Religiöse Orientierung gewinnen
Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, November 2014
2. Grundlagen in evangelischer Sicht und neue Fragen
Den Hintergrund der Denkschrift „Identität und Verständigung“ bildete die veränderte Situation nach der deutschen Vereinigung. Darüber hinaus war durch die damaligen Auseinandersetzungen um die Konfessionalität des Religionsunterrichts ein neuer Klärungsbedarf entstanden. Der grundlegende Bezug auf den „Religionsunterricht in der Pluralität“ signalisiert dabei die Kontinuität zwischen den Problemwahrnehmungen in den 1990er-Jahren und der gegenwärtigen Situation. Nicht zu übersehen sind aber auch die weitreichenden Veränderungen der kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Situation, die sich heute in vieler Hinsicht anders darstellt als noch vor 20 Jahren. Deswegen müssen die genannten Orientierungen geprüft, präzisiert sowie, vor allem hinsichtlich der religiösen und weltanschaulichen Pluralität, weiterentwickelt werden. In diesem Sinne dient dieses Kapitel einem doppelten Zweck: Es soll grundlegende evangelische Orientierungen in Erinnerung rufen und insofern einen Hintergrund für alles Folgende beschreiben. Zugleich müssen diese Orientierungen so zugespitzt werden, dass sie auch in Gegenwart und Zukunft ihre Bedeutung entfalten können.
2.1 Religionsunterricht als Chance für Kinder und Jugendliche
Dass der Religionsunterricht eine Chance für Kinder und Jugendliche sein soll, versteht die evangelische Kirche als Anspruch und Verpflichtung zugleich. Mit dem von der Synode der EKD (1994) geforderten grundlegenden „Perspektivenwechsel“ von den Erwachsenen hin zu den Kindern und Jugendlichen werden deren Entwicklungs-, Orientierungs- und Bildungsbedürfnisse zu einem konstitutiven Ausgangspunkt auch für den Religionsunterricht. In diesem Sinne wird in „Identität und Verständigung“ (im Folgenden abgekürzt: IuV) im Blick auf die Ziele des Religionsunterrichts an erster Stelle hervorgehoben: Kinder und Jugendliche „sollen sich frei und selbständig religiös orientieren können. Der Religionsunterricht ist kein Instrument kirchlicher Bestandssicherung. Er ist auch keine großzügige Geste des Staates, kein Entgegenkommen gegenüber den Kirchen wegen einer langen Tradition.“ Deshalb muss er „wie jedes Fach“ aus dem „Bildungsauftrag der Schule“ begründet werden (IuV 11f.). Insofern ist der Auftrag des Religionsunterrichts primär in pädagogischen Begriffen zu entfalten, aber in seiner evangelischen Ausrichtung muss er zugleich theologisch und kirchlich verantwortet werden.
Ein Religionsunterricht, der den Entwicklungs-, Orientie- rungs- und Bildungsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen dienen soll, kann nicht unabhängig von deren lebensgeschichtlichen Voraussetzungen und lebensweltlichen Erfahrungen konzipiert werden. Auch in dieser Hinsicht ist der Religionsunterricht heute auf eine religiös und weltanschaulich plurale Situation bezogen. Schon vor 20 Jahren stand dabei vor Augen, dass die religiöse Vielfalt immer mehr bereits innerhalb von Kirche und Christentum beginnt, dass sie zunehmend auch eine Vielfalt von in Deutschland und Europa präsenten Religionen einschließt sowie das Verhältnis zwischen religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen und Formen der Lebenspraxis betrifft. Die damit verbundenen Orientierungsbedürfnisse sind in den letzten Jahrzehnten noch einmal deutlich gewachsen. Gerade in der Schule, die von allen Kindern und Jugendlichen besucht werden muss, steht die Vielfalt unausweichlich vor Augen. Der islamische Religionsunterricht, wie er bislang zwar nur an einer begrenzten, aber doch stetig wachsenden Zahl von Schulen eingerichtet ist, spielt in dieser Hinsicht eine hervorgehobene Rolle, auch wenn die Frage der religiösen Pluralität keineswegs auf den Islam verkürzt werden darf.
