Pro und Contra Mindestlöhne - Gerechtigkeit bei der Lohngestaltung im Niedriglohnsektor
Eine Argumentationshilfe der Kammer der EKD für soziale Ordnung, EKD-Texte 102, 2009
Vorwort
Die Kluft zwischen Armut und Reichtum in Deutschland ist seit der Jahrtausendwende gewachsen. Dazu hat auch die Auseinanderentwicklung von geringen und hohen Löhnen und Gehältern beigetragen. Die Evangelische Kirche in Deutschland teilt die gesellschaftliche Beunruhigung über die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die mit dieser Entwicklung einhergeht und die sich angesichts der Arbeitsmarkt-Situation in Folge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise noch verschärft.
Aus diesem Grund hat sich die Kammer für soziale Ordnung auf Wunsch des Rates der EKD mit der Lohngestaltung im Niedriglohnsektor befasst. Das geschah auf dem Hintergrund der beiden jüngsten Denkschriften, die in dieser Kammer erarbeitet wurden. Die EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe – Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität“ aus dem Jahr 2006, die sich mit der Armut in Deutschland befasst, versteht Armut vor allem als fehlende Teilhabe und hat die Inklusion aller in die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse zum Ziel. Materielle Armut ist dabei die bittere Spitze einer oft demütigenden und verletzenden Lebenssituation, zu der auch ein Mangel an Bildungsressourcen gehört. Die Lohngestaltung im Niedriglohnsektor darf deshalb nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Armutsbekämpfung diskutiert werden. Denn wir leben in einem Staat, der eine gut ausgestaltete Mindestsicherung über die Arbeitslosen- und Sozialversicherung vorhält, die bei Löhnen, die den Lebensunterhalt nicht sichern, ergänzend eintritt. Mindestens genauso wichtig wie diese materielle Sicherung ist die Perspektive der gerechten Teilhabe aller Beschäftigten und Arbeitsuchenden am Arbeitsleben und in der Gesellschaft. Ob diesem doppelten Ziel mit einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn gedient wäre, ist strittig. Die Meinungen stehen sich z.T. diametral entgegen – das ist innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland nicht anders als in der Gesamtgesellschaft.
In der Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“, die vom Rat der EKD im Jahr 2008 veröffentlicht wurde, wird entfaltet, wie der weltweite Wettbewerb um Arbeitsplätze und Investitionen alle Standortfaktoren und ganz besonders die Kosten der Produktion erfasst, so dass die Lohnhöhe zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor wird. Das führt in der Konsequenz dazu, dass Deutschland als Hochlohnland Arbeitsplätze auslagert und dass der Druck auf die Arbeitsplätze gering Qualifizierter und auf die Höhe der Löhne in diesem Bereich ständig zunimmt. Der Standort-Wettbewerb und die zunehmende Mobilität zwischen Ländern und Staaten hat, wie die Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ feststellt, die Tendenz, die schützenden Lohnstrukturen in den nationalen Systemen aufzuweichen, so dass am Ende Arbeitslosigkeit oder das Abdrängen in den informellen Sektor stehen können. Die Argumentation, dass es deswegen besser sei, niedrige Löhne durch die Arbeitsagenturen aufzustocken, statt immer mehr Menschen aus dem Erwerbsleben auszuschließen, muss gehört werden. Dagegen steht die Wahrnehmung, dass ein sich ausweitender Niedriglohnsektor nicht nur die Arbeitnehmerschaft spaltet, sondern auch die Würde vieler Arbeitnehmer gefährdet.
Um in dieser Frage zu einer Urteilsbildung zu kommen, sind offenbar Differenzierungen nötig. Die vorliegende Argumentationshilfe möchte dazu beitragen, indem sie die wesentlichen Argumente darstellt und aus sozialethischer Sicht bewertet. Sie ist aus einer intensiven Diskussion der Kammer erwachsen. Dabei wurde nicht ausgeklammert, dass die evangelische Kirche jedenfalls in der Pflegebranche selbst von der Problematik betroffen ist. Aus diesem Grunde will die Schrift die sozialethischen Aspekte der aktuellen Entwicklung auch in der Kirche selbst bewusst machen.
