Künftige EU-Verfassung muss auf Bedeutung der Religion hinweisen

Der Exekutivausschuss der Leuenberger Kirchengemeinschaft fordert in einer Erklärung zur Arbeit des EU-Konvents die Freiheit zur Selbstbestimmung von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Rahmen des jeweiligen nationalen Staatsrechts - Bereitschaft zur Erweiterung der Europäischen Union über die bisherigen Grenzen hinaus begrüßt - Verpflichtung zur Solidarität der Reichen mit den Armen bekräftigt

Straßburg/Berlin/Hannover (uh). - Der Exekutivausschuss der Leuenberger Kirchengemeinschaft (LKG) hat in einer Stellungnahme zur Arbeit des EU-Konvents über die Zukunft Europas gefordert, dass in einer künftigen Verfassung der Europäischen Union in der Präambel ein Hinweis auf die Bedeutung der Religion für Europa enthalten sein sollte. „Die Absage an eine Verabsolutierung der politischen Macht kann durch einen ausdrücklichen Gottesbezug in der Präambel hergestellt werden“, heißt es in der Erklärung des Exekutivausschusses, der vom 21. bis 23. Juni in Straßburg tagte. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft vereint 103 protestantische Kirchen mit fast fünfzig Millionen Mitgliedern in 32 europäischen Ländern. Die LKG begründet ihren Vorstoß mit dem Hinweis, dass die EU, die sich als Wertegemeinschaft verstehe, „anerkennen muss, dass sie auf Voraussetzungen beruht, die sie sich nicht selbst schaffen kann“.

Der Exekutivausschuss empfiehlt der Europäischen Union ferner, „die kulturelle Vielfalt ihrer Mitgliedsländer zu erhalten und zu fördern“. Den Kirchen der LKG liege insbesondere daran, „dass die jeweiligen rechtlichen Regelungen für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche gegenüber einer möglichen Tendenz zur Harmonisierung und Regulierung geschützt bleiben und die Kirchen und Religionsgemeinschaften weiterhin die Freiheit zur Selbstbestimmung im Rahmen des jeweiligen nationalen Staatsrechts der Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten behalten“.

Grundsätzlich begrüßen die Kirchenvertreterinnen und -vertreter die Bereitschaft der EU, sich über die bisherigen Grenzen hinaus zu erweitern. Sie erinnern in diesem Zusammenhang eindringlich an die Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung und zur Herstellung von gleichen Chancen im wirtschaftlichen Wettbewerb und bitten den Konvent, „dafür Sorge zu tragen, dass Solidarität und Subsidiarität auch in der erweiterten EU ihre volle Wirkkraft behalten“. Entsprechend sollte „das Prinzip der Nachhaltigkeit eine noch größere Berücksichtigung finden“. Die Marktwirtschaft brauche eine verbindliche Rahmenordnung, damit sie eine ökologisch verantwortete soziale Marktwirtschaft werde.

Der Exekutivausschuss begrüßt die Bereitschaft der EU, sich von einer Wirtschafts- zu einer Wertgemeinschaft zu entwickeln. „Als protestantische Christen leisten wir unseren Beitrag zu diesem Prozess. Gemeinsam mit den katholischen und orthodoxen Mitchristen bekennen wir uns zu den Prinzipien der Gerechtigkeit, Versöhnung, Verantwortlichkeit und Toleranz, die zu den wesentlichen geistigen und religiösen Grundlagen Europas gehören.“ Ausdrücklich begrüßt wird von der Gemeinschaft protestantischer Kirchen in Europa die Absicht der EU, die Transparenz der Entscheidungen zu verbessern und die Möglichkeiten der Partizipation für die Bürger zu erweitern. Es bleibe die Aufgabe der EU, das oft beklagte Defizit an Demokratie zu überwinden. Die evangelischen Kirchen seien bereit, bei der Entwicklung einer Zivilgesellschaft ihre jeweiligen Kräfte einzubringen. Deshalb sei es wünschenswert, „die Möglichkeiten kirchlichen Wirkens in europäischen Einrichtungen durch ein positives europäisches Religionsrecht zu sichern, karitative und diakonische Dienste zu gewährleisten und religiöse Feiertage in der EU zu respektieren“.

