"Gewalt gegen Frauen als Thema der Kirche" (Teil II)
Vorwort
1. Vorgeschichte
Die EKD-Synode hat im November 1995 in Friedrichshafen ein Studienvorhaben "Gewalt gegen Frauen" beschlossen. Der Bericht über dieses Vorhaben ist der Synode inzwischen zugeleitet worden. Ergänzend hat der Rat der EKD im Oktober 1997 eine gesonderte und vertiefte Reflexion der theologischen Fragestellung in Auftrag gegeben. Untersucht werden sollte, in welcher Weise die theologischen und kirchlichen Traditionen Gewalt gegen Frauen begünstigen oder religiös legitimieren und in welcher Weise sie andererseits zur Überwindung der Gewalt gegen Frauen beitragen können. Das hier vorgelegte Ergebnis dieser Reflexion ist als eine Ergänzung zu dem Bericht "Gewalt gegen Frauen" von 1997 zu verstehen; dort bereits vorgelegte theologisch relevante Aussagen sollen hier nicht noch einmal wiederholt werden. Vorausgesetzt wird insbesondere der Exkurs über die "Diskussion des Themas in der Frauenarbeit und der Männerarbeit" (Bericht "Gewalt gegen Frauen" an die Synode der EKD 1997 S. 56 - 59), der wichtige Hinweise gibt, wie das Problem der Gewalt gegen Frauen in einer geschlechtsspezifischen Perspektive theologisch reflektiert werden kann. Hinzuweisen ist ferner auf das Kapitel "Handlungsansätze und Empfehlungen" (ebenda S. 60-65), das exemplarisch eine Reihe von Impulsen für einen theologisch reflektierten Umgang mit Gewalt in Kirche und Gesellschaft gibt. Außerdem stützt sich das vorliegende Papier auf die Ergebnisse der Konsultation "Gewalt gegen Frauen - theologische und ethische Aspekte", die im Rahmen des Studienvorhabens Anfang 1997 im Frauenstudien- und -bildungszentrum der EKD in Gelnhausen mit Vertreterinnen und Vertretern der theologischen Fachdisziplinen stattgefunden hat (epd-Dokumentation 17/1997).
2. Näherbestimmung des Themas
Durch Gewalt wird die körperliche und seelische Integrität eines Menschen verletzt. Sie ist ein Angriff auf die Menschenwürde und widerspricht dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und auf die Freiheit der Person. Dies gilt gegenüber jeder Person. Gewalt von Männern oder Jungen gegenüber Frauen oder Mädchen nutzt dabei nicht nur allgemein deren körperliche Unterlegenheit aus. Es kann sich dabei um direkte sexuelle Gewalt handeln, aber ebenso um Gewalt, "die mit der Geschlechtlichkeit des Opfers und des Täters zusammenhängt und die unter Ausnutzung des strukturell vorgegebenen Machtverhältnisses zwischen Männern und Frauen zugefügt wird." (4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking, a.a.O. S. 7). Das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen ist in neuerer Zeit zwar durch das Bemühen um die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Gesellschaft und in der Kirche abgemildert. Religiöse und theologische Traditionen, die die Aufrechterhaltung gewaltfördernder Strukturen begünstigen, wirken aber immer noch nach.
3. Gewalt als Sünde
Es gehört zu den grundlegenden Aussagen christlicher Theologie, daß die Kirchen Gewalt in jeder Form ablehnen. Diese Ablehnung ist in der theologischen Tradition nicht deutlich genug auf die direkte und indirekte Ausübung von Gewalt gegen Frauen bezogen worden. Es ist an der Zeit, daß die Kirchen in ihrer Verkündigung und in ihren öffentlichen Verlautbarungen deutlich machen, daß sexuelle Gewalt das Bild Gottes in dem jeweiligen Gegenüber, sei es ein Mann oder eine Frau, ein Junge oder ein Mädchen, mißachtet. Gewalt verletzt nicht nur die körperliche und seelische Integrität der Betroffenen, sondern beschädigt auch die Menschlichkeit derer, die Gewalt ausüben. Jeder Akt der Gewalt gegen Frauen im Raum der Kirche verletzt den Leib Christi und verhindert an einem grundlegenden Punkt die Gemeinschaft von Frauen und Männern. In einem Brief von dem Abschlußfestival der Dekade "Die Kirchen in Solidarität mit den Frauen" an die 8.Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Harare 1998 werden die Kirchen aufgefordert, Gewalt gegen Frauen ausdrücklich zu verurteilen und aus dieser Verurteilung Konsequenzen zu ziehen: "Wir halten fest: An der Abschaffung von aller Gewalt in ihren verschiedenen Formen (...) und der Kultur der Gewalt, vor allem dort, wo es um das Leben und die Würde von Frauen geht. Und wir erklären unsere Bereitschaft, allen Versuchen einer Entschuldigung, Verharmlosung und Rechtfertigung von Gewalt zu widerstehen. Als Frauen und Männer des Dekadefestivals erklären wir, daß Gewalt in der Kirche eine Sünde wider die Menschheit und die Erde ist. Deshalb: Fordern wir die 8. Vollversammlung auf, ja wir flehen sie an, Gewalt gegen Frauen vor aller Welt zur Sünde zu erklären. In unserer Verantwortung vor Gott und uns selbst empfehlen wir deshalb, die Vollversammlung möge wegen der Teilhabe der Kirchen an dieser Gewalt einen Prozeß der Buße beginnen und für die Erneuerung unserer Theologien, Traditionen und Praktiken für Gerechtigkeit und Frieden unter Frauen, Männern und Kindern in ihren Häusern und Gemeinschaften eintreten."
