Feierliche Waffenweihen und Kriegsgebete
So verhielten sich die deutschen Protestanten im Ersten Weltkrieg
Dicht an dicht gedrängt sitzen Menschen in der Kirche „Zum Guten Hirten“ in Berlin-Friedenau. Doch noch immer begehren zahlreiche Menschen Einlass in das ohnehin schon voll besetzte Gotteshaus. Um die Wartenden nicht abweisen zu müssen, werden die nicht beschäftigten Pastoren aus ihren Studierstuben geholt.
Im Gemeinde- und Jünglingssaal werden zusätzliche Gottesdienste abgehalten, die Menschen stehen bis zur Tür heraus. „Ein Abendgottesdienst war ursprünglich geplant, dann noch Vormittagsgottesdienst. Fünf Gottesdienste haben wir gehalten“, notiert der Pfarrer der Gemeinde.
Es ist der 5. August 1914 – der erste angeordnete „Kriegsbettag“. Vier Tage ist es her, dass Kaiser Wilhelm II. nach Ablaufen des Ultimatums an Russland die Mobilmachung des deutschen Heeres und der Flotte befohlen hat. Vier Tage, seitdem Tausende Menschen daraufhin vor dem Berliner Schloss in einer Form religiöser Ergriffenheit den Choral „Nun danket alle Gott“ angestimmt haben. Das „August-Erlebnis“ eint das deutsche Kaiserreich.
Nationale Euphorie und überschießender Patriotismus
Sowohl evangelische als auch katholische Christen im Deutschen Kaiserreich befürworten in großer nationaler Euphorie und überschießendem Patriotismus den Krieg. Ein Krieg, der dem Deutschen Kaiserreich im Zuge einer Verschwörung der Feinde angeblich aufgezwungen worden sei, wie es der Berliner Hof- und Domprediger Bruno Doehring am 2. August 1914 bei einem spontanen Gottesdienst auf den Stufen des Reichstagsgebäudes formuliert hatte.
Die „bedrohte deutsche Erde, die bedrohten deutschen Frauen und Kinder und eine überlegen hoch stehende, deutsch-christliche Kultur“ müssen außerhalb der Grenzen des Kaiserreichs verteidigt werden, so der Tenor der propagandistischen Kriegspredigten.
Eine Art religiöse Hochstimmung begleitet den Kriegsbeginn. „Unser Volk wird durch den Krieg in seiner Gesamtheit wieder religiös. Abertausende lernen unter der Sorge um das Vaterland und unter der Sorge um die Ihren wieder beten“, predigt Pfarrer Karl Schwarzlose in der Frankfurter St. Katharinen-Kirche. Seine Vermutung: Selbst die Wiederkehr des Heilands Jesus Christus mit seinen Heerscharen der Engel hätte das deutsche Volk nicht so schnell vom Ernst des Lebens ergriffen wie die Worte des Kaisers. „Das zündete hinein bis in die tiefsten Tiefen unserer Volksseele; das holte die darin schlummernde Religiosität, die ureigentlich zum deutschen Wesen gehört, wieder heraus und stellte beim Ernst des Augenblicks unser Volk auf das richtige Fundament, auf das Fundament der Frömmigkeit, der Gottesfurcht, des Gottvertrauens.“
„Die Kirche ließ sich ganz nah bei den Thronen und in den Palästen nieder“
Kaiser und Kirche kämpften Seite an Seite. Diese Allianz zwischen Thron und Altar von Seiten der evangelischen Kirche, der immerhin zwei Drittel aller Deutschen im Kaiserreich angehörten, folgte der Tradition der Reformation.
Seitdem die damals auf sich allein gestellten Protestanten Schutz und Schirm bei ihren jeweiligen Landesherren gefunden hatten, bekamen diese als Dank auch den Ehrentitel des obersten Kirchenherrn. So war Kaiser Wilhelm II. als preußischer König zum Beispiel oberster Bischof (summus episcopus) der evangelischen Kirche Preußens.
„Die Kirche ließ sich ganz nah bei den Thronen und in den Palästen nieder, nicht jedoch in den Hütten, nicht in den Werkstätten und Fabriken, wo doch nach christlicher Ursprungsprägung ihr eigentlicher Ort hätte sein sollen“, urteilt Manfred Gailus, Historiker an der TU Berlin.
Kirchengemeinden spenden für die Front, Gottesdienstbesucher zeichnen Kriegsanleihen
Wobei Gailus auch einschränkt, dass es schwierig sei, von „der“ evangelischen Kirche zu sprechen – meist sei die preußische Kirche als größte der Landeskirchen gemeint. Denn die Struktur des deutschen Protestantismus im Kaiserreich ist kompliziert: es gibt Lutheraner, Reformierte und Unierte, die sich in etwa drei Dutzend Landeskirchen organisiert haben.Statt mit der politischen Einigung 1871 auch eine Vereinigung der Landeskirchen zu einer evangelischen Nationalkirche herbeizuführen, beharrte man laut Manfred Gailus lieber auf dem Status Quo.