Vielfach wird beobachtet und auch durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt, dass die in dieser Situation aufwachsenden Kinder und Jugendlichen aus dem christlichen Bereich eher punktuelle und nicht auf Dauer angelegte Bindungen an die Kirche aufbauen. Solche Bindungen treten beispielsweise bei der Konfirmandenarbeit und der Konfirmation zutage, wenn sich nach wie vor mehr als 90 Prozent der evangelischen Jugendlichen konfirmieren lassen, aber diese Bindungen schlagen sich nicht in einem entsprechenden Teilnahmeverhalten bei anderen kirchlichen Angeboten nieder. Im Vordergrund stehen vor allem für die Jugendlichen nicht die Erwartungen der Kirche, sondern die eigenen religiösen Fragen und Interessen. Auf diese Fragen und Interessen kann sich gerade der Religionsunterricht beziehen. Für viele Kinder und Jugendliche ist er der einzige Ort, an dem sie eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit religiösen und kirchlichen Themen realisieren. Im Elternhaus finden sie dazu vielfach nicht die entsprechenden Voraussetzungen, und ihr Kontakt zu Kirche und Gemeinde ist weithin als eher sporadisch zu bezeichnen. Insofern ist das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Religion aus evangelischer Sicht ein entscheidender Ausgangspunkt für den Religionsunterricht: „Für viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene spielt Religion eine bedeutende Rolle, die auch denen verständlich sein sollte, die sich selbst nicht als religiös verstehen. Nicht zuletzt ist religiöse Bildung ein Recht der Kinder und Jugendlichen.“ (EKD, 10 Thesen)
Der Religionsunterricht bietet Kindern und Jugendlichen eine ihnen sonst nicht verfügbare Möglichkeit, sich im Blick auf religiöse Grundfragen des eigenen Lebens sowie des Zusammenlebens mit anderen zu orientieren und den eigenen Glauben zu klären. Dieser Unterricht sollte „in Zukunft mehr noch als bisher ein Beitrag zur persönlichen religiösen Orientierung und Bildung sein“ (IuV 26). Weil im evangelischen Religionsunterricht bewusst bleibt, dass „über den Glauben nicht pädagogisch verfügt werden“ kann, muss er dem Grundsatz folgen, „die selbständige, erfahrungsbezogene Aneignung und Auseinandersetzung zu fördern“ (IuV 27).
Auch wenn der Religionsunterricht demnach nicht von der Kirche her begründet werden soll, liegt es auch im kirchlichen Interesse, dass ein Unterricht erteilt wird, in dem Kinder und Jugendliche die christliche Überlieferung in authentischer Form kennenlernen können. Voraussetzung dafür ist eine Religionsdidaktik, die es versteht, die christliche Glaubensüberlieferung so einzubringen, dass sie Kinder und Jugendliche in ihrer heutigen Lebenswelt erreicht und dass ihnen deutlich wird, warum hier von einer „frohen Botschaft“ gesprochen werden kann.
Im Zentrum dieser Botschaft steht die Zusage, dass alle Menschen Gottes geliebte Geschöpfe sind. Deshalb versteht sich der evangelische Religionsunterricht auch im Sinne der Inklusion als ein Angebot für alle Kinder und Jugendlichen. Das besondere inhaltliche Profil dieses Unterrichts schließt ein, dass hier über unterschiedliche Menschenbilder reflektiert und die darauf bezogenen pädagogischen Voraussetzungen einer inklusiven Pädagogik ausdrücklich zum Thema gemacht werden. Die unverlierbare, weil von Gott zugesprochene Gottebenbildlichkeit begründet in der Sicht der evangelischen Kirche die für alle Menschen gleiche Würde, unabhängig von ihrer Lern- und Leistungsfähigkeit. Welche Folgerungen daraus für eine inklusive Schule im Einzelnen zu ziehen sind, bedarf allerdings sorgfältiger Klärungen, die weit über den Religionsunterricht hinausreichen (vgl. „Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft“, EKD 2014). Für den Religionsunterricht gehören zum Inklusionsverständnis insbesondere die Wertschätzung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie die Ermöglichung von Begegnungen, wie sie im kooperativen Religionsunterricht realisiert werden (vgl. 4.1). Die darin zum Ausdruck kommende Differenzsensibilität unterstreicht weiter, dass eine konfessionelle Form von Religionsunterricht keineswegs im Widerspruch zum Inklusionsprinzip steht. Vielmehr ermöglicht sie ein differenziertes Angebot, das es allererst erlaubt, Unterschieden gerecht zu werden.
