Gemeinschaft wird hier großgeschrieben
Zu Besuch in der Evangelischen Grundschule Freienseen (Hessen)
Jemand klatscht, ganz laut und rhythmisch. Jemand anderes macht mit, noch im Laufen die Treppe hinunter. Dann auf einmal ganz viele, Kinder und Lehrkräfte. Bis ganz bald alle klatschen und sämtliches Reden und Lachen verstummt. Und das soll es auch. Auf einmal sind alle konzentriert und schauen auf Schulleiterin Eva Walldorf, die leise zu sprechen beginnt, sobald es still ist: Wie jeden Morgen fängt der Morgenkreis, den die ganze Grundschule Freienseen gemeinsam feiert, mit einem Lied an, das Eva Walldorf ankündigt. Dann gibt es „Ansagen“ von allen, die etwas mitzuteilen haben: Heute ist Fußballpause. Und es wird festgelegt, wer in der Pause ans Klavier darf. Und dann gibt es noch ein Lied.
So beginnt ein ganz normaler Dienstag in Freienseen, einem Stadtteil der ländlichen Gemeinde Laubach im hessischen Landkreis Gießen, am Rande des Naturparks Vogelsberg. Früher gab es hier, wie in den meisten Dörfern eine traditionelle Dorfschule. Als die zugemacht wurde, mussten die Kinder aus dem Dorf weit fahren. Die Menschen aus Freienseen wollten ihre Dorfschule zurück. Unterstützung fanden die rund 100 Eltern in der dafür gegründeten Initiative beim evangelischen Pfarrer vor Ort. Ulf Häbel war es auch, der das Anliegen schließlich auf der Synode der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau vor 20 Jahren zur Sprache brachte. Da hatten alle möglichen anderen Träger schon abgewunken. Die evangelische Landeskirche aber sagte „ja“ zur neuen Dorfschule von Freienseen.
Los ging's dann erstmal in Räumen des Pfarrhauses, bis der Neubau stand. Das zuständige Schulamt brachte das stufenübergreifende, also altersgemischte Konzept ins Spiel – damit überhaupt genug Schülerinnen und Schüler zusammenkommen konnten. So wurde die Evangelische Grundschule Freienseen zur „Jenaplan-Schule“. Der Jenaplan ist ein reformpädagogisches Konzept, das, ähnlich der Montessori-Pädagogik, ein großes Augenmerk auf die Einzigartigkeit jedes Kindes legt. Zusätzlich wird hier aber noch ein starkes Gewicht auf die Gemeinschaft der Lernenden gelegt. „Miteinander sprechen, teilen, spielen und zusammenarbeiten, das macht eine Jenaplanschule zu einer Lebensgemeinschaftsschule“, heißt es im Schulprogramm. Das bedeutet: Gemeinschaft wird hier großgeschrieben.
Arbeit in Gruppen
Der zweite Morgenkreis des Tages findet in der „Stammgruppe“ statt. Die „Stammgruppe“ ist das, was in anderen Schulen die Klasse ist. In den Stammgruppen in Freienseen allerdings finden sich Kinder aus den Jahrgangsstufen eins bis drei, bei den Älteren aus den Jahrgangsstufen vier bis sechs zusammen. Dieser Morgenkreis wird von einem der Kinder geleitet. Es wird festgestellt, was für ein Tag heute ist, wer fehlt – und nicht zuletzt, wie es jedem geht. Das erzählen alle reihum. Warum es ihnen schlecht geht, das müssen sie nicht preisgeben, wohl aber, wie es prinzipiell um sie bestellt ist. Das ist wichtig für die Gemeinschaft.
