Bibelarbeit zu Lukas 18, 1-8 auf dem 34. Deutschen Evangelischen Kirchentag
Margot Käßmann
Liebe Kirchentagsteilnehmende,
guten Morgen! Schön, an diesem zweiten Tag zur Bibelarbeit zusammenzukommen. Erst einmal hoffe ich, Sie alle hatten einen rundherum gelungenen Abend der Begegnung. 1995 war hier in Hamburg der für mich erste Kirchentag als Generalsekretärin des Kirchentages. Es war kalt und regnete den gesamten ersten Abend. Ernst Benda, damals Präsident des Kirchentages sagte, als der Eröffnungsgottesdienst bei Schauerwetter und Kälte begann: „Frau Käßmann, das haben wir nicht verdient!“ Vor 18 Jahren, da waren viele, die heute dabei sind noch gar nicht geboren!, beschäftigte uns die Brent Spar, eine Ölplattform, die Shell versenken wollte. Es kam zu einem Boykott der Shell-Tankstellen. Und Ernst Benda, dem viele skeptisch gegenüberstanden als Präsident, weil er manchen Kirchentagsteilnehmenden als zu konservativ erschien, redete sich bei seiner Abschlussansprache in die Herzen der Teilnehmenden, weil er beherzt die notwendigen Fragen formulierte. Allerdings mussten wir beide anschließend zu einem sehr schwierigen Gespräch zum Shell-Konzern antreten... Heute ist Hamburg wieder eine wunderbare Kirchentagsstadt und ich bin gespannt, ob sich wieder ein Thema als Leitmotiv oder auch Zeitansage herausschält.
Aber erst einmal geht es um die Bibel. Das zeichnet ja den Kirchentag nach wie vor aus: jeder Tag beginnt mit Bibelarbeit! Erst danach, frisch gestärkt und gut orientiert also, geht es an die Themen von Kirche, Gesellschaft und Welt.
Ich freue mich, dass der Posaunenchor Genkingen meine Bibelarbeit wieder begleitet. Beim Bremer Kirchentag 2009 wollte ich gern mit den Anwesenden singen, musste das aber ohne musikalische Begleitung tun. Aus Genkingen kam hinterher ein Brief, der dortige Posaunenchor würde das gern möglich machen und so sind wir heute nach München und Dresden zum dritten Mal zusammen in der Gestaltung unter zusätzlicher Verstärkung aus Dettenhausen. Lassen Sie uns auch gleich mit einem Morgenlied beginnen.
Der Text für die Bibelarbeit heute Morgen stammt aus dem Lukasevangelium. In einem Gleichnis erzählt Lukas von einer Frau, die nervt. Das kann ja interessant werden! Aber hören wir erst einmal den Text, Sie können ihn mitlesen in Ihrem Programmheft.
1 Er sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten,
2 und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen.
3 Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!
4 Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue,
5 will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.
6 Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt!
7 Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er's bei ihnen lange hinziehen?
8 Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?
Lassen Sie uns eine Annäherung an den Text in dieser Bibelarbeit in drei Teilen erproben. Jeden Abschnitt werde ich beenden mit einem Gedicht von Dorothee Sölle [1]. Sie starb vor fast genau zehn Jahren, am 27. April 2003, letzten Samstag war ihr Todestag. Eine Frau, die für den Deutschen Evangelischen Kirchentag viel bedeutet hat. Viele ihrer Bibelarbeiten, einige davon mit Luise Schottroff haben Kirchentagsgeschichte geschrieben. Neben der Kämpferin war sie aber auch Poetin und die Gedichte, die sie uns hinterlassen hat, sie sind eindrücklich bis heute.
1. Kontext des Gleichnisses/Lukas
Der Evangelist Lukas hat sein Evangelium um das Jahr 80 nach Christus verfasst. Das wird daraus geschlossen, dass er offenbar von der Zerstörung des Tempels 70 nach Christus wusste. In einer Rede Jesu wird nach Lukas diese Zerstörung prophezeit: „Und als einige von dem Tempel sagten, dass er mit schönen Steinen und Kleinoden geschmückt sei, sprach er: „Es wird die Zeit kommen, in der von allem, was ihr seht, nicht ein Stein auf dem anderen gelassen wird, der nicht zerbrochen werde.“ (21, 5f.) Und: „Wenn ihr aber sehen werdet, dass Jerusalem von einem Heer belagert wird, dann erkennt, dass seine Verwüstung nahe herbeigekommen ist.“ (21,20)
Andererseits scheint Lukas noch nichts von der Christenverfolgung unter Domitian zu wissen, die 90 nach Christus stattfand. Darauf deutet beispielsweise die Erzählung vom „Hauptmann von Kapernaum“ (Lk 7,1ff) oder die Erzählung vom Hauptmann Kornelius (Apg 10,1ff.) hin, die beide eine friedliche Existenz von Christen im römischen Reich darstellen. Die Mehrheit der Forschung geht daher von einer Abfassung um 80 nach Christus aus.
Was den Autor betrifft, so deutet vieles darauf hin, dass Lukas nicht Jude war, sondern Heidenchrist, also zu jener ersten Generation gehörte, die „aus den Völkern“ zum christlichen Glauben fand. So schreibt er gleich zu Anfang, er wolle alles für „dich, hochgeehrter Theophilus in guter Ordnung auf(zu)schreiben“ (1, 3). Ob damit eine bestimmte Person, wie manche meinen gar ein römischer Beamter gemeint ist, oder der Leser allgemein als ein Mensch, der Gott liebt, ist unklar.