Ein Religionsunterricht, der Kindern und Jugendlichen in dem beschriebenen Sinne besondere Möglichkeiten bietet, stellt einen wichtigen Beitrag zur Schule insgesamt dar. Als religionsbezogene Bildung ergänzt der Religionsunterricht das Spektrum der schulischen Bildungsmöglichkeiten. Durch die Aufnahme grundlegender Lebensfragen bietet er den einzelnen Kindern und Jugendlichen Zuwendung und Unterstützung. Mit der Offenheit für rituelle und liturgische Praxisformen eröffnet der Religionsunterricht zudem Verbindungen zum Schulleben etwa in Gestalt von Schulgottesdiensten sowie zu außerschulischen Partnern und möglichen Lernorten etwa der kirchlichen Jugendarbeit und der Kirchengemeinden.
2.2 Positive Religionsfreiheit in der Schule
In Artikel 7 Absatz 3 GG besitzt der Religionsunterricht, der „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt wird, eine verfassungsrechtliche Garantie. Dabei handelt es sich nicht um eine isolierte Setzung. Seit ihrer ersten auf Fragen dieser Art bezogenen Stellungnahme von 1971 hat die EKD mehrfach verdeutlicht, dass Artikel 7 Absatz 3 GG im Lichte der in Artikel 4 GG garantierten Glaubens- und Gewissensfreiheit verstanden werden muss. Der evangelische Religionsunterricht dient wie die anderen Bestimmungen des deutschen Staatskirchenrechts dem Grundrecht der Religionsfreiheit. Artikel 4 GG gewährleistet den Schutz vor staatlicher Diskriminierung aufgrund bestimmter Glaubensüberzeugungen und begründet zusammen mit dem Verbot der Staatskirche und dem Grundrecht auf Religionsfreiheit für den Staat ein Neutralitätsgebot. Diese negative Religionsfreiheit schließt selbstverständlich auch die Freiheit dazu ein, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören und sich allein auf nicht-religiöse Überzeugungen zu berufen. Die positive Religionsfreiheit hingegen zielt auf die Möglichkeit, die Grundrechte auch tatsächlich ausüben zu können. Da die staatliche Rechtsordnung eine allgemeine Schulpflicht vorsieht, dient der Religionsunterricht der Sicherung der Grundrechtsausübung: Wie die Grundrechte „die Achtung von Grenzen verlangen, so fordern sie, dass der Staat der Verwirklichung der Grundrechte Raum gibt und Gestalt verleiht“ (IuV 38).
An dieser Auslegung ist ebenso für die Zukunft festzuhalten: Religionsunterricht ist auch als Ausdruck positiver Religionsfreiheit in der Schule zu verstehen. Als problematisch hat sich hingegen erwiesen, dass die Möglichkeit einer Inanspruchnahme der positiven Religionsfreiheit mitunter mit demographischen Mehrheitsverhältnissen verquickt wurde. So konnte in „Identität und Verständigung“ noch konstatiert werden: „Der Religionsunterricht braucht einen breiten öffentlichen Konsens. Es stellt sich die Frage, ob dieser im vereinigten Deutschland und in einer neuen gesellschaftlichen Situation noch gegeben ist“ (IuV 39). Die Glaubens- und Gewissensfreiheit darf aber keinesfalls von Mehrheitsverhältnissen oder von Einstellungen in der Bevölkerung abhängig gemacht werden. Religionsfreiheit bezeichnet ein unveräußerliches Recht jedes und jeder Einzelnen. In bestimmten Hinsichten wird sie gerade dann erst wirklich virulent, wenn es um religiöse oder weltanschauliche Minderheiten geht. Deshalb darf auch das Angebot von Religionsunterricht keinesfalls von Mehrheits- oder Minderheitsverhältnissen abhängig gemacht werden. Auch wenn es hier wie in allen vergleichbaren Fällen pragmatische Grenzen gibt (nicht jeder einzelne Schüler oder jede einzelne Schülerin kann für sich die Einrichtung eines Religionsunterrichts seiner oder ihrer Konfession oder Religion verlangen), muss die Erteilung von Religionsunterricht prinzipiell in einem möglichst weit zu fassenden Rahmen gewährleistet bleiben, gerade auch für Kinder und Jugendliche in minderheitlicher Situation. Dabei ist von vornherein bewusst zu halten, dass die evangelische Kirche die Teilnahme am Religionsunterricht ebenfalls schon seit langem nicht von der Zugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler zur evangelischen Kirche abhängig macht, sondern — ihren Überzeugungen und Grundsätzen entsprechend — den Religionsunterricht als Angebot für alle versteht, die sich dafür interessieren.