Hinweis: Es folgt der vollständige Wortlaut der Stellungnahme.

Hannover, 24. Juni 2002


Stellungnahme des Exekutivausschusses der Leuenberger Kirchengemeinschaft (Gemeinschaft protestantischer Kirchen in Europa) zur Arbeit des EU-Konvents über die Zukunft Europas

Der Exekutivausschuss der Leuenberger Kirchengemeinschaft hat vom 21. bis 23. Juni 2002 in Straßburg getagt. In der Stadt, die das Europaparlament und den Europarat beherbergt, hat er sich mit der Arbeit des seit dem 28.2. 2002 tagenden „Konvents über die Zukunft Europas“ befasst. Die 1973 gegründete Leuenberger Kirchengemeinschaft vereint derzeit 103 evangelische Kirchen mit insgesamt fast 50 Millionen Mitgliedern aus 32 verschiedenen europäischen Ländern, darunter alle Mitgliedsländer der Europäischen Union, die Mehrheit der Beitrittskandidaten und weitere Länder, die noch keinen EU-Beitritt beantragt haben. Die Erwartungen an die Europäische Union sind im Einzelnen in den verschiedenen Ländern und Kirchen sehr unterschiedlich. Gemeinsam erklären wir aber:

1. Der Exekutivausschuss begrüßt die Bereitschaft der Europäischen Union, sich über die bisherigen Grenzen hinaus zu erweitern. Die Verbundenheit in gemeinsamen Traditionen und Überzeugungen hat unsere Kirchen dazu gebracht, auch in schwierigen Zeiten über den Eisernen Vorhang hinweg die Gemeinschaft zu suchen und zu vertiefen. Diese Verbundenheit, die zwischen den europäischen Völkern seit langem immer intensiver gespürt wird, soll ihren Ausdruck auch in den politischen Institutionen unseres Kontinents finden.

2. Der Exekutivausschuss erinnert in diesem Zusammenhang eindringlich an die Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung und zur Herstellung von gleichen Chancen im wirtschaftlichen Wettbewerb. Die Solidarität der reicheren Kirchen mit den ärmeren ist immer ein Prinzip unserer Kirchengemeinschaft. Auch innerhalb der EU war der Ausgleich zwischen den unterschiedlich entwickelten Ländern und Regionen, unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts der Gemeinschaft, ein wichtiges Leitziel. Wir bitten den Konvent, dafür Sorge zu tragen, dass Solidarität und Subsidiarität auch in der erweiterten EU ihre volle Wirkkraft behalten. Entsprechend sollte das Prinzip der Nachhaltigkeit eine noch größere Berücksichtigung finden. Die Marktwirtschaft braucht eine verbindliche Rahmenordnung, damit sie eine ökologisch verantwortete soziale Marktwirtschaft wird.

3. Der Exekutivausschuss begrüßt die Bereitschaft der Europäischen Union, sich von einer Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft zu wandeln. Als protestantische Christen leisten wir unseren Beitrag zu diesem Prozess. Gemeinsam mit den katholischen und orthodoxen Mitchristen bekennen wir uns zu den Prinzipien der Gerechtigkeit, Versöhnung, Verantwortlichkeit und Toleranz, die zu den wesentlichen geistigen und religiösen Grundlagen Europas gehören.

4. Als Protestanten begrüßen wir insbesondere die Absicht der Europäischen Union, die Transparenz der Entscheidungen zu verbessern und die Möglichkeiten der Partizipation für die Bürger zu erweitern. Zu den grundlegenden Erkenntnissen der Reformation gehört die Einsicht, dass die Menschen in ihren existentiellen Bezügen sich nicht auf die Vermittlung von Institutionen verlassen sollen und nicht von ihnen abhängig sein dürfen. Die Berufung auf die Gewissensfreiheit und die Lehre vom „allgemeinen Priestertum aller Gläubigen“ gehört in säkularisierter Form zu den Wurzeln der demokratischen und freiheitlichen Traditionen Europas. Es bleibt die Aufgabe der EU, das oftmals beklagte „Defizit an Demokratie“ zu überwinden. Die evangelischen Kirchen sind bereit, bei der Entwicklung einer Zivilgesellschaft ihre jeweiligen Kräfte einzubringen. Zum protestantischen Ethos gehört die Verpflichtung, am öffentlichen Leben teilzunehmen und in Beruf und Politik Verantwortung zu übernehmen. Dies ist Aufgabe der einzelnen Christen wie der Kirchen. Deshalb ist es wünschenswert, die Möglichkeiten kirchlichen Wirkens in europäischen Einrichtungen durch ein positives europäisches Religionsrecht zu sichern, karitative und diakonische Dienste zu gewährleisten und religiöse Feiertage in der EU zu respektieren.