Dass Lukas Arzt war und Mitarbeiter des Paulus, wird von einem Teil der Forschung erklärt. Sie beziehen sich auf drei Stellen in neutestamentlichen Briefen, an denen ein Lukas als Reisebegleiter des Paulus benannt wird. Eine davon ist Kolosser 4,14. Dort heißt es: „Es grüßt euch Lukas, der Arzt, der Geleibte, und Demas“. Dem würde entsprechen, dass das Lukasevangelium besonders viele Heilungsgeschichten erzählt. Andere Forschungsstränge sagen, dass der Inhalt von Lukasevangelium und Apostelgeschichte für eine solche These viel zu verschieden sei von den Ausführungen des Paulus.
Besonders auffällig im Evangelium ist, wie sehr Lukas die Gestalt der Mutter Jesu ausschmückt. Einer Legende nach ist daher Lukas Maler, der auch das erste Marienbild gemalt und eine besonders malerische Sprache habe. Nahezu unumstritten ist exegetisch, dass Lukas auch die Apostelgeschichte verfasst hat.
Lukas liegt in seinem Evangelium offenbar daran, das Evangelium festzuhalten, die ursprüngliche Überlieferung gegen Irrlehren zu verteidigen, was notwendig schien, je länger der Abstand zum Tod Jesu um das Jahr 30 wurde. Es gibt vom Leben und Sterben Jesu keine Videoaufnahmen, keine belegten Dokumente, nur das, was wir heute „oral history“ oder auch „mündliche Überlieferung“ nennen. Das können wir uns heute kaum noch vorstellen! Kein youtoube Video, keine facebook-chronik, keine Zeitungsberichte, keine Situationsanalyse durch ultimative Experten. Keine Reaktionen von Anhängern und Gegnern. Keine Schlagzeilen nach dem Motto: „Wer war Jesus wirklich? Hintergrundgespräch mit Vertrauten“. „Wir trafen seine Mutter“. „Hier wohnte er mit Maria Magdalena – exklusive Bilder“. „Wir wussten immer, er ist eine Gefahr – Nachbarn enthüllen die wahren Hintergründe.“
Der Evangelist will die Gute Nachricht als Historiker so objektiv wie möglich festhalten. Objektivität trauen wir heute schon nicht mal mehr Historikern zu. Schnell wird ein Text angezweifelt, ganz anders gesehen, verdreht. Und die Möglichkeit, etwas zu kommentieren, wird heute geradezu gnadenlos genutzt. Es braucht nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, wie Blogger in Internetforen das Leben Jesu und den Glauben an seine Auferstehung bei einer aktuellen Berichterstattung kommentieren würden. Ich zitiere lieber nicht, was mir dazu einfällt, das könnte sonst als Blasphemie gelten. Gut für Jesus, dass seine Geschichte schlicht von vier Evangelisten aufgeschrieben wurde und es außerhalb der Bibel nur einzelne Zeugnisse gibt, etwa das Thomasevangelium oder das Kindheitsevangelium...
Für Lukas ist die Sache ernst. Er versteht Jesus als Retter der Welt, als Heiland. Aber er sieht auch, dass die erwartete, aber sich verzögernde Wiederkehr Jesu, die so genannte Parusieverzögerung zu Anspannung führt. Die ersten Gemeinden erwarteten Jesu Wiederkehr bald. Jetzt aber verstarben gläubige Christen und kein Jesus Christus in Sicht, der zu Gericht und Auferstehung kommt. Lässt das nicht am Glauben zweifeln? Stellt das nicht die Geschichte von Kreuz und Auferstehung in Frage? Dauert es nicht viel zu lang? Glaube und Zweifel waren ganz offensichtlich von Beginn an mit der Geschichte des Christentums eng verbunden.
Bei der Überlieferung der Geschichte des Jesus von Nazareth spielen die Gleichnisse eine ganz besondere Rolle. Luise Schottroff schreibt: „Die Gleichniserzählung, in der Wissenschaftstradition oft das ‚Bild‘ genannt, erzählt eine fiktive Geschichte, die auch als fiktive Geschichte erkennbar sein soll. ... Diese fiktiven Erzählungen machen eine Aussage über die Erfahrungswelt der Menschen zur Zeit der Entstehung der mündlichen und schriftlichen Tradition über Jesus von Nazareth...“ [2] Früher wurde bei der Auslegung von Gleichnissen meistens die Bildhälfte von der Sachhälfte unterschieden nach dem Motto: dies ist die erzählte Geschichte, was soll damit ausgedrückt werden. In der neueren Forschung wird stärker versucht, diesen Dualismus zu überwinden und einerseits die Erzählung selbst zu sehen, aber auch die Situation und Reaktion der Hörenden zu beachten und die theologischen Themen, die so angesprochen werden [3]. Dabei wird dann deutlich: die eine Interpretation eines Gleichnisses gibt es nicht. Wird der Kontext der Hörenden damals betrachtet, so spielt immer auch der Kontext der Hörenden heute eine Rolle. Die Gleichnisse der Evangelien sind auf Dialog angelegt. Noch einmal Luise Schottroff: „Das Gleichnis, Erzählung und Anwendung setzt die aktive Beteiligung der Hörenden voraus, ihre Antwort mit Verstehen, mit Worten und Taten. Verstehen, Worte und Taten sind Ausdruck der Beziehung zum Gott Israels.“ [4]
Mir leuchtet das sehr ein gerade auch mit Blick auf das Gleichnis, das uns heute Morgen beschäftigt. Es ist übrigens eines ohne Parallelen in anderen Evangelien, sondern ausschließlich bei Lukas tradiert.
Da haben wir zuallererst die Erzählung, die wir uns genauer anschauen können. Zum anderen können wir uns vorstellen, wie die Hörenden reagiert haben: Sie hatten gewiss Erfahrung mit Willkür und auch mit der Situation des Bettelns um Recht. Und schließlich als theologisches Thema die Aufforderungen, beim Gebet beharrlich zu bleiben auch angesichts von Unrecht und der Erfahrung, der ausbleibenden Gerechtigkeit Gottes. Als Hörende heute ist die Erfahrung mit Unrecht und das Ringen um beharrliches Gebet ebenso Thema, wenn auch auf andere Weise.
Für mich bleibt faszinierend an den Gleichnissen der Evangelien, dass sie in knapper Sprache Geschichten erzählen, die in jedem Kontext der Welt und durch die Jahrhunderte hindurch verständlich sind. Zudem sind sie kurz. Ich habe selbst bei langsamem Lesen nur eine Minute gebraucht. Ist das nicht faszinierend. In einer Zeit derart langer, langwieriger, langatmiger, mitunter auch langweiliger Worte und Worthülsen, wird in 60 Sekunden etwas ausgesagt, was Menschen begreifen, ganz gleich, wann sie geboren sind, wo sie leben. Das ist eine Sprachkraft des Glaubens, die mich zutiefst beeindruckt. Ich wüsste nicht, dass diese Sprachkraft der Gleichnisse je wieder erreicht wurde, sie sind elementares Kennzeichen der Überlieferung Jesu.
Weil die Sprachkraft des Glaubens aber so entscheidend ist, durch all die Jahrhunderte hindurch, lassen Sie mich zwei Beispiele nennen. Wenn wir auf das Reformationsjubiläum 2017 vorbereiten, kommt uns natürlich Martin Luther in den Sinn. Dem „Volk aufs Maul schauen“ war seine Devise. Was nicht meinte, dem Volk nach dem Munde reden, sondern in einer Sprache sprechen, die verständlich ist, die deutlich macht, dass Gott den Menschen unmittelbar angeht. Das setzt Luther auf mir imponierende Weise immer wieder um. In einer Passage etwa, die geradezu politically correct ist, will Luther deutlich machen, dass nicht nur das Leben im Zölibat, das Leben im Kloster ein vor Gott gerechtfertigtes oder auch gottgefälliges Leben ist, sondern dass sich der Glaube im Alltag der Welt bewährt. Da, wo ich bin, das, was ich tue, soll ich im Glauben vor Gott tun, dann ist es wohlgetan. Selbst wenn ein Mann die Windeln wäscht...
Originalton Luther: „Wenn ein Mann herginge und wüsche die Windeln oder täte sonst an Kindern ein verachtet Werk, und jedermann spottete seiner und hielte ihn für einen Maulaffen und Frauenmann, obwohl ers doch in ... Christlichem(n) Glauben täte; Lieber, sage, wer spottet hier des anderen am feinsten? Gott lacht mit allen Engeln und Kreaturen, nicht, weil er die Windeln wäscht, sondern weil ers im Glauben tut. Jener Spötter aber, die nur das Werk sehen und den Glauben nicht sehen, spottet Gott mit aller Kreatur als der größten Narren auf Erden; ja sie spotten nur ihrer selbst und sind des Teufels Maulaffen mit ihrer Klugheit.“ [5]
Gut formuliert, Martin, kann ich da nur sagen! Das heißt: Es kommt nicht auf das Geschwätz der Leute an. Es kommt darauf an, dass ich weiß, wer ich bin, dass ich mein Leben vor Gott und in Gottvertrauen lebe und damit Rechenschaft gebe von der Hoffnung, die in mir ist. Und: es ist Teil der Schöpfung Gottes, Kinder großzuziehen, es ist Teil der Existenz von Mann und Frau. Oder: „An der Art, wie beide im Vollzug täglicher Aufgaben miteinander umgehen, zeigt sich, ob sie glauben, was sie bekennen.“ [6]
Für viele meiner Generation hat Dorothee Sölle in ihrer Theologie, mehr aber noch in ihrer Poesie im 20. Jahrhundert eine anrührende Sprache für den Glauben gefunden. Lassen Sie uns ein Gedicht von Dorothee Sölle hören und dann das Lied Nr. 59 singen.