Und dann geht es an die Arbeit. Die Kinder suchen sich einen Platz – ob am Tisch, auf dem Teppich, in der Sofaecke draußen oder anderswo – und vertiefen sich in ihre Aufgaben. Eine Dreiergruppe zum Beispiel macht ein Rechenspiel: Zwei jüngere Schüler rechnen um die Wette, ein älterer verteilt die Punkte. Einige lesen nacheinander im Nebenraum einer „Lesemama“ vor, wieder andere beraten gemeinsam, wie das Zahlenpuzzle zu lösen ist. Bei Fragen und Problemen stehen immer mindestens zwei Betreuungskräfte (Lehrer/in oder Pädagoge/in) pro Stammgruppe zur Verfügung. Geschäftiges Treiben herrscht.
Hausaufgaben mit Baukastensystem
Einen Raum weiter hingegen ist es ganz still. Lehrerin Barbara Muthmann steht in der Mitte zwischen den Gruppentischen und lacht: „Das ist jetzt aber nicht repräsentativ, diese Ruhe!“ Die Kinder hier sitzen an einer Rechtschreibübung. Die ist zwar nach Alter differenziert, aber dennoch arbeitet die gesamte Gruppe nun zum Thema „Rechtschreibung“. „Es ist wichtig, dass wir bei den vielen unterschiedlichen Themen immer wieder auch Sammlungsphasen dazwischen haben, in denen es etwas ruhiger ist“, meint Barbara Muthmann. Dann schaut sie auf das Arbeitsblatt und stutzt. „Oh, ich habe einen Fehler gemacht. Findet ihr ihn? … Spinnen spinnen Spinnenspinnennetze – irgendwo sind da ein paar Spinnen zuviel…“ grinst sie. Gelungene Fehlerkultur.
Im Anschluss holen sich die Kinder ihre individuellen Aufgaben aus den für sie vorbereiteten Fächern, denn Frau Muthmann möchte mal wieder den Lernstand erheben. Da kommt Noahs Papa. Sein Sohn ist krank, deshalb holt er den Hausaufgabenplan für diese Woche ab. Den gibt es dienstags, zusammengestellt aus einem Baukastensystem, speziell für jedes Kind. Gleich ist Frühstückspause. Einzelne Kinder eilen zu den Lehrkräften, um die Ergebnisse der Stunde zu besprechen. Pascal zeigt stolz auf die Tür. Dort prangt ein selbstgemalter Falke, mit seinem Bild drin. „Wildnisforscher“ hieß das Projekt. „Aber das sind nicht alles Wildtiere…“, doziert er wissend und zeigt auf ein Pferd und einen Pilz.
Das Frühstück wird dann wieder im Kreis in der Sitzecke verspeist, gemeinsam. Danach gibt es eine „stille Minute“. Ein Kind darf die Uhr kontrollieren. „Eingeführt haben das die Kinder“, erzählt Schulleiterin Eva Walldorf später: „Es war ihnen ein Bedürfnis.“ Dann aber geht es raus auf's Pausengelände, eine halbe Stunde toben – und richtig laut sein! Bis wieder jemand anfängt zu klatschen.
Das Jenaplan-Konzept sieht vier Basisaktivitäten im Schulalltag vor: Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier. Keine davon darf zu kurz kommen. Gefeiert wird auch in Form von Gottesdiensten. Es gibt Einführungsgottesdienste zum Schulanfang und Abschlussgottesdienste zum Ferienbeginn, aber auch zu den kirchlichen Festen wie Weihnachten und Ostern. An denen müssen auch alle teilnehmen, die Bereitschaft dazu ist die einzige Aufnahmevoraussetzung an der Schule. Das gilt auch für den evangelischen Religionsunterricht. Dort wird zu Beginn gebetet, aber immer anders: Mal gibt es eine Zeit der Stille, mal wird ein Stein herumgegeben, verbunden mit einem Dank und einer Bitte, mal werden die Gebete aufgeschrieben und anschließend verbrannt. Auch verschiedene Gebetshaltungen werden ausprobiert. Probleme hat damit niemand. Die katholischen oder konfessionslosen Kinder nicht – und auch nicht die zwei muslimischen Mitschüler, die es im Dorf gibt.