Wenn der Religionsunterricht nicht zuletzt als Ausdruck der positiven Religionsfreiheit unmittelbar im Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit verankert ist, ergibt sich daraus auch, dass der ausdrücklich auf den Religionsunterricht bezogene Artikel 7 Absatz 3 GG nicht beliebig auslegbar sein kann. Zwar hat die EKD mehrfach das Prinzip einer „interpretativen Fortentwicklung“ grundgesetzlicher Regelungen bejaht, aber jede Fortentwicklung dieser Art muss sich am Maßstab der positiven Religionsfreiheit messen lassen.
Dabei ist der Staat, an den sich der Auftrag des Grundgesetzes hier richtet, auf die Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften angewiesen. Was Glaubens- und Gewissensfreiheit aus evangelischer Sicht bedeutet, kann nicht von staatlicher Seite festgelegt werden. Das wäre ein Verstoß gegen die staatliche Pflicht zur religiösen Neutralität. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften entlastet den Staat insofern von der Gefahr, gegen das ihn in dieser Hinsicht bindende Neutralitätsgebot zu verstoßen, und ist im Blick auf die Inhalte des Religionsunterrichts nach Artikel 7 Absatz 3 GG ausdrücklich geboten. Die dort geforderte Erteilung des Religionsunterrichts „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemein-schaften“ impliziert, dass es eben nicht der Staat ist, der solche Grundsätze festlegen kann.
Damit steht der Religionsunterricht in einer doppelten Verantwortung: Als ordentliches Lehrfach ist seine Durchführung eine staatliche Aufgabe, auch im Blick auf die Finanzierung des Unterrichts sowie die Aus- und Fortbildung der Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Er untersteht der staatlichen Schulaufsicht. Seine Einrichtung ist für die Schulträger obligatorisch. Zugleich wird der Religionsunterricht insofern von den Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften verantwortet, als sie gemäß ihrer Grundsätze über die Ziele und Inhalte des Religionsunterrichts entscheiden, unter Wahrung der allgemeinen Ziele der staatlichen Schule. Es entspricht dabei wiederum der Religionsfreiheit, dass nach Artikel 7 Absatz 2 GG die Entscheidung über die Teilnahme am Religionsunterricht bei den Erziehungsberechtigten bzw. nach Erreichen der Religionsmündigkeit bei den Schülerinnen und Schülern liegt.
2.3 Religionsunterricht als Beitrag zu religiöser Orientierung, Identitätsbildung und Pluralitätsfähigkeit
Die Denkschrift von 1994 orientierte sich an den schon im Titel hervorgehobenen Leitbegriffen „Identität und Verständigung“. Damit hat sie wichtige Impulse zu weiteren pädagogischen und theologischen Klärungen gegeben, die weit über den Religionsunterricht hinaus bedeutsam sind:
- Der Religionsunterricht versteht sich als Beitrag zur religiösen Identitätsbildung. Pädagogisch ebenso wie theologisch ist zugleich festzuhalten, dass Identität kein Lern- oder Bildungsziel sein kann. Das gilt zumindest dann, wenn damit so etwas wie ein Personkern oder die im Prozess der Selbstwerdung auszubildende entscheidende Bestimmtheit eines Menschen gemeint ist. Diese Bestimmtheit entzieht sich jeder pädagogisch zielgerichteten Tätigkeit und verweist damit auf eine prinzipielle Grenze, die nur um den Preis der Freiheit aufzuheben wäre. Theologisch gesehen gehört der Glaube in wesentlicher Weise zu diesem Bereich, was umgekehrt bedeutet, dass die vom Glauben ausgehende Bestimmtheit des Menschen menschlich unverfügbar bleibt und unverfügbar bleiben muss.
