Gemeinsame Erklärung der Kirchen zu 75 Jahre Befreiung Auschwitz
Erklärung des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, und des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 2020
Am 27. Januar 2020 begehen wir den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetischen Truppen. Im Konzentrationslager Auschwitz, dem größten KZ, das die Nationalsozialisten errichtet hatten, und vor allem im angegliederten Vernichtungslager Birkenau wurde mehr als eine Million Menschen zu Tode gebracht. Die meisten von ihnen waren Juden, darüber hinaus fielen auch Teile der polnischen Intelligenz, sowjetische Kriegsgefangene, Sinti und Roma, Kommunisten und homosexuelle Männer dem System von Ausbeutung und Vernichtung zum Opfer. Der Name „Auschwitz“ steht für das systematische Massenmorden, das während des Zweiten Weltkriegs in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten Europas verübt wurde.
Die Erinnerung an den millionenfachen Mord in Auschwitz erfüllt uns bis heute mit tiefer Trauer. Aber der 27. Januar ist, recht verstanden, auch ein Tag, für den wir Dankbarkeit empfinden. Denn er handelt davon, dass den Verbrechen ein Ende gesetzt wurde. Zusammen mit dem 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, erinnert der Gedenktag auch an die Überwindung eines politischen Systems, das keinerlei Respekt für das Leben und die Würde des Menschen kannte und die Ausrottung ganzer Menschengruppen zum Programm erklärte und systematisch organisierte. Das Gedenken am 27. Januar eines jeden Jahres führt uns vor Augen, dass eine durch menschliches Wollen geschaffene Mordmaschine durch menschliches Wollen gestoppt wurde.
Vor allen Opfern verneigen wir uns. Ihr Andenken darf weder den heute lebenden Generationen noch den künftigen gleichgültig werden. Denn es wäre ein Verrat an den geschundenen und ermordeten Menschen und es wäre zugleich ein Verrat an den Werten der menschlichen Zivilisation, würden wir das Leiden und Sterben von Auschwitz im Nebel der Geschichte versinken lassen.
Der Versuch einer Auslöschung der europäischen Juden ist in Deutschland unlösbar mit dem Ortsnamen „Auschwitz“ verbunden. In besonderer Weise erinnern wir deshalb anlässlich des Jahrestags der Befreiung dieses Lagers an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Mehr als sechs Millionen Juden kamen unter seiner Herrschaft gewaltsam zu Tode, und die jüdische Traditionslinie der europäischen Kultur wurde weitgehend getilgt. Der in Europas Geschichte stets virulente und immer wieder grausam aufflackernde Judenhass war im NS-Staat in einen absoluten Vernichtungswillen gemündet.
Als Deutsche und als Christen blicken wir mit bleibender Anspannung auf die dunkelsten Stunden unseres Volkes. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine viel größere Zahl unserer Landsleute an den Verbrechen beteiligt war, als die allermeisten sich eingestehen wollten. Nicht wenige Deutsche profitierten von der Ausbeutung der bereits vor dem Krieg entrechteten Juden. Viele verharrten in Gleichgültigkeit angesichts der kursierenden Nachrichten über die an den Juden verübten Grausamkeiten. Und noch viel mehr waren infiziert vom Ungeist der Geringschätzung gegenüber den Juden, von Verachtung und Hass, die staatlicherseits mit größtem Nachdruck propagiert wurden. Uns Heutigen ist Zurückhaltung im Urteil über die damals Lebenden abverlangt. Wir wissen, dass viele von ihnen weder dem Druck noch der Desinformationspolitik des allgegenwärtigen totalitären Regimes gewachsen waren. Aber die Geschichte und die Geschichten von Recht und Unrecht, von Courage und Feigheit müssen weitererzählt werden, damit Verderben und Schuld sich nicht erneut unseres Volkes und auch anderer Völker bemächtigen können.