Trotz langer Diskussionen konnten nicht alle Argumente von allen Kammermitgliedern mit getragen werden. Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit in die richtige Balance zu bringen, ist nicht erst heute eine große Herausforderung. Die unterschiedlichen Auslegungen des biblischen Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg aus Matthäus 20 zeigen: Es gibt Christen, die das Gleichnis als Bestätigung dafür sehen, dass die Marktmechanismen der Tausch- und Leistungsgerechtigkeit in unserer Welt selbstverständlich sind, aber auch solche, die in diesem Gleichnis ein Plädoyer für die gleiche Würde aller sehen und gerade darum auf die Erfüllung des grundlegenden Bedarfs eines jeden Menschen und auf sozialen Ausgleich setzen. Bereits die Debatte über das Gleichnis macht die Problematik einer gerechten Lohnfindung bewusst. Im Ergebnis wird deutlich, dass eine kluge Verknüpfung von Wirtschafts- und Sozialpolitik notwendig ist.
Im Blick auf die folgenden Überlegungen ist nüchtern festzuhalten: Die Frage nach einem gerechten Lohn folgt grundsätzlich den Austauschprozessen am Markt. Dabei ist nicht allein die angebotene Leistung, sondern auch die Nachfrage nach der entsprechenden Arbeitskraft im Wettbewerb entscheidend. Mit Löhnen wird die Volkswirtschaft gesteuert. Davon zu unterscheiden ist der Grundsatz der Alimentation, mit der ein gewisser, notwendiger Lebensstandard für die Einzelnen und ihre Familien gesichert wird. Diesem Prinzip folgen in Deutschland der Familienleistungsausgleich genauso wie die sozialen Sicherungssysteme. Bei der Diskussion um den Mindestlohn geht es um das Verhältnis von Leistung des oder der Einzelnen und Alimentation des Mindest-Lebensstandards, vor allem im Blick auf Kinder, die versorgt werden müssen. Einerseits kann man aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht erwarten, dass die Löhne im Niedriglohnsektor auf jeden Fall so hoch anzusetzen wären, dass davon eine Familie ernährt werden kann, andererseits empfinden viele eine staatliche Alimentation für ein Vollzeitbeschäftigungsverhältnis aber als unwürdig. In diesem Spannungsfeld von ökonomischer Vernunft und Menschenwürde eine gute Lösung zu finden, ist alles andere als trivial. Umso wichtiger ist eine offene Diskussion dieser Problematik.
Es kennzeichnet den sozialen Rechtsstaat, dass Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit in ein menschengerechtes Verhältnis zueinander gesetzt werden. Wo beides sich auseinanderentwickelt – sei es durch überhöhte oder sei es durch zu geringe Entgelte – ist Wachsamkeit geboten und sind schwierige Entscheidungen notwendig. Denn Beschäftigte sind nicht nur an ihrer Leistung zu messen, sondern auch in ihrer Würde und Verantwortlichkeit zu respektieren. Das haben die beiden oben zitierten Denkschriften angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen deutlich betont. Es gibt freilich keinen Königsweg, mit dem man auf einfache Art und Weise unter allen Umständen Leistung, Entlohnung und Würde im Arbeitsleben miteinander in Einklang bringen kann. Die nachfolgende Argumentationshilfe macht dies im Einzelnen deutlich. Sie soll helfen, in der gesellschaftlichen Praxis sinnvolle Kompromisse zu finden.
Hannover, im September 2009
Prof. Dr. Gert G. Wagner
Vorsitzender der Kammer der EKD für soziale Ordnung
Prof. Dr. Reinhard Turre
Stellvertretender Vorsitzender der Kammer der EKD für soziale Ordnung