Dies heißt allerdings nicht, dass die religiöse Identitätsbildung pädagogisch nicht unterstützt werden könnte oder sollte. Eine religiöse Identität ist angewiesen auf die persönliche Vertrautheit mit einer bestimmten religiösen Tradition sowie auf die Orientierungsmöglichkeiten, die sich daraus für den eigenen Glauben ergeben. Das gilt auch für den Religionsunterricht, der diese Aufgabe in besonderer Weise wahrnehmen kann, wenn er um seine pädagogisch und theologisch begründeten Grenzen weiß. Insofern ist es sachgemäß, von einem „Beitrag“ des Religionsunterrichts zur religiösen Identitätsbildung zu sprechen. - Nach wie vor steht außer Zweifel, dass mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt auch der Verständigungsbedarf wächst. Ob allerdings die realen Verständigungsmöglichkeiten diesem Bedarf auch tatsächlich entsprechen, wird zugleich immer mehr bezweifelt. Herrschten beispielsweise in der Sozialphilosophie früher noch Erwartungen vor, dass eine Verständigung umso wahrscheinlieher würde, je mehr man sich dem Ideal ungehinderter Kommunikation annähere, so werden solche Erwartungen inzwischen durch die Wahrnehmung bleibender Differenzen nicht zuletzt im Blick auf Glaube und Weltanschauung stark relativiert.
In evangelischer Sicht bleibt das Bemühen um Verständigung jedoch auch in einem dauerhaft pluralen Gemeinwesen unverzichtbar — ein Zusammenleben ohne jede Verständigung mit anderen auch über die Grenzen der Gruppen und Gemeinschaften, denen man sich zugehörig fühlt, hinaus könnte nicht funktionieren. Zu den Rahmenbedingungen, über die eine Verständigung zwingend erforderlich ist, gehört beispielsweise die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Der Glaube selbst ist aber nicht das Resultat einer Übereinkunft mit anderen, sondern menschlich gesehen eine Frage der freien Entscheidung jeder einzelnen Person, weil der Glaube nur so seiner von Gott herkommenden Bestimmtheit entsprechen kann. Der in der vorliegenden Denkschrift bevorzugte Begriff der Pluralitätsfähigkeit, der im Folgenden weiter entfaltet wird, soll das Missverständnis ausschließen, dass das Bemühen um Verständigung die Orientierung an Differenz jemals ablösen könnte. Auch im Blick auf den evangelischen Religionsunterricht, der sich schon durch seine Selbstbezeichnung von anderen Formen religionsbezogenen Unterrichts wie der Religionskunde unterscheidet, ist nicht nur das Bemühen um Verständigung entscheidend, sondern auch die mit dem christlichen Glauben verbundene Differenz. - In der Theologie wird zu Recht darauf hingewiesen, dass eine gefestigte religiöse Identität die Voraussetzung für Dialogfähigkeit darstellt. Eine als unsicher erfahrene Identität kann zur Abschottung gegenüber anderen füh-ren. Pädagogisch gesehen lässt sich dieser innere Zusammenhang von Identität und Dialogfähigkeit allerdings nicht eins zu eins abbilden, vor allem nicht im Sinne einer zeitlichen Abfolge. Während früher versucht worden ist, eine solche Abfolge etwa für den Religionsunterricht dadurch zu erreichen, dass andere Religionen erst im Jugendalter thematisiert wurden, muss dieser Versuch inzwischen als gescheitert bezeichnet werden. Heute begegnen Kinder von früh auf, spätestens im Kindergarten, anderen Kindern mit einer anderen Religionszugehörigkeit oder auch ohne eine solche Zugehörigkeit. Es wäre wenig sinnvoll, sie bei den daraus erwachsenden Fragen auf eine spätere Zeit zu verweisen. Deshalb gibt es keine Alternative dazu, beide Aufgaben zugleich wahrzunehmen, die Unterstützung von religiöser Identitätsbildung und von Pluralitätsfähigkeit. Identität und Verständigung bezeichnen einen Prozess, der als Zusammenhang wahr-genommen werden muss.
