei der Besichtigung des noch erhaltenen, weitläufigen Bunkersystems macht nicht nur der Achtklässler Marvin große Augen. „Das hier ist wirklich Geschichte zum Anfassen“, murmelt er und fährt mit den Fingern an der rauen Betonwand entlang. Die Vorstellung, dass es hier mal edel möblierte Räume mit holzvertäfelten Wänden, Gobelins und Parkettböden gegeben haben soll, fällt nicht nur ihm, sondern auch seinen beiden Begleiterinnen schwer. Für diese Eindrücke hat das Grüppchen aufs Rodeln verzichtet. „Und wir haben es nicht bereut“, erzählen sie einstimmig und lachen.
„Beweg dein Leben“ – Interaktiver Gottesdienst als Abschluss
Das Ende der 20. CJD Winterspiele markiert ein interaktiver Gottesdienst, den alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der Rückfahrt hören. Er wurde von Menschen aus dem CJD Dortmund in Zusammenarbeit mit der Stiftung Creative Kirche gestaltet und liefert den religionspädagogischen Impuls zum Motto „Beweg dein Leben“. Die Predigt für den Gottesdienst hat Andres Dierssen geschrieben, der beim CJD den Zentralbereich „Theologie, Wertekommunikation und Persönlichkeitsbildung“ leitet. Grundlage der Predigt ist die Begegnung zwischen Jesus und dem Zöllner Zachäus aus Jericho – eine Begegnung, die ein Leben bewegt und damit verändert hat. „Und in der Predigt geht es genau um diesen einen Moment: Dass wenn man sich aufmacht und die Gottesfrage stellt, dann wird es persönlich und bleibt eben nicht distanziert, denn eine Begegnung mit Gott geht nie aus der Distanz“, so Dierssen.
Lena Ohm (evangelisch.de)