"...damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen"
Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. August 2015
Vorwort
Seit geraumer Zeit finden Debatten über die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit statt. Angesichts tief greifender Veränderungen in den internationalen Beziehungen, weltweiter Machtverschiebungen und des sich verändernden Charakters globaler Herausforderungen tun sich neue Fragen auf, die sich deutlich von früheren Diskussionen unterscheiden.
Stellen die klassischen armutsbezogenen Ziele der Entwicklungszusammenarbeit mittel- und langfristig noch eine ausreichende Motivation dar? Ist Entwicklungszusammenarbeit angesichts von wirtschaftlich oftmals starken Entwicklungsländern noch ein sinnvoller Kooperationsansatz mit allen Entwicklungsregionen? Benötigen wir angesichts der neuen Herausforderungen nicht auch eine neue Leitbilddiskussion, die einer menschenrechtsbasierten nachhaltigen Entwicklung im Sinne einer »Theologie des Lebens« Tiefenschärfe verleiht? Welche theologischen Einsichten können hier weiterführende Impulse geben? Gerade im Blick auf die Prozesse zur Vorbereitung einer neuen globalen Entwicklungsagenda, die den Millenniums-Entwicklungszielen (Millennium Development Goals, MDGs) der Vereinten Nationen (VN) nach 2015 folgen soll, werden diese Fragen verstärkt diskutiert.
Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen beauftragte der Rat der EKD im Jahr 2014 die Kammer für nachhaltige Entwicklung, eine Studie zum Wandel des Entwicklungsverständnisses zu erarbeiten. Die Kammer konnte sich dabei auf drei kürzlich erschienene EKD-Texte stützen: den 2014 publizierten EKD-Text »Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben. Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance«, die 2015 veröffentlichte Studie »Unser tägliches Brot gib uns heute. Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung« sowie das ebenfalls 2015 erscheinende Perspektivpapier »Kirche sein in einer globalisierten Welt. Zur Weggemeinschaft in Mission und Entwicklung«. Alle drei Texte hatten der Kammer deutlich gemacht, dass die Entwicklungspolitik bzw. Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten deutliche Änderungen erfahren hat, die zu beschreiben lohnenswert seien. Dies galt umso mehr, als die letzte grundsätzliche Befassung der EKD ausschließlich mit der Thematik der Entwicklungspolitik über 40 Jahre zurücklag: Im Jahr 1973 erschien eine Denkschrift des Rates der EKD unter dem Titel »Die Entwicklungsdienste der Kirche. Ein Beitrag für Friede und Gerechtigkeit in der Welt«.
Wir befinden uns in einer Welt im Umbruch. So wird der Wandel des Entwicklungsverständnisses im Lichte der Erkenntnisse angesichts neuer Herausforderungen nachgezeichnet. Zu den neuen Themen gehören u. a. die Globalisierung (im Sinne zunehmend vereinheitlichter ökonomischer Strukturen weltweit nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes), die sich immer deutlicher abzeichnenden Folgen des Klimawandels, der Bedeutungszuwachs von Entwicklungs- und Schwellenländern, die Machtverschiebungen in den Global-Governance-Strukturen, die veränderte Rolle von staatlichen, kirchlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe, das Spannungsverhältnis zwischen säkularisierten Gesellschaften und der Wiederkehr des Religiösen.
Auf diese Herausforderungen (Kapitel 1) reagiert die Studie, indem sie aus evangelischer Sicht zunächst den in den letzten Jahrzehnten vollzogenen Wandel im Entwicklungsverständnis nachzeichnet (Kapitel 2) und neue Leitbilder gesellschaftlicher Entwicklung formuliert, die vor allem die globale und ökumenische Perspektive mit besonderem Blick auf die Beziehungen zu den Entwicklungs- und Schwellenländern beleuchtet (Kapitel 3). Daran anschließend werden die normativen Maßstäbe dafür erläutert, was »gutes Leben« heute bedeutet und unter welchen Bedingungen gutes Leben für alle Menschen unter Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen möglich ist. Dazu werden theologisch die Entwicklung der »Theologie des Lebens« im weltweiten ökumenischen Kontext auf der einen und die in Deutschland geführte Debatte über eine »Ethik des Genug« auf der anderen Seite aufgegriffen. Der Titel der Studie mit dem Bibelzitat aus Joh 10,10 «... damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen« versucht, diese beiden Konzepte anklingen zu lassen, die sodann mit dem im Menschenrechtsdiskurs wichtigen Fähigkeitenansatz von Martha Nussbaum und Amartya Sen in Beziehung gesetzt werden (Kapitel 4). Im Lichte dieser Maßstäbe werden Handlungsempfehlungen für die notwendigen Schritte zu einer sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft und deren Bedeutung für die Entwicklungszusammenarbeit und die ökumenischen Beziehungen entwickelt (Kapitel 5). Der gesellschaftliche Wandel zu einer nachhaltigen Entwicklung bedarf auch des Engagements der Kirchen, ihrer Dienste und Werke. Ziel kirchlichen Handelns sollte es deshalb sein, eine alternative Praxis zu etablieren, die Vorbildfunktion hat und zeigt, dass eine faire und gemeinwohlorientierte Lebensweise und eine lebensdienliche Ökonomie möglich sind (Kapitel 6).
Ich wünsche der Studie, dass sie ein wichtiger Baustein in der Diskussion um die »Zukunftscharta« ist, die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im November 2014 nach einem längerem Konsultationsprozess mit NGOs und Kirchen vorgestellt wurde. Im Europäischen Entwicklungsjahr 2015, in dem sich die Weltgemeinschaft auf vier Gipfeltreffen zur Thematik nachhaltiger Entwicklung äußert, kann sie eine hilfreiche Stellungnahme darstellen, insbesondere in der Diskussion um die für September 2015 in New York ins Auge gefasste Vereinbarung neuer nachhaltiger Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) und ihre Umsetzung. Auch für die Fortschreibung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland und den Bürgerdialog der Bundeskanzlerin zum »guten Leben« kann die Studie Denkanstöße geben. Sie richtet sich daher besonders an politische und kirchliche Entscheidungsträgerinnen und -träger, an Beauftragte des kirchlichen Entwicklungsdienstes sowie die Umweltbeauftragten in den Landeskirchen und in der weltweiten Ökumene, an die Missionswerke und die interessierte Öffentlichkeit.
Im Namen des Rates der EKD danke ich der Kammer für nachhaltige Entwicklung für diese kenntnisreiche und sachlich wie theologisch sorgfältig erarbeitete Studie. Ich wünsche ihr eine breite und intensive Resonanz in Deutschland, der weltweiten Ökumene und der Entwicklungszusammenarbeit.
Hannover, im August 2015
Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland