Neue EKD-Bevollmächtigte: Kirche ist mehr als Interessenvertretung
Anne Gidion ist das neue Gesicht der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Berlin
Berlin (epd). Anne Gidion ist das neue Gesicht der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Berlin. Als Bevollmächtigte der EKD vertritt sie gegenüber Regierung und Parlament die Interessen ihrer Kirche und ist zugleich Seelsorgerin für Abgeordnete und Regierungsmitglieder. Am Freitag (21. Oktober 2022) wird sie offiziell ins Amt eingeführt. Mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht sie über die aktuellen Herausforderungen für die Kirche, über Staatsleistungen und Pazifismus und warum sie sich als Frau einen Lutherrock schneidern lässt.
epd: Sie sind die neue Diplomatin der evangelischen Kirche im Berliner Regierungsviertel. Wie fängt man so eine Stelle an?
Anne Gidion: Ich habe das Glück, anknüpfen zu können. Ich habe schon einmal an einem 1. Oktober - im Jahr 1999 - in diesem Haus meinen Dienst begonnen, damals als Referentin des EKD-Bevollmächtigten Stephan Reimers. Bei allem, was sich in den genau 23 Jahren verändert hat, gibt es also auch ein Element von Wiedererkennung. Das hilft.
Sie sind die erste Frau in diesem Amt. Ist das noch eine Erwähnung wert?
Gidion: Ich finde es zumindest ganz schön, dass jetzt überall „die Bevollmächtigte“ steht. Die entscheidende Qualifizierung für das Amt liegt aber natürlich nicht in meinem Geschlecht, sondern in meiner Vita und den Fähigkeiten, die ich mitbringe.
Bei Ihrer Berufung haben Sie gesagt, die evangelische Kirche werde sich „gesamtgesellschaftlich neu positionieren müssen“. Wie meinen Sie das?
Gidion: Ich schlage noch einmal den Bogen zu 1999: Damals zog die Bonner Republik nach Berlin. Man hatte die mythische Vorstellung, es würde evangelischer werden - auch durch den politischen Drive, den die evangelische Kirche in die Wiedervereinigung gebracht hatte. Diese Protestantisierung des öffentlichen Lebens ist nicht eingetreten. Vielmehr ist alles bunter und diverser geworden
Ist Kirche also unter all den Organisationen, die in Berlin Einfluss nehmen wollen, nur noch eine unter vielen oder macht sie etwas Besonderes aus?
Gidion: Die evangelische Kirche darf den politischen Raum betreten, sie ist mehr als eine Interessenvertretung. Mit den politisch Handelnden ist sie auf unterschiedlichen Ebenen im direkten Kontakt, auch durch die Andachten im Bundestag und durch das Angebot seelsorgerlicher, vertraulicher Gespräche.
Immer weniger Menschen - und damit auch Abgeordnete, Staatssekretäre und Ministerinnen - gehören einer Kirche an. Kanzler Olaf Scholz und mehrere Kabinettsmitglieder verzichteten auf die religiöse Formel beim Amtseid. Schmerzt Sie das?
Gidion: Daran hängt es für mich nicht. Es gibt auch Christinnen und Christen, die diese Formulierung nicht benutzen. Ich finde es wichtiger, mit den Politikerinnen und Politikern verschiedener Couleur ins Gespräch zu kommen und dabei auch darüber zu reden, was sie trägt.
Sie haben also keine Befürchtung, im Zweifel auch Kanzler Scholz von Ihrer Position überzeugen zu können?
Gidion: Ich freue mich jedenfalls, mit Kanzler Scholz an Gespräche aus Hamburger Zeiten anknüpfen zu können. Ich habe es bislang so erlebt, dass die Politik dankbar ist für den Beitrag der Kirche zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die Kirchen - auch die evangelische - verlieren durch die Glaubwürdigkeitskrise im Zusammenhang mit Fällen sexualisierter Gewalt an Rückhalt. Wie sehr ist das eine Last für Ihre Arbeit?
Gidion: In unserer Kirche wurde Menschen Unrecht angetan und Leid zugefügt. Das schmerzt mich zutiefst. Verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, ist ein langer Prozess. Dazu gehört, dass wir die Menschen, denen im Raum unserer Kirche Leid angetan wurde, hören und unterstützen. In der EKD haben wir ein neues Beteiligungsforum etabliert, um die verbindliche Mitwirkung von Betroffenen bei Aufarbeitung und Prävention sicherzustellen. Die Mitarbeit dort gehört zu meinen Aufgaben und ist eine wirklich wichtige.
Sie beginnen Ihr Amt aber auch in einer politisch schwierigen Zeit: Durch den Krieg in der Ukraine wird auch in Deutschland aufgerüstet und gleichzeitig haben viele Menschen existenzielle Sorgen durch die hohen Energiepreise. Welche Rolle werden Sie als Stimme der evangelischen Kirche in diesen Debatten einnehmen?
Gidion: Das Thema treibt mich natürlich um und deswegen werde ich den Gottesdienst zum politischen Buß- und Bettag im Berliner Dom unter das Thema „Wärme“ stellen. Mir geht es darum, zu fragen, wie man mit Zusammenrücken, offenen Türen, wachsamer Wahrnehmung diejenigen unterstützen kann, die im Winter frieren werden - sowohl von politischer Seite als auch vonseiten der Kirchen.
Und das Thema Waffenlieferungen? Die evangelische Kirche ist seit dem Ukraine-Krieg in einer neuen friedensethischen Auseinandersetzung. Wo stehen Sie?
Gidion: Wir brauchen keine neue Friedensethik. Was bislang für die evangelische Kirche galt, hat seine Gültigkeit nicht verloren. Wir müssen aber unsere Grundsätze über den gerechten Frieden und die Rechtfertigung von Gewaltanwendung neu buchstabieren unter den Bedingungen eines in die Nähe gerückten Krieges.
Ist Pazifismus damit out geworden?
Gidion: Es muss auch die radikalpazifistische Position geben, weil das zur christlichen DNA gehört. Unsere Gründerfigur - Jesus - sagt nun einmal „Selig sind die Friedfertigen“. Das lässt sich schlecht auf einen Leopard-Panzer schreiben. Gleichzeitig ziehen auch in der Bibel Menschen gegen den Feind in den Krieg, um für die Sache zu streiten. Wir können uns nicht verstecken, wenn in Europa ein Land mit einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg überzogen wird, auch wenn es die christliche Seele und Praxis herausfordert.
Die Ampel-Koalition hat sich die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen vorgenommen. Womit rechnen Sie in dieser Wahlperiode?
Gidion: Ich finde es positiv, dass die Ampelkoalition das ausdrücklich im Gespräch mit den Kirchen vorantreiben will. Ich bin überzeugt: Es ist Zeit, nach über 100 Jahren endlich den Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staatsleistungen zu erfüllen. Die eigentliche Schwierigkeit liegt aber auf Ebene der Länder. Wenn es ein Bundesgesetz gibt, müssen die konkreten Ablöseregelungen zwischen Ländern und Landeskirchen verhandelt werden. Dort sind nach Corona die Kassen klamm, deswegen müssen wir über die Modalitäten reden.
Inwiefern?
Gidion: Wir sollten nicht nur über pekuniäre Ablösemodelle reden, sondern auch über Gebäude und Grundstücke.
Eine andere Aufgabe der Bevollmächtigten ist die Seelsorge für Abgeordnete und Regierungsmitglieder. Sie müssen jetzt also viele Kontakte knüpfen?
Gidion: Ich habe zum Amtsantritt an alle Abgeordneten, Verfassungsorgane, Bundesminister und Fraktionsvorsitzenden einen Brief geschrieben, in dem ich mich vorstelle. Meine erste Andacht im Bundestag ist am 10. November. Ich bin zuversichtlich, dass sich daraus Kontakte ergeben.
Es gibt auch Gottesdienste und Abgeordnetenfrühstücke als Angebot für die evangelischen Politiker. Halten Sie daran fest oder planen Sie etwas Neues?
Gidion: Wir planen auf jeden Fall weiter Abgeordnetenfrühstücke in Berlin und Brüssel. Ich suche aber auch nach Formaten, um konfessionslose Menschen im Politikbetrieb anzusprechen und den Menschen auch an anderen Orten als der Kirche zu begegnen. Ich möchte mich erkennbar und sichtbar als Seelsorgerin unter die Leute mischen. Das wird übrigens auch äußerlich erkennbar sein.
In welcher Form?
Gidion: Ich lasse mir gerade einen Lutherrock anfertigen. Klassisch kennt man ihn ja sonst eher bei Männern. Der Lutherrock ist für Geistliche ein gutes Zwischenstück zwischen Talar und dem üblichen Kostüm. Einige meiner Vorgänger haben ihn getragen. Auch ich werde das bei geeigneten Anlässen tun.
epd-Gespräch: Corinna Buschow