2.4 Konfessionelle Bindung und dialogische Offenheit
Die für den evangelischen Religionsunterricht maßgebliche konfessionelle Bindung wird heute weithin als Gegensatz zu der Anforderung dialogischer Offenheit im Verhältnis zu anderen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen wahrgenommen. Eine solche Wahrnehmung steht jedoch in deutlichem Widerspruch zum evangelischen Selbstverständnis, dem zufolge die evangelische Konfessionalität die dialogische Offenheit befördert. Konfessionalität in diesem Sinn zeichnet sich programmatisch durch Offenheit und Interesse im Blick auf unterschiedliche Glaubenshaltungen aus. Eine Haltung der Beliebigkeit hingegen kann die Bereitschaft, sich auf andere und anderes einzulassen, nicht unterstützen, schon weil aus der Voraussetzung einer solchen Beliebigkeit keinerlei Interesse an unterschiedlichen Überzeugungen erwachsen kann.
Für den Religionsunterricht bedingt seine konfessionelle Bindung darüber hinaus eine grundlegende Verlässlichkeit und Transparenz. Kinder und Jugendliche sowie Eltern, Schule und Staat wissen, von welchen Grundsätzen sich der evangelische Religionsunterricht leiten lässt. Sie können sich darauf verlassen, dass hier nicht einfach persönliche Anschauungen oder Heilslehren vertreten werden, sondern dass es das Evangelium von Jesus Christus ist, an dem dieser Unterricht seine Grundlegung und Ausrichtung gewinnt. Sich auf diese Ausrichtung einzulassen bleibt aus evangelischer Sicht eine Angelegenheit der Freiheit.
Dass konfessionelle Bindung und dialogische Offenheit aufeinander verweisen, kann allerdings nur im Horizont eines bestimmten Verständnisses von Konfessionalität gesagt werden. Die Denkschrift „Identität und Verständigung“ hat dies vor allem im Blick auf die verschiedenen christlichen Konfessionen entfaltet. Demnach gilt für den evangelischen Religionsunterricht: „Seine theologische Identität und seine ökumenische Offenheit haben ein und dieselbe Wurzel“, wie besonders aus den „Grundanschauungen der Reformation“ hervorgeht (IuV 61). Denn diese Anschauungen schließen ebenso jeden „Konfessionalismus“ aus wie eine „konfessionelle Gleichgültigkeit“. Sie wollen vielmehr die „universale christliche Wahrheit“ zur Geltung kommen lassen (ebd.).
„Nach reformatorischer Sicht kann es die eine Kirche Jesu Christi als die eine, heilige, katholische (allumfassende), apostolische Kirche nicht als ein Erzeugnis aus Menschenhand geben; sie ist ein Gegenstand des Glaubens und von Menschen als geschichtliche Erscheinung nicht organisierbar“ (ebd.). Die verschiedenen Konfessionen hingegen gehören nach reformatorisch-theologischer Überzeugung in den Bereich der „sichtbaren Kirche“ und sind als ein „prinzipiell fehlbares geschichtliches Werk des Menschen“ anzusehen (IuV 62). Daher verbietet sich jeder Versuch, die eigene Konfession oder Kirche oder auch die eigenen Bekenntnisschriften absolut zu setzen. Zum Glauben gehört auch das Bekenntnis, also die Konfession, aber nicht als Frage der Macht, sondern als „dankbare Antwort des Menschen“ auf die von Gott her im Glauben erfahrene Zuwendung (IuV 63).