„Wir gehen davon aus, dass Lernen immer in Beziehungen stattfindet“
Gefeiert wird auch bei den regelmäßigen Monatsfeiern. An diesen, fest im schulischen Leben verankerten Terminen, werden den Eltern, Verwandten, Freunden und dem Rest der Schulgemeinde die erarbeiteten Inhalte präsentiert. Die Kinder entwerfen Plakate, üben Rollenspiele ein, tragen Gedichte vor, zeigen Versuche. Und natürlich wird auch wieder viel gemeinsam gesungen. Denn Gemeinschaft wird hier groß geschrieben. „Kinder müssen nicht in Schubladen passen, sondern sie bereichern die Gemeinschaft gerade durch ihre Einzigartigkeit“, hebt Schulleiterin Walldorf hervor. „Das ist für mich ganz besonders evangelisch: Es ist die Konsequenz daraus, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist – als einzigartiges Individuum UND als Gemeinschaftswesen. Wir gehen davon aus, dass Lernen immer in Beziehungen stattfindet“, erläutert Walldorf weiter, „also auch in Gruppen. Unser Ziel ist, dass die Kinder sich in all ihrer Unterschiedlichkeit als Gruppe, als Gemeinschaft erleben. Wir nennen das ein „fruchtbares Bildungsgefälle“. Die Kinder verändern im Laufe der Zeit ihre Rolle innerhalb der Gruppe. Schon nach einem Jahr gehören sie durch die Altersmischung nicht mehr zu den Kleinsten, wenn die Neuen dazu kommen. Wir erleben, dass sie dann auch mehr Verantwortung übernehmen wollen. Und dass sie mehr Verständnis füreinander haben, weil sie sich erinnern, wie es bei ihnen selbst war.“
Nach der Pause steht „Englisch“ auf dem Programm. Auch hier beginnt alles mit einem Sitzkreis, in dem jeder erzählt, wie es ihm geht. Auch die Lehrerin. Aber möglichst auf Englisch. Warum nochmal? Weil es eine neue Gruppe ist, die da zusammenkommt. „Die Schülerinnen und Schüler stammen aus unterschiedlichen Stammgruppen, aber alle aus der Jahrgangsstufe vier“, erläutert Lehrerin Doris Kuhl. „In Englisch und später auch in Mathematik differenzieren wir nämlich ausnahmsweise nach Altersgruppen. Wir richten uns nach dem landesweiten Curriculum - und in diesen Fächern bauen die Inhalte zu sehr aufeinander auf, da stößt das altersgemischte Konzept an seine Grenzen.“
Dann wird Bingo gespielt, mit selbst gemachten Bingo-Tafeln, Kronkorken und Begriffen aus dem Bereich „Breakfast“. So wird gleich alles auf einmal trainiert: Schreiben, Lesen, Aussprache, Hören-Verstehen - und natürlich Konzentration. Außerdem macht es Spaß. Zeit für so etwas ist genug vorhanden, denn die Unterrichtsblöcke in Freienseen dauern prinzipiell 90 Minuten. Damit soll, ganz im Sinne des Konzepts, ein auseichend großer Beziehungsraum zur Verfügung gestellt werden, auch zeitlich. Aus dem gleichen Grund gibt es auch Raum für Eigeninitiative. So ist zum Beispiel der Verkaufsstand entstanden, der immer freitags fair gehandelte Schokolade und Nüsse in der Pause verkauft - aus einem Projekt heraus. Nun organisieren die Schülerinnen und Schüler den Verkauf. Genau wie im Schulladen, der alle mit den nötigen Schreibwaren versorgt. Gäbe es den nicht, müsste man für jeden Bleistift in die Stadt fahren.