Minderheiten
Lehre uns minderheit werden gott
in einem land das zu reich ist
zu fremdenfeindlich und zu militärfromm
paß uns an deine gerechtigkeit an
nicht an die mehrheit
bewahre uns vor der harmoniesucht
und den verbeugungen vor den großen zahlen
Sieh doch wie hungrig wir sind
nach deiner klärung
gib uns lehrerinnen und lehrer
nicht nur showmaster mit einschaltquoten
sieh doch wie durstig wir sind
nach deiner orientierung
wie sehr wir wissen wollen was zählt
Verschwistere uns mit denen die keine lobby haben
die ohne arbeit sind und ohne hoffnung
die zu alt sind um noch verwertet zu werden
zu ungeschickt und zu nutzlos
Weisheit gottes zeig uns das glück derer
die lust haben an deinem gesetz
und über deiner weisung murmeln tags und nachts
sie sind wie ein baum
gepflanzt am frischen wasser
der frucht bringt zu seiner zeit
2. Die Erzählung
„Bewahre uns vor Harmoniesucht“ schrieb Dorothee Sölle. Oh, das ist eine schwierige Aufforderung. Eigentlich sind wir doch harmoniesüchtig. In der Familie, in der Gemeinde, in der Kirche, zwischen den Konfessionen. Bloß keinen Streit vom Zaun reißen. Eigentlich macht „man“ das nicht. Eine ältere Dame sagte mir einmal, sie möge den Begriff „Protestanten“ nicht, der klinge so sehr nach Streit.
Aber es braucht ihn doch, den Streit um die Wahrheit, das Ringen um Recht, die Einmischung in die Gesellschaft, den Widerspruch, wenn wir etwas verändern wollen. Der Begriff „Protestanten“ stammt ja nicht von ungefähr aus der Zeit der Reformation. Für den Reichstag zu Speyer 1529 verfassten die evangelischen Stände im Namen der Glaubensfreiheit eine Protestation gegen die Aufhebung der ihnen drei Jahre zuvor zugesagten Rechtssicherheit.
Das uns heute Morgen vorgelegte Gleichnis handelt vom Ringen um Recht! Wir haben es in diesem Gleichnis mit zwei Personen zu tun, zwei Urtypen sozusagen, die in jeder Gesellschaft wiedererkannt werden: Ein Mann und eine Frau. Einer mit Macht und eine ohne Macht. Einer, der keine Angst hat. Eine die keine Angst hat. Ein Kräftemessen...
Sehen wir uns zunächst den Mann genauer an. Ich habe einen Juristen gefragt, wie er das „ungerecht“ des Richters versteht. Er sagt, der angemessene Begriff für ihn sei „willkürlich“. Denn der Richter entscheidet selbstgefällig, ob er der Frau Recht verschafft oder nicht. Nun leben wir in den westlichen Demokratien dieser Welt in Rechtsstaaten. Wir sind stolz darauf, dass wir Rechtsprechung haben, auf die Verlass ist. Da sollte Willkür doch undenkbar sein! Können wir uns in das Gleichnis überhaupt hineindenken? Ich denke ja. Als erstes Beispiel kam mir das Gefangenenlager Guantánamo in den Sinn. Seit elf Jahren sind dort Menschen inhaftiert, ohne Anklage, ohne Prozess. 92 der 166 Häftlinge befinden sich derzeit im Hungerstreik [7]. Wir können dort sehen, wie sehr die Glaubwürdigkeit einer Demokratie leidet, wenn Recht nicht zum Recht kommt.
Oder nehmen wir ein kleineres Beispiel aus unseren Gefilden. Da denke ich an die Asylsuchenden, die Flüchtlinge in unserem Land generell. Sie werden einquartiert in schlechte Unterkünfte, oft fern von den Zentren der Städte. Ihre Bewegungsfreiheit wird durch die Residenzpflicht massiv eingeschränkt. Sie dürfen nicht erwerbstätig sein, finden keine Möglichkeit, die Sprache unseres Landes zu erlernen. Und so vergeht die Zeit, ihre Lebenszeit. Das ist nicht Rechtsbruch im direkten Sinne, aber es wird als Willkür empfunden. Einige Flüchtlinge haben sich auf den Weg gemacht, zu protestieren. Seit Oktober letzten Jahres kampieren sie in Berlin Kreuzberg auf dem Oranienplatz. Die rund hundert Menschen aus Rumnänien, dem Sudan und Uganda verletzen durch ihre Aktion die Residenzpflicht, sieben Strafverfahren gegen sie laufen bereits. Sie nerven. Sie sind eine Herausforderung. Aber eine notwendige, die uns aufwachen lässt. Wir müssen doch fragen: soll das Recht in unserem Land sein, dass Menschen sich nicht frei bewegen dürfen, nicht arbeiten dürfen, nicht zur Schule gehen können?
Soweit zum Richter. Nun zur Witwe. Sie ist wohl eine Nervensäge, könnten wir sagen. Eine Frau, die nervt. Oja, ich weiß, Frauen sind nicht die besseren Menschen und sie können nerven! Aber manchmal müssen sie das auch: nerven. Und das ist gut so. Die Witwe steht hier als Mensch mit wenig Recht, angewiesen auf andere, die ihr Recht verschaffen. Im alten Israel wird immer wieder gemahnt, dass auf Witwen, Waisen und Fremde besonders zu achten ist. Sie sind diejenigen, die mehr als andere auf Recht angewiesen sind, da sie kaum eigenständige Rechte haben und oft der Willkür ausgeliefert werden. So heißt es beispielsweise im fünften Buch Mose: „Gott schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.“ (10, 18f.) Weil Gott die Rechtlosen, für die hier Witwen, Waisen und Fremde stehen, liebt, sollen also auch diejenigen, die Gott fürchten, für sie eintreten. Und: nicht aus purem Mitleid soll das geschehen, sondern weil diejenigen, die Witwen, Waisen und Fremdlinge schützen ja selbst – in der Geschichte des Volkes Israel - die Erfahrung gemacht haben einst in Ägypten, in jener alten Erzählung vom Auszug aus der Unfreiheit. Und stets im Leben, weil alle Menschen gefährdet sind, auf die Zuwendung anderer angewiesen sein könnten. Stark sind die Gebenden stets nur relativ.
Beim Lesen des Gleichnisses bin ich über die Überlegung des Richters gestolpert, dass er befürchtet, die Frau könne ihn schlagen. Einerseits ist das irgendwie witzig, finde ich, ein Richter mit Angst, dass eine Frau ihn schlägt. Andererseits lehne ich natürlich Gewalt in Auseinandersetzungen ab. Dabei bin ich auf eine interessante Geschichte aus Indien gestoßen. Dass Frauenrechte dort täglich brutal mit den Füßen getreten werden, wissen wir nicht erst seit eine Studentin nach einer Vergewaltigung durch mehrere Männer starb. Neu ist, dass Frauen den Mut haben, sich zu wehren, wie die Pink Sari Gang 8.
Sampat Pal ist mein Jahrgang, 1958 (heißt es!). Mit elf wurde sie verheiratet, mit 15 das erste Mal schwanger, fünf Kinder – alles normal im Nordosten Indiens. „Aber dann schrie Sampat Pal an jenem Tag vor vielen Jahren einen Mann an, weil er mitten im Dorf seine Frau verprügelte. ... Keine Frau in dieser Gegend wagt es, dem eigenen Mann zu widersprechen geschweige denn, einem fremden. Also schlug der Mann auch sie, die Fremde. Am nächsten Tag kam Sampat Pal zurück, mit einem Stock in der Hand und fünf Frauen als Verstärkung. Dann schlug sie zurück vor allen Leuten, mitten im Dorf. Eine Frau einen Mann.“ [9] Seitdem gibt es die Gulabi Gang, die Rosa Gang, weil die Frauen rosa Saris als Kennzeichen tragen. Sampat Pal sagt: „Das ist keine Gang im eigentlichen Sinn. Es ist eine Gang für die Gerechtigkeit.“ [10]
Ich finde, das ist eine großartige Übersetzung des Gleichnisses von der Witwe, die droht, als sie kein Recht findet, in unserer Zeit. Sicher, über die Methode des Androhens von Schlägen sollten wir diskutieren. Aber das tun wir in einer sehr abgesicherten Situation. Ich bewundere schlicht diese Frauen im Gleichnis wie in Uttar Pradesh heute, die Mut haben, für ihr Recht einzustehen. Sie nerven. Und genau solche Nervensägen werden dringend gebraucht. Ich wünsche mir, dass Christinnen und Christen solche Nervensägen sind. Wenn es um Recht geht, um Menschenwürde, um Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Angesichts all der Anpassung, der einschläfernden Ablenkungsindustrie der Medien, der Volksverdummung durch Banalitäten brauchen wir Nervensägen, die noch fragen nach Sinn, nach Würde, nach Gerechtigkeit.
Das Fazit dieses Blicks auf die beiden zentralen Figuren ist: Die Erzählung können die Hörenden verstehen je in ihrem Kontext, damals wie heute.
Dorothee Sölle schreibt:
Hunger nach Sinn
Ich werde manchmal gefragt,
warum ich denn "immer noch" für Gerechtigkeit,
Friede und die gute Schöpfung eintrete.
"Immer noch?" frage ich zurück,
wir fangen doch gerade erst an,
aus der Verbundenheit mit dem Leben heraus,
zu kämpfen, zu lachen, zu weinen.
Wir können uns doch nicht auf das geistige Niveau
des Kapitalismus zurückschrauben
und ständig "Sinn" mit "Erfolg" verwechseln.
Das ist eine lebensgefährliche Verwechslung,
wenn wir das Leben zurückrechtstutzen
auf das Machbare und das,
was sich konsumieren lässt.
Meine Tradition hat uns wirklich mehr versprochen!
Ein Leben vor dem Tod, gerechtes Handeln
und die Verbundenheit mit allem, was lebt,
die Wölfe neben den Lämmern und Gott nicht oben
und nicht später, sondern jetzt und hier.
Bei uns, in uns.