Trotz dieser innerkirchlichen Zersplitterung habe es eine Art National-Protestantismus gegeben, der Nationalismus und Religion stark vermischt habe. „Das liegt daran, dass es bei den Protestanten im Gegensatz zu den Katholiken keine übernationale protestantische Weltkirche gab. Die Nation diente als Bezugspunkt und Orientierungsrahmen“, erklärt Gailus. Und so ist es wenig verwunderlich, dass überall kämpferische Kriegspredigten von den Kanzeln erschallen und sich viele Pfarrer als Feldgeistliche an die Front versetzen lassen. Kirchengemeinden spenden für die Front, Gottesdienstbesucher zeichnen Kriegsanleihen. Der Krieg wurde Gailus zufolge „freudig begrüßt, nach Kräften religiös überhöht und materiell unterstützt“.
An der Front halten manche Feldgeistliche „feierliche Waffenweihen“ inklusive eines eigens gedichteten Kriegsgebetes ab. Pfarrer Ludwig Wesselzum Beispiel fragt die jungen Soldaten an der Ostfront in einem heiligen Gelöbnis: „Wollt ihr mit euren Leibern decken und schützen unser teures Vaterland, Heimat und Herd, Vater und Mutter, Weib und Kind, Braut und Schwester und alles, was deutsch ist? So antwortet und gelobet: Ja, wir wollen es mit Gottes Hilfe!“
„Für die Christentums-Geschichte ist der Erste Weltkrieg eine Katastrophe“
Der übersteigerte Patriotismus der Kirchen war allerdings kein deutsches Phänomen: Ähnliche Töne wurden von der anglikanischen Kirche von England und von französischen Katholiken und Protestanten angeschlagen. „Für die Christentums-Geschichte ist der Erste Weltkrieg eine Katastrophe“, urteilt Manfred Gailus, „alle Kriegsparteien kämpften unter Berufung auf Glaube, Gott und Kirche. Alle riefen den Höchsten als Ihren Bundesgenossen an. In allen Ländern haben die Kirchen versagt.“
Im Verlauf des Krieges bleibt man innerhalb der evangelischen Landeskirchen lange Zeit diesem Kurs treu. So sagt Bruno Doehring, der während des Krieges in Berlin oft vor 2.000 bis 3.000 Menschen predigte, noch im April 1917 überheblich: "Würde man uns Deutsche so hassen, würde die Gemeinheit der ganzen Welt so einhellig sich gegen uns erheben, wenn man nicht den dringenden Verdacht hegte: wir wären am Ende doch das Volk, das am ehesten vor allen anderen, […] befähigt sein müsse, dem Recht auf Erden zum Siege zu verhelfen?"
Die enge Verzahnung von Thron und Altar bricht auseinander
Mit dem Waffenstillstand von Compiègne wird am 11. November 1918 die deutsche Kriegsniederlage besiegelt. „Für die preußisch-deutschen Protestanten war das ein schmerzlicher Absturz aus großer Höhe“, so Gailus. Denn mit der Abschaffung der Monarchie und des Adels verlieren die protestantischen Landeskirchen ihre jeweiligen Oberhirten – die enge Verzahnung von Thron und Altar bricht auseinander. „In der Umbruchzeit 1918 bis 1919 hatten die Kirchen Angst, dass es ihnen nun so an den Kragen gehen würde, wie es mit der orthodoxen Kirche in Russland ein Jahr zuvor geschehen ist“, erläutert Gailus. Diese Befürchtung bewahrheitet sich jedoch nicht: Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 hebt zwar das Staatskirchentum auf und besiegelt die Trennung von Staat und Kirche, greift die Kirche aber nicht in ihrer Substanz an. „Die kirchliche Stimmung war viel schlechter als deren tatsächliche Lage“, schlussfolgert Historiker Gailus.
Mit der demokratischen Republik und den „gottlosen“ Sozialdemokraten an der Macht tun sich viele Protestanten schwer. Statt der neuen, schwarz-rot-goldenen Reichsflagge hisst man lieber die neu eingeführte Kirchenfahne und die alte kaiserliche schwarz-weiß-rote Reichskriegsflagge. „Im Politischen galt unausgesprochen die Devise: Die Kirche ist neutral, Pfarrer und Kirchenvolk wählen aber bitte deutschnational“, so Manfred Gailus. Aus dieser Gemengelage heraus gewinnt die christlich-konservative und national-völkische Strömung unter den Protestanten an Dynamik und bereitet wohl der nationalsozialistischen Ideologie den Weg.
Lena Ohm (evangelisch.de)