Wissen um Stärken und Schwächen
Aber trotz allem müssen doch die Leistungen der Schülerinnen und Schüler überprüft werden, oder? Schulleiterin Eva Walldorf lächelt. „Dafür haben wir die Lernbäume.“ Die umreißen die zu erarbeitenden Inhalte – und füllen sich im Laufe der Zeit, in keiner festen Reihenfolge, je nachdem, wie das jeweilige Kind arbeitet. In den „kleinen“ Stammgruppen gibt es darüber hinaus keine Arbeiten, Klausuren oder gar Noten. Es gibt Tests, aber hauptsächlich lernen die Schülerinnen und Schüler sich selbst einzuschätzen, mit ihren Stärken und Schwächen. Das Zeugnis besteht aus zwei DIN-A4-Seiten mit verbaler Beurteilung, bis zur sechsten Jahrgangsstufe. Ab der vierten werden dann Arbeiten geschrieben, ab dem zweiten Halbjahr gibt es Noten und es kommt ein zusätzliches Ziffernzeugnis hinzu. Schließlich steht für die Allermeisten ab der Jahrgangsstufe sieben der Wechsel auf eine Regelschule mit „normalen“ Noten an.
„Allerdings merken wir genau, dass sich ab dem Zeitpunkt, ab dem es Noten gibt, die Motivation der Kinder verschiebt. Sie lernen viel weniger aus Neugier und Interesse an der Sache heraus, sondern sie wollen Leistungen um der Noten willen erbringen. Das ist schon etwas schade“, erzählt Walldorf. „Aber offenbar haben unsere Kinder trotzdem einen ganz entscheidenden Vorteil,“ ergänzt ihre Schulleitungskollegin Tina Specht, „das bekommen wir immer wieder mit: Wenn sie auf den weiterührenden Schulen sind, sind die Noten dort nicht so ein großes Thema für sie. Wo es bei anderen schon mal Tränen gibt, wenn sie eine schlechte Zensur kassieren, tragen die Kids, die aus Freienseen kommen, das meist mit Fassung. Denn sie wissen einfach um ihre Stärken und Schwächen. Wenn sie in einem Fach nicht so stark sind, sind sie dafür ja in der Regel in einem anderen gut. Sie können sich selbst hervorragend einschätzen und haben auch ein ganz tolles Selbstwertgefühl.“
Die Befähigung zu Empathie und Selbstwirksamkeit
Und so ist Konkurrenz auch kein großes Thema in der evangelischen Grundschule Freienseen. Im Gegenteil: Was der Schulgemeinde besonders wichtig ist, ist die „Friedensarbeit“ an der Schule. „Das gehört auch zu unserem evangelischen Profil“, erklärt Eva Walldorf. „Und das ist ein Stück Demokratiekompetenz, das wir einüben.“ So gibt es zum Beispiel einmal in der Woche einen fest eingeplanten „Gruppenrat“ in der Stammgruppe. Hier werden Vorhaben und Projekte geplant, Wünsche und Anregungen an das Schulteam formuliert – aber eben auch Konflikte geklärt. Je älter die Kinder sind, umso mehr wird ihnen die Organisation und Leitung dieser Prozesse überlassen. „Ziel ist dabei immer die Befähigung zu Empathie und Selbstwirksamkeit“, heißt es im Schulprogramm.
Was das konkret heißt? „Wir nutzen immer die Gruppenöffentlichkeit“, erläutern Specht und Walldorf. Das heißt, dass Fragen gestellt werden, wie: „Warum hast du das getan?“ und „Was brauchst du, damit du damit umgehen kannst?“ Und dass das immer der ganzen Gruppe überantwortet wird. „Natürlich ist das ein langer und mitunter schwieriger Lernprozess,“ erklärt Walldorf, „aber irgendwann funktioniert das tatsächlich und Konflikte werden gemeinsam geklärt, weil den Kids die Gruppe als solche eben wichtig ist. Darauf sind wir richtig stolz!“ Denn Gemeinschaft wird nun mal großgeschrieben an der evangelischen Grundschule Freienseen.
Claudius Grigat (evangelisch.de)
Serie von evangelisch.de