3. Glauben und Beten – die theologische Frage des Gleichnisses
Fragen wir nun nach der Antwort der Hörenden damals wie heute und nach der theologischen Komponente des Gleichnisses. Es geht offensichtlich um eine Ermutigung zum Glauben, eine Ermutigung zum Beten. So werden es die ersten Gemeinden gehört haben. Vertraut Gott, auch wenn (noch) nicht eingetreten ist, was erhofft wurde, Gott wird Recht sprechen! Diese Sehnsucht nach Recht durchzieht die Bibel im hebräischen wie im griechischen Teil. Und diese Sehnsucht kennen nicht nur die Hörenden damals, die kennen wir doch auch: Gott, lass Recht werden! In Syrien, in Nordkorea, in Israel und Palästina. Recht und Gerechtigkeit, die Lebensräume für Menschen öffnen, das brauchen wir, das erhoffen wir, dafür beten und handeln wir. Lukas will die Hörenden und Lesenden bestärken: Lasst euch nicht entmutigen, macht weiter, nervt, wenn es notwendig ist. Ja, nervt vielleicht sogar Gott durch euer ununterbrochenes Gebet. Sehr schön kommt das in der Übersetzung für den Kirchentag zu Wort: „Gott aber, wird sie nicht denen, die ihr am Herzen liegen, die Tag und Nacht nach ihr schreien, Recht verschaffen und sich ihnen liebevoll zuwenden?“
Gott feminin angesprochen – das befremdet manche. Aber die Justitia, sie ist ja auch weiblich dargestellt in unserer Kultur! Deshalb sehe ich das als sehr schöne Übersetzung. Dieses Gottvertrauen, dass sie uns Recht verschaffen wird, das verlieren wir oftmals auf der Strecke auch als Christinnen und Christen, die sich hier auf dem Kirchentag versammeln. Es gibt sie, die Durststrecken der Gottesferne! Wie kann denn Gott zulassen, dass Menschen derart leiden? Warum greift die Ewige nicht ein, wenn Menschen grausam gefoltert werden? Warum hat Gott Vater kein Einsehen mit dem Elend der missbrauchten Kinder? Warum weht der Heilige Geist nicht die Diktatoren dieser Welt einfach hinweg?
Je älter ich werde, umso mehr liegt mir am Bild der Ohnmacht Gottes, am Kreuz. Der gekreuzigte Jesus von Nazareth ist das Symbol für die Ohnmacht der Liebe gegenüber dem Schrecken der Gewalt.
Vor 80 Jahren ergriffen die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler die Macht in Deutschland. Eine beispiellose Vernichtung aller Errungenschaften von Humanität und Aufklärung, von Menschenrechten und Religionsfreiheit sollte folgen. Wenige gab es, die das früh erkannten. Ein Beispiel ist für mich Elisabeth Schmitz [11]. Von 1933 bis 1936 korrespondierte sie mit Karl Barth und versuchte, ihn zu einer Stellungnahme zur so genannten „Judenfrage“ zu bewegen, was dieser aber ablehnte. Im September 1935 verfasste sie ein Memorandum, in dem sie forderte, dass die Bekennende Kirche sich für die entrechteten Juden einsetzen sollte. Sie schrieb unter anderem: „In einer kleinen Stadt werden den jüdischen Kindern von den anderen immer wieder die Hefte zerrissen, wird ihnen das Frühstücksbrot weggenommen und in den Schmutz getreten! Es sind christliche Kinder, die das tun, und christliche Eltern, Lehrer und Pfarrer, die das geschehen lassen!“ [12] Sie wollte den Text auf der dritten Synode der Bekennenden Kirche 1935 vorlegen, aber die Synode beschäftige sich nicht mit der „Judenfrage“. Als Elisabeth Schmitz 1977 verstarb, waren sieben Menschen bei ihrer Beerdigung...
Offenbar hat auch diese Frau genervt. Die Kirchen als Institutionen haben in der Zeit des Nationalsozialismus versagt, als es darum ging, die Verfolgten, zuallererst die Juden, aber ebenso Kommunisten, Homosexuelle, Zwangsarbeiter, Zeugen Jehovas und viele andere zu schützen. Selbst die Bekennende Kirche. In ökumenischer Gemeinsamkeit aber haben viele Christinnen und Christen Widerstand geleistet gegen Willkür und Unrecht. Das ist ermutigend. Nicht nachlassen. Weiter beten! Und weiter denken!
Lukas ermutigt, nicht aufzuhören, zu Gott zu schreien, zu beten. Manchmal werden Gebete erhört. Manchmal aber werden Gebete nicht erhört, wenn der Mann doch am Krebs stirbt, wenn meine Ehe doch zerbricht, wenn mein Kind doch auf einen Abweg gerät. Was soll werden? Wie kann ich noch an Gott glauben. Lukas sagt: es hilft nur weiter beten. Gottvertrauen. Den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Oder, wie die Kirchentagsübersetzung sagt: „immer wieder zu Gott schreien (sollen) anstatt aufzugeben“ (18,1). Ich bin überzeugt, das ist die einzige Art, die Abgründe anzusehen, das Leid zu begreifen: mit Gott im Gespräch bleiben. In Vers 6 heißt es: „Hört, was der ungerechte Richter sagt!“ Wir sollen also hinhören, aufmerksam bleiben, uns nicht abschotten von der Welt! Nicht verzweifeln an all der Willkür, an Unrecht, sondern beharrlich zu Gott rufen und uns beharrlich einmischen, da wo es uns möglich ist. Dabei kann uns der Glaube verbinden, dass Gott Recht schaffen wird. Das macht uns zu Geschwistern, die im Gebet verbunden sind – über Konfessions- und Kontinentgrenzen hinweg. Aus solcher Gemeinschaft kann die Kraft entstehen, Erfahrungen der Ungerechtigkeit, der Gottverlassenheit, der Trostlosigkeit zu bestehen, ja zu überwinden.
