Religiöse Orientierung gewinnen

Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, November 2014

Vorwort

Zwanzig Jahre nach »Identität und Verständigung« legt der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) erneut eine Denkschrift zum Religionsunterricht vor. Nach der deutschen Wiedervereinigung stand die Kirche vor der großen Aufgabe, die Perspektiven des in den alten Bundesländern etablierten Religionsunterrichts auch für die neuen Bundesländer zu verdeutlichen und ihn im Rahmen der kirchlichen Mitwirkungsrechte entsprechend einzuführen. Das ist mittlerweile in überzeugender Weise gelungen und stellt zugleich eine wichtige demokratische Aufbauleistung dar. »Identität und Verständigung« war weit mehr als eine Schrift zum Religionsunterricht im engeren Sinn. Letztlich ging es ihr um das friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen in einem freiheitlichen demokratischen Staat. Früh verwies sie damit auf Entwicklungen und tiefgreifende gesellschaftliche Kontroversen, die sich in den folgenden Jahrzehnten immer wieder am Thema »Schule und Religion« festmachten und in politischen und juristischen Auseinandersetzungen bis hin zum Bundestag und zum Bundesverfassungsgericht niedergeschlagen haben.

Damit war und ist die eigentliche Herausforderung der Kirche im Blick auf ihre Bildungsverantwortung und ihr pädagogisches Handeln die religiöse und weltanschauliche Pluralität, die gerade auch in der Schule in den letzten zwanzig Jahren erheblich zugenommen hat. In der Grundschule haben — wie jetzt schon in den Kindertagesstätten — bald ein Drittel der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund; der Anteil von muslimischen Schülerinnen und Schülern steigt kontinuierlich. In dieser Situation hat die Schule die Aufgabe, sowohl die je eigene Identität wie das Gemeinsame inmitten des Differenten zu stärken. Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, in einer pluralen Gesellschaft in gegenseitigem Respekt und friedlich zusammenzuleben. Dazu kann der Re-ligionsunterricht einen entscheidenden Beitrag leisten.

Die vorliegende Denkschrift benennt die veränderten Bedingungen und Herausforderungen religiös-weltanschaulicher Pluralität in der Schule und zeigt Entwicklungslinien auf, denen gefolgt werden muss, wenn der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach auch noch in zwanzig Jahren Teil des schulischen Fächerkanons sein soll. In diesem Horizont treten die konfessionellen Differenzen zwischen den christlichen Kirchen zurück, während die Notwendigkeit wächst, sich im Dialog mit islamischen Glaubensüberzeugungen zu verständigen und mit atheistisch geprägten Haltungen auseinanderzusetzen.

Schule muss ferner als Ort verstanden werden, der dazu beiträgt, dass junge Menschen lernen, in einer Gesellschaft zu leben. Sie brauchen eine Vorstellung von sich und ihrem Leben, die ihnen ein sinnvolles und eigenverantwortliches Leben ermöglicht. Hier hilft der Religionsunterricht, die Frage nach dem Ganzen und nach dem tragenden Sinn von allem zu stellen. Er hilft zugleich, diese Frage aufgrund der Förderung des freien und selbständigen eigenen ethischen und religiösen Urteils zu beantworten. Diese Freiheit und Selbständigkeit wächst im christlichen Glauben an Gott zu, der den Lebensmut und die Lebenszuversicht stärken kann; Glaube, Liebe und Hoffnung bilden die Mitte der Beziehung zu Gott, die auf das ganze Leben ausstrahlt.

Der vorliegende Text wurde von der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend und einer von ihr gebildeten Arbeitsgruppe vorbereitet. Der Rat der EKD hat ihn sich mit einem herzlichen Dank an die Mitglieder und Mitarbeiter der Kammer zu eigen gemacht und seine Veröffentlichung als Denkschrift beschlossen. Ich wünsche dieser Denkschrift bei allen, die sich in Staat, Kirche und anderen Religionsgemeinschaften, in Schule und Gemeinde mit Fragen des Religionsunterrichts und seiner weiteren Ent-wicklung auseinandersetzen, Verbreitung und Aufmerksamkeit. Dabei gilt mein besonderer Dank denen, die als Religionslehrerinnen und -lehrer mit ihrer ganzen Person dafür eintreten, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene religiöse Orientierung gewinnen.

Hannover/Berlin, im Oktober 2014

Dr. h.c. Nikolaus Schneider

Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

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