5. Wir weisen jedoch darauf hin, dass nach protestantischer Überzeugung die Freiheit keine absolute Autonomie des Menschen bedeutet, sondern sich dem Hören auf das Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Gnaden verdankt. „Frei sein heißt erkennen, dass Freiheit empfangen und aufgenommen wird, um sie mit anderen zu teilen ... Solche Freiheit kann nicht bei sich selber bleiben, sondern wendet sich Gott zu, dem sie sich verdankt, und den Menschen, damit sie an dem Geschenk der Freiheit teilhaben.“ (Leuenberger Texte 5 „Das christliche Zeugnis von der Freiheit“, Frankfurt/Main 1999, S.61). Eine Europäische Union, die sich als Wertegemeinschaft versteht, muss anerkennen, dass sie auf Voraussetzungen beruht, die sie sich nicht selbst schaffen kann. Darum sollte in einer künftigen EU-Verfassung in der Präambel ein Hinweis auf die Bedeutung der Religion für Europa enthalten sein. Die Absage an eine Verabsolutierung der politischen Macht kann durch einen ausdrücklichen Gottesbezug in der Präambel hergestellt werden.

6. Unsere Gemeinschaft von 103 Kirchen ist von einer großen Vielfalt hinsichtlich von Bekenntnis, Verfassung und Frömmigkeit geprägt. Diese Vielfalt haben wir immer als Bereicherung gesehen und die wachsende Gemeinschaft nicht als eine Nötigung zur Vereinheitlichung um jeden Preis betrachtet. Wir empfehlen auch der Europäischen Union, die kulturelle Vielfalt ihrer Mitgliedsländer zu erhalten und zu fördern. Als Kirchen liegt uns insbesondere daran, dass die jeweiligen rechtlichen Regelungen für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche gegenüber einer möglichen Tendenz zur Harmonisierung und Regulierung geschützt bleiben und die Kirchen und Religionsgemeinschaften weiterhin die Freiheit zur Selbstbestimmung im Rahmen des jeweiligen nationalen Staatsrechts die Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten behalten.

7. Wir weisen auf die vielfältigen weiteren Stellungnahmen aus den Mitgliedskirchen unserer Kirchengemeinschaft und aus anderen kirchlichen Zusammenschlüssen hin, insbesondere auf die Europäische Ökumenische Kommission für Kirche und Gesellschaft bei der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) in Brüssel, die die Arbeit des Konvents intensiv verfolgt.


Straßburg, 22.6.2002

Der Exekutivausschuss der Leuenberger Kirchengemeinschaft:
Prof. Dr. Elisabeth Parmentier (Straßburg): Geschäftsführende Präsidentin,
Präsident Pfr. Thomas Wipf (Bern), Prof. Dr. Michael Beintker (Münster): Ko-Präsidenten;
Direktor Pfr. Dr. Peter Bukowski (Wuppertal), Oberkirchenrat Dr. Michael Bünker (Wien), Pfr. Dr. Nigel Collinson (London), Oberkirchenrätin Doris Damke (Bielefeld), Konsistorialrat Pfr. Piotr Gaš (Szczecin/Polen), Präsident Dr. Friedrich Hauschildt (Hannover), Generalsekretärin Ane Hjerrild (Kopenhagen), Pfarrerin Fleur Houston (Oxford), Bischof Dr. Mihály Márkus (Táta/Ungarn), Prof. Dr. Willy Willems (Brüssel);
Präsident Dr. Dr. h. c. Wilhelm Hüffmeier (Berlin): Leiter des Sekretariates