Diese Ausrichtung an Gott in Jesus Christus ist evangelisch grundlegend. „Sofern die evangelische Kirche sich so versteht — ihr Selbstmissverständnis bleibt ihre sie ständig begleitende Versuchung —, dient sie im Vollzug ihrer Evangelizität der Katholizität der Kirche als der einen wahren Kirche des Glaubens. Seinem inneren theologischen Sinne nach ist folglich der evangelische Religionsunterricht auf die eine Kirche Jesu Christi, das heißt grundsätzlich ökumenisch auszurichten, und er kann nicht ökumenisch sein, wenn er nicht in dem genannten Verständnis evangelisch ist.“ (IuV 63)
Aus diesem Selbstverständnis ergibt sich die nach wie vor maßgebliche Begründung für einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, wie er heute vor allem in der Zusammenarbeit zwischen dem evangelischen und dem katholischen Religionsunterricht vielfach realisiert wird (vgl. 4.2). In der Gegenwart stellen sich allerdings, besonders durch die Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts, neue Fragen, die noch vor 20 Jahren kaum im Blick sein konnten. Insbesondere muss nun auch gesagt werden, wie sich die konfessionelle Bindung zum Religionsunterricht nicht nur anderer christlicher Konfessionen, sondern ebenso zum Religionsunterricht anderer Religionen verhält. Schon in „Identität und Verständigung“ wird festgehalten, dass die Zusammenarbeit im Religionsunterricht auch etwa einen jüdischen oder islamischen Religionsunterricht sowie den Ethikunterricht einschließen kann (IuV 80). Offen blieb damals jedoch die Frage nach den theologischen Grundlagen einer Kooperation über den christlichen Bereich hinaus.
Die Zusammenarbeit zwischen dem evangelischen Religionsunterricht und einem jüdischen und islamischen Religionsunterricht lässt sich nicht, wie im Falle der evangelischen und katholischen Kooperation, aus der im Glauben gegebenen Einheit des Christentums begründen. Aus evangelischer Sicht ist konsequent zwischen ökumenischen und interreligiösen Beziehungen zu unterscheiden; die religionstheologische Annahme einer übergreifenden Religionseinheit ist nicht tragfähig (vgl. „Christlicher Glaube und nicht-christliche Religionen“, EKD 2003). Von grundlegender Bedeutung auch für den Religionsunterricht ist die Einsicht, dass das Verhältnis zwischen den Religionen differenzierend wahrgenommen werden muss, sowohl im Blick auf die theologischen Voraussetzungen etwa im Gottesverständnis als auch hinsichtlich der geschichtlichen Voraussetzungen ihrer Begegnung. Ebenso grundlegend ist aus evangelischer Sicht eine prinzipielle Dialogoffenheit, die ausdrücklich auch wechselseitig kritische Wahrnehmungen einschließen soll.
Es wäre eine Überforderung, wenn vom Religionsunterricht eine Antwort auf alle im Blick auf die verschiedenen Religionen noch offenen theologischen Fragen erwartet würde. Zugleich kann aber gerade beim Religionsunterricht auch nicht auf zumindest vorläufige Antworten verzichtet werden. In der vorliegenden Denkschrift wird deshalb versucht, exemplarisch das Bildungsziel der Pluralitätsfähigkeit auch theologisch zu begründen (vgl. Kap. 3).
2.5 Glaubwürdig unterrichten: Lehrerinnen und Lehrer im Religionsunterricht
Guter Religionsunterricht lebt immer auch davon, dass er von glaubwürdigen Personen unterrichtet wird. Glaubensüberzeugungen sind Gegenstand des Religionsunterrichts, aber dies schließt notwendig die Dimension persönlicher Auseinandersetzung und Klärung des eigenen Glaubens ein. Für Kinder und Jugendliche spielt dabei die Person der Unterrichtenden eine wichtige Rolle. Sie fragen deshalb mitunter auch ganz direkt, ob der Lehrer oder die Lehrerin eigentlich selbst glaube, was er oder sie unterrichtet.
Nach evangelischem Verständnis setzt die Befähigung zum Religionsunterricht eine Bindung an den christlichen Glauben voraus, was freilich nicht mit einer lehramtlichen Kontrolle verwechselt werden darf. In ihrer in dieser Hinsicht maßgeblichen Auslegung der „>Grundsätze der Religionsge- meinschaften< nach evangelischem Verständnis“ (1971) verweist die EKD auf die Bestimmung „durch das biblische Zeugnis von Jesus Christus unter Beachtung seiner Wirkungsgeschichte“ sowie darauf, dass „Glaubensaussagen und Bekenntnisse“ jeweils „in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu verstehen und in jeder Gegenwart einer erneuten Auslegung bedürftig“ sind. Dabei gilt: „Die Bindung an das biblische Zeugnis von Jesus Christus schließt nach evangeli-schem Verständnis ein, dass der Lehrer die Auslegung und Vermittlung der Glaubensinhalte auf wissenschaftlicher Grundlage und in Freiheit des Gewissens vornimmt.“ Das evangelische Verständnis bedingt also eine besondere Verantwortung der Unterrichtenden, zugleich aber auch eine besondere Freiheit.