Jesus ruft am Kreuz mit Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Tiefer kann die Gottesferne nicht ausgedrückt werden als im Foltertod eines Sterbenden, der so sehr geglaubt hat und sich jetzt gottverlassen fühlt. Gott selbst kennt Gottesferne! Und genau deshalb können wir von unseren Zweifeln und Ängsten mit Gott reden. Das macht das christliche Gebet einzigartig. Es geht nicht nur um Anbetung – die wir allerdings fröhlich praktizieren sollten. Es geht im Gebet auch um ein Mitschreien mit Gott. Anschreien gegen das Unrecht, gegen Gewalt und Tod. Es ist ein Einstimmen in die Gottverlassenheit dieser Welt.
Wenn am Ende des Gleichnisses bei Lukas gefragt wird, ob noch Gottvertrauen zu finden sein wird auf Erden, wenn denn der Auferstandene wiederkehrt, dann ist diese Frage für uns in Westeuropa hochaktuell. In keinem Bereich der Erde ist der Glaube so reduziert wie bei uns. Ja, eine Studie der Universität Chicago zeigte im vergangenen Jahr auf, dass nirgends so wenige Menschen an einen Gott glauben wie in Ostdeutschland, dem Kernland der Reformation. Die Frage am Ende des Gleichnisses ist also aktuell: „Wird der Mensch, der gekommen ist, Gottvertrauen auf der Erde finden?“
Vielleicht ist gerade dies auch ein Schrei der Gottverlassenheit, der zu hören ist, der genau das Gottvertrauen zum Ausdruck bringt, das er verneint. Solange wir zu Gott schreien, ist der Glaube an Gott ja nicht verloren. Beten und Leben gehören zusammen. Wer zu Gott betet verantwortet das eigene Leben vor Gott. Darin drückt sich für mich Glaube aus. Jener Richter ist ja ungerecht und willkürlich, eben weil er Gott nicht fürchtet. Hier besteht ganz offensichtlich ein kausaler Zusammenhang. Wer Gott fürchtet, wird so leben, den eigenen Beruf so ausüben, dass es vor Gott verantwortbar ist. Leben bedeutet, Beziehung zu anderen Menschen aufnehmen. Die Frage ist: willkürlich, zum Eigennutz, mit dem Recht der Stärkeren oder verantwortlich, mit Blick auf das Gemeinwohl, die Not der Schwächeren?
Für das Leben in Verantwortung gegenüber Gott und den Menschen hat Jesus die Zehn Gebote Gebote zusammengefasst: „Du sollst Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten wie dich selbst“. Das ist ein Verantwortungsdreieck der Liebe, in dem ich mich bewegen, in dem ich leben kann. Gott über alle Dinge lieben, bedeutet, ich verantworte mein Leben, alles, was ich denke und tue vor Gott. Das muss aber kein beängstigendes Gottesbild sein. Sehr schön bringt das eine kleine Geschichte? auf den Punkt: Ein Pfarrer ärgert sich, dass Kinder ständig die Äpfel von seinem schönsten Baum klauen. Er stellt ein Schild darunter: „Gott sieht alles!“ Das ist der drohende, strafende Gott, der viele Generationen belastet hat. Die Kinder aber schreiben darunter: „Aber Gott petzt nicht!“ Das finde ich wunderbar und theologisch klug zusammengefasst. Unser Gott weiß alles, aber er petzt nicht. Ich kann mich Gott anvertrauen mit allen Ängsten und Schwächen, auch im Scheitern und da, wo ich an den eigenen Ansprüchen versage.
Und der Nächste? Wir alle leben ja nicht in splendid isolation! Es ist leicht, die zu lieben, die uns nahe sind. Aber die anderen, die anders denken, einer anderen Partei angehören, einer anderen Konfession oder Religion, die anders leben? Was, wenn einer auf mich zukommt, den ich nicht mag, nicht ausstehen kann, vielleicht gar verachte? Schaffe ich es, tief durchzuatmen und zu denken: Auch du bist ein Geschöpf Gottes? Einen Versuch ist es wert...
Und schließlich dürfen wir uns selbst lieben – auch wenn Protestanten das schwer fällt. Doch, wir dürfen das Schöne schätzen, ein Leben in Fülle auch. Ja, wir scheitern oft an unseren eigenen Ansprüchen, machen Fehler. Aber wenn Gott uns schon liebt, warum sollten wir uns selbst nicht lieben? Wenn Gott uns Veränderung zutraut, warum sollten wir selbst zweifeln, dass wir neu anfangen könnten? Die Gebetsverbindung zu Gott eröffnet die Freiheit, Angst und Scheitern nicht zu leugnen, sondern sich mit diesen Schwächen selbst anzunehmen.
Gebet und Gottvertrauen verändern unsere Haltung im Leben, sie beeinflussen unser Reden, Denken und Tun.
Noch einmal Dorothee Sölle:
Erneuere unser Herz
Erneuere auch unser Herz
und gib uns den Geist
der Klarheit und des Muts
denn das Gesetz des Geistes
der uns lebendig macht in Christus
hat uns befreit
von dem Gesetz der Resignation
Lehre uns die Kraft
der kleinen Leute zu spüren
und keine Angst mehr zu haben
wenn wir widersprechen
Erneuere auch unser Herz
und lass uns wieder miteinander reden
lehre uns zu teilen statt zu resignieren:
das Wasser und die Luft,
die Energie und die Vorräte
zeig uns, dass die Erde dir gehört
und darum schön ist
Abschluss
Wie also lernen wir beten? Wie wird Gottvertrauen heute aktuell?