Dabei wird der Blick immer wieder auch auf die Kirchen fallen. Vereinzelt gab es, wie auch in anderen Teilen der deutschen Bevölkerung, echten Heldenmut. Hochachtung empfinden wir gegenüber jenen, die gegen den Rassenwahn und das System der Menschenfeindlichkeit aufgestanden sind – manches Mal selbst um den Preis des Martyriums. Doch dürfen wir nicht darüber hinwegsehen, dass viele Christen mit dem nationalsozialistischen Regime kollaboriert, zur Verfolgung der Juden geschwiegen oder ihr sogar Vorschub geleistet haben. Auch Verantwortliche und Repräsentanten der Kirchen standen oft mit dem Rücken zu den Opfern. Es besteht kein Zweifel: Zu dieser Schuldgeschichte müssen sich die Kirchen in Deutschland bekennen.
Nicht zuletzt mussten die Kirchen nach Auschwitz über ihre eigene Haltung gegenüber den Juden nachdenken. Dabei ist deutlich geworden, dass der Antijudaismus, die Ablehnung der Juden aus religiösen Gründen, über Jahrhunderte hinweg die europäische Kultur geprägt hat. Der tief auch in den Kirchen verwurzelte Judenhass der früheren Zeiten nährte den Judenhass der Moderne. Auch diesem Schulderbe müssen sich die Kirchen stellen.
In den Jahrzehnten nach der Shoa hat sich in Deutschland, aber auch in Europa und in anderen Teilen der Welt vieles verändert. Der Judenmord der Nationalsozialisten wurde als ein Zivilisationsbruch erkannt, der in der Geschichte ohne Parallele ist. Dass er von einem Land mit jahrhundelanger christlicher Prägung, mit humanistisch-aufklärerischer Bildungstradition und Kultur ausging, führte allen vor Augen, wie brüchig die Grundlagen der Menschlichkeit zu allen Zeiten sind. So ist Auschwitz zum Symbol für die schauerlichsten Abgründe des Menschen, für die dunkelsten Möglichkeiten unserer europäischen (und aller) Zivilisation geworden. Deshalb wird die Shoa inzwischen fast überall in der Welt erinnert. Es ist ein Gedenken um unser aller Zukunft willen.
Auch die Kirchen haben nach 1945 sich ihrer langen Geschichte des Antijudaismus gestellt und ihr Verhältnis zum Judentum theologisch neu bestimmt. Dass schon wenige Jahre nach der Shoa auch in Deutschland Juden das offene und ehrliche Gespräch mit Christen gesucht haben, erfüllt uns bis heute mit tiefer Dankbarkeit. So konnte in den vergangenen Jahrzehnten eine Kultur des offenen Dialogs und des gegenseitigen Respekts entstehen. Wir durften dabei erkennen, dass Christen und Juden – bei allen bleibenden Unterschieden – auch im Glauben miteinander verbunden sind und sich deshalb Brüder und Schwestern nennen.
Umso mehr muss uns entsetzen, dass der Judenhass mittlerweile wieder stärker hervortritt – in vielen Ländern, aber trotz unserer Geschichte auch in Deutschland. Neben den aus neonazistischem Geist gespeisten Antisemitismus, der in manchen Kreisen wieder sein Haupt erhebt und wie erst jüngst beim Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) zunehmend gewalttätiger wird, tritt unter einer Minderheit der Muslime eine Judenfeindlichkeit auf, die religiöse mit politischen Motiven verbindet. Gemeinsam mit dem Staat sind alle in unserer Gesellschaft – Christen, Muslime, Anders- und Nichtglaubende – aufgerufen, dem Judenhass in all seinen Formen und bei jedem Anlass entschlossen entgegenzutreten.
Als Vertreter unserer Kirchen sagen wir: Unsere jüdischen Brüder und Schwestern müssen angesichts unseres Verhaltens überzeugt sein können, dass die Christen an ihrer Seite stehen, wann immer sie diffamiert, eingeschüchtert oder angegriffen werden. Diese Haltung sind wir der Einsicht in die Geschichte und unserem eigenen Glauben schuldig.