Die Betonung der personalen Qualität des Religionsunterrichts würde freilich dann zu einer Überforderung führen, wenn sie in isolierter Form oder gar als einzige Voraussetzung für die Befähigung zum Religionsunterricht angesehen würde. Formulierungen, die in der Lehrperson auch schon den wichtigsten Lerninhalt sehen wollen, sind theologisch und pädagogisch abzulehnen. In ihren Texten zur Ausbildung für das Religionslehramt spricht die EKD demgegenüber von „theologisch-religionspädagogischer Kompetenz“. In dieser Kompetenz müssen drei Voraussetzungen unterschieden und miteinander verbunden werden: fachliche, didaktische und personale Voraussetzungen. Entscheidend ist der Zusammenhang aller drei Aspekte. Jeder Unterricht, der sich an nur einem dieser Aspekte orientieren will, geht an seiner Aufgabe vorbei.
Um Religionslehrkräfte vor einer Überforderung zu bewahren, machen die evangelischen Landeskirchen vielfache Angebote zur Unterstützung des Religionsunterrichts. Dies beginnt mit der Möglichkeit, dass angehende Religionslehrkräfte sich schon im Studium an Programmen der kirchlichen Begleitung beteiligen können, und es setzt sich fort in den Fortbildungsprogrammen, wie sie in den religionspädagogischen und pädagogisch-theologischen Instituten der Landeskirchen fest eingerichtet sind. Auch in der Unterstützungsarbeit dieser Institute kommt zum Ausdruck, dass der Religionsunterricht nicht allein vom Staat verantwortet werden kann.
Besondere Chancen für den Religionsunterricht ergeben sich auch aus der Beteiligung kirchlicher Lehrkräfte (je nach Landeskirche: Pfarrerinnen und Pfarrer, kirchliche Religionslehrerinnen und -lehrer, Katechetinnen und Katecheten, Diakoninnen und Diakone, Gemeindepädagoginnen und -pädagogen). Soweit diese Lehrkräfte auch außerhalb der Schule, etwa in der Kirchengemeinde oder in anderen kirchlichen Zusammenhängen, tätig sind, verfügen sie über zusätzliche Erfahrungen mit kirchlichem Handeln, die auch den Religionsunterricht bereichern können. In der Begegnung mit solchen Lehrkräften kann für die Schülerinnen und Schüler in besonderer Weise deutlich werden, dass Kirche mehr und anderes ist als das, was über die Kirche allzu oft kolportiert wird. Umgekehrt können Erfahrungen mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt in der Schule auch für den kirchlichen Bereich wichtige Impulse enthalten. Insofern geht es um wechselseitig wahrzunehmende Chancen für beide, für die Schule ebenso wie für die Kirche.
Allerdings können diese Chancen nur unter zwei Voraussetzungen genutzt werden:
- Zum einen muss eine entsprechende Aus- und Fortbildung dieser Lehrkräfte gewährleistet sein. Beispielsweise garantiert angesichts der steigenden Anforderungen an den Lehrerberuf etwa im Blick auf didaktische Fähigkeiten, diagnostische Expertise usw. ein Studium der Evangelischen Theologie nicht automatisch, dass eine solche Befähigung gegeben ist. Hier sind weitere Bemühungen notwendig, damit die erforderliche Vergleichbarkeit der schulpädagogischen Ausbildung in Studium und Vikariat mit der Ausbildung von Lehramtsstudierenden bzw. Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern gewährleistet werden kann. Dazu gibt es mittlerweile eine eigene EKD-weite Vereinbarung.
- Damit der Religionsunterricht als Fach der Schule erkennbar bleibt und nicht zu einem Fremdkörper wird, müssen auch die im Religionsunterricht tätigen Lehrkräfte in das Kollegium der Schule so weit als möglich integriert sein. Sofern kirchliche Abordnungen an die Schule nur ein Deputat mit sehr wenigen Stunden umfassen oder eine Lehrkraft zugleich an mehreren Schulen eingesetzt wird, stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Eine auf diese Problematik abgestimmte Planung ist deshalb sehr wünschenswert.