4. Zielsetzung des Papiers
Das Problem der Gewalt gegen Frauen und die Frage nach ihren Ursachen weckt bei allen Beteiligten, Männern wie Frauen, vielfältige Vorbehalte, Abwehrhaltungen und Ängste. Lange Zeit wurde Gewalt gegen Frauen verschwiegen oder verharmlost. Gerade im kirchlichen Bereich schien es undenkbar, daß Frauen und Mädchen in Gemeinden und in christlichen Familien Gewalt erfahren. Durch die Frauenbewegung ist dieses tabuisierte Thema jetzt stärker in das Bewußtsein auch kirchlicher Kreise getreten. Es scheint uns deshalb nötig, daß die Kirchen sich dem Problem um der betroffenen Frauen und um der Integrität der Kirche willen ausdrücklich stellen. Die Frage nach den theologischen Anteilen gewaltfördernder Strukturen erfordert eine selbstkritische Reflexion über den christlichen Glauben und über bestimmte Auswirkungen. Deshalb ist es das Ziel des Papiers, das Problembewußtsein bei den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf allen Ebenen der Kirche zu schärfen und die Diskussion auch unter theologischem Aspekt voranzutreiben.
5. Vorgehen
Nach einer kurzen Einleitung zu den Aufgaben und Vorgehensweisen einer theologischen Reflexion der Gewalt gegen Frauen sollen im folgenden drei Beispiele von Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Raum der Kirche aufgeführt und kurz kommentiert werden, an denen exemplarisch der theologische und kirchliche Hintergrund des Problems deutlich wird. Beispiele sind zur Konkretion unverzichtbar. Sie dürfen nicht als Ausnahmefälle abgetan, sondern müssen als Symptome ernst genommen werden. Theologie und Kirche sind nicht nur auf ihre guten Absichten hin zu befragen, sondern auch für die Folgen ihres Denkens und Handelns verantwortlich zu machen. Es folgt eine Auseinandersetzung damit, daß und wie die Bibel von Gewalt gegen Frauen spricht und wie diese Texte heute gelesen werden können. Anschließend werden vier wesentliche Anfragen und Probleme thematisiert. Den Abschluß bilden Überlegungen zu den Aufgaben für das Handeln der Kirche und praktisch-theologische Reflexionen in ausgewählten kirchlichen Handlungsfeldern. Methodisch liegt allerdings die Schwierigkeit vor, daß die Berufung von Tätern auf biblische, theologische und kirchliche Traditionen sowie der Anteil christlicher Motive im Selbstverständnis von Frauen, die Gewalt erleiden, sich aus mehreren Gründen nur in Grenzen erforschen läßt. Eine Grundlage für solche Erhebungen können nur Selbstaussagen sein. Einflüsse biblischer, theologischer und kirchlicher Texte wie die Einflüsse anderer kultureller Texte sowie die religiöse und geschlechtsspezifische Sozialisation auf das Verhalten und das Selbstverständnis können nicht exakt bestimmt werden. Daß aber Täter in ihrem gewaltsamen Zugriff auf Frauen und Frauen, die Gewalt erleiden, in ihrem Selbstverständnis durch christliche Traditionen wesentlich mitbestimmt sind, ist durch Erfahrungsberichte bezeugt.
Literatur:
Gewalt gegen Frauen. Ein Bericht im Auftrag des Rates der EKD an die Synode der EKD 1997, Münster 1998 Konsultation "Gewalt gegen Frauen - theologische und ethische Aspekte". epd-Dokumentation 17/1997
4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking. Beiträge des Nationalen Vorbereitungskomitees, Langfassung, BMFSFJ, Bonn, 2. Auflage 1995
Von der Solidarität zur Rechenschaftspflicht. Brief an die 8. Vollversammlung des ÖRK von den Frauen und Männern des Dekadefestivals, abgedruckt u.a. in: Harare (2), epd-Dokumentation 3/99, S. 33 - 44