Napuli, eine 24jährige Frau, die in einem Container aus dem Sudan geflohen ist und zu den Flüchtlingen gehört, die auf dem Oranienplatz zelten, betet. Ohne Unterlass. Sie sagt: „Manchmal habe ich wirklich Angst. Aber ich sage mir, ich muss stark sein. Um meinen Sohn zu finden, um zu erfahren, ob mein Mann noch lebt. Aber wenn ich mich jetzt zu sehr damit beschäftige, dann kann ich nicht einmal mir selbst helfen. Darum muss ich die Dinge geschehen lassen und Gott ist mit mir. Ich glaube an Gott. Gott wird mir sagen, was ich tun soll. Und jetzt muss ich erst einmal meine Ausbildung abschließen. Ich will studieren, um zur Entwicklung meines Landes beizutragen. Daran glaube ich.“ [13]
Aber ich bin überzeugt, nicht nur „Not lehrt beten“. Wie viele Menschen habe ich gesehen, die glücklich zur Kirche kommen und beten, dankbar, dass ein Kind geboren ist! Wie viele beten voll Freude, wenn sie Liebe gefunden haben. Wie viele sind dankbar, dass sie frei leben dürfen in diesem Land, gerechte Richter finden, nicht Willkür oder Gewalt ausgesetzt sind. Wie viele beten, weil sie jeden Tag aus Gottes Hand nehmen. Liebe, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und das Gebet, sie gehören zusammen.
Und: Martin Luther hat gesagt, wir sollen nicht viel Brimborium ums Beten machen. Jeden Tag ein Vaterunser, das reiche. Und er hat erklärt, wer singe, bete zweifach. Luther hat einmal an einen Mann, der – wir würden heute sagen – unter Depressionen litt, geschrieben: „Kommt der Teufel und gibt Euch Eure Sorgen oder Gedanken ein, so wehrt Euch frisch und sprecht: Aus, Teufel; Ich muss jetzt meinem Herrn Christus singen und spielen.“
Doch, der Menschensohn wird Glauben und Gottvertrauen finden auf der Erde, wenn er kommt. Seien wir nicht pessimistisch. Menschen suchen Gott. Und wir können Gott finden. Wir dürfen mit Gott reden, „per Du“ sein, streiten, ringen. Wir dürfen um Recht ringen wie die bittende Witwe. Ja, wir müssen weiter nerven, weil wir mitten in die Welt gewiesen sind mit unserem Glauben und ihn nicht hinter verschlossenen Türen oder in privaten Winkeln praktizieren. Und wir dürfen sicher sein, in Gott keinen willkürlichen Richter zu finden, sondern den Gott, der uns kennt, uns hört, wenn wir nerven, sogar Nachsicht hat mit unseren Fehlern und längst ja gesagt hat zu uns.
Ich ende mit einem weiteren Gedicht von Dorothee Sölle:
Der dritte weg
Wir sehen immer nur zwei Wege
sich ducken oder zurückschlagen
sich kleinkriegen lassen oder
ganz groß herauskommen
getreten werden oder treten
Jesus du bist einen anderen weg gegangen
du hast gekämpft aber nicht mit waffen
du hast gelitten aber nicht das unrecht bestätigt
du warst gegen gewalt aber nicht mit gewalt
Wir sehen immer nur zwei möglichkeiten
selber ohne luft sein oder andern die kehle zuhalten
angst haben oder angst machen
geschlagen werden oder schlagen
Du hast eine andere möglichkeit versucht
und deine Freunde haben sie weiterentwickelt
sie haben sich einsperren lassen
sie haben gehungert
sie haben spielräume des handelns vergrößert
Wir gehen immer die vorgeschriebene bahn
wir übernehmen die methoden dieser welt
verachtet werden und dann verachten
die andern und schließlich uns selber
Laßt uns die neuen wege suchen
wir brauchen mehr phantasie als ein rüstungsspezialist
und mehr gerissenheit als ein waffenhändler
und laßt uns die überraschung benutzen
und die scham die in den menschen versteckt ist
Uns allen wünsche ich fröhliche und gesegnete Kirchentagstage in Hamburg!
Fussnoten
- Die vier Gedichte sind entnommen aus: www.lebenshaus-alb.de/magazin/003223.html#ixzz2P2NzBPbC
- Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2010 (3. Aufl.), s. 135.
- Vgl. ebd. S. 122ff.
- Ebd. S. 137.
- EL WA 10, 296f. (Scharffenorth. S. 219)
- Gerta Scharffenorth, Freunde in Christus, in: "Freunde in Christus werden…", hg.v. Gerta Scharffenorth und Klaus Thraede, Gelnhausen 1977, S. 183ff.; S. 220.
- Vgl. Jeder zweite Guantánamo-Häftling isst nichts mehr, in: FAZ, 25.4.13.
- Vgl. hierzu und zum Folgenden: Karin Steinberger, Du kriegst Ärger, in: SZ 12. April 2013.
- Ebd.
- Ebd.
- Vgl. hierzu und zum Folgenden: Gott will Taten sehen, hg.v. M.Käßmann, München 2013.
- Ebd. S. 97.
- www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/babylon/201303/187363.html