Preußisch, prophetisch, pazifistisch
Der evangelische Theologe und NS-Widerstandskämpfer Martin Niemöller setzte sich für Frieden und Gerechtigkeit ein
Der Theologe Martin Niemöller verkörperte wie kein Zweiter das vergangene Jahrhundert mit all seinen Brüchen und Widersprüchen. Preußisch bis zur Halskrause, militaristisch, deutschnational, provokativ, versöhnungsbereit, revolutionär und zuletzt mit seiner Verdammung der Atomtechnologie und des „schnöden Mammons“ auch prophetisch. Mit seinem leidenschaftlichen Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit brachte er so manchen Amtsträger zur Weißglut und avancierte für die junge Generation zum Hoffnungsträger.
Geboren wird Martin Niemöller vor 125 Jahren, am 14. Januar 1892, im westfälischen Lippstadt als Sohn des kaisertreuen lutherischen Pfarrers Heinrich Niemöller und seiner Frau Paula. Sein Kompass ist seit seinem neunten Lebensjahr die Frage „Was würde Jesus dazu sagen?“. Schon früh lernt er Zucht und Ordnung, Vaterlandsliebe und Obrigkeitshörigkeit. Nach dem Abitur tritt er als Seekadett in die Kaiserliche Marine ein, wird im Ersten Weltkrieg U-Boot-Kommandant.
Knecht, Pfarrer und Gefangener
Weil Niemöller der Weimarer Republik nicht als Soldat dienen will, beteiligt er sich am Kampf gegen die Kommunisten und verdingt sich als Knecht auf einem Bauernhof. 1920 beginnt er, in Münster Theologie zu studieren. „Dadurch kann ich meinem Volk besser dienen“, glaubt er. Als Pfarrer und Geschäftsführer der Inneren Mission in Westfalen sympathisiert er Ende der 1920er Jahre mit den Nationalsozialisten. Doch deren kirchenfeindliche Einstellungen lassen ihn bald auf Distanz gehen. 1931 wird er Gemeindepfarrer in Berlin-Dahlem. Dort ist er Mitbegründer des „Pfarrernotbundes“, Vorläufer der „Bekennenden Kirche“.
Ab 1933 opponiert Niemöller gegen den „Arierparagraphen“ in der Kirche, der für Pfarrer und Kirchenbeamte jüdischer Herkunft die Entlassung bedeutet. 1934 erhält er Predigtverbot, das er jedoch ignoriert. Die Gestapo bespitzelt und verhört Niemöller, schließlich laufen rund 40 Verfahren gegen ihn. Am 1. Juli 1937 wird er verhaftet und zu sieben Monaten Festungshaft verurteilt. Nach seinem Freispruch am 2. März 1938 desavouiert Hitler die Justiz und lässt ihn als seinen „persönlichen Gefangenen“ in das Konzentrationslager Sachsenhausen und später nach Dachau verschleppen, wo er bis Kriegsende einsitzt.
„Unendliches Leid“
Die Befürchtungen des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann, die Nazis hätten Niemöller im Lager zu einem „speichelnden Idioten“ gemacht, erweisen sich als unbegründet. Seelisch und körperlich ungebrochen beteiligt sich der Theologe am Aufbau eines neuen, demokratischen Deutschlands – und sitzt bereits wenige Wochen nach seiner Befreiung wieder zwischen allen Stühlen.
Grund ist das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ vom Oktober 1945, mit dem die evangelische Kirche ihre Mitschuld am Nationalsozialismus bekennt. Vielen Kirchenvertretern geht eine Passage zu weit, die auf Drängen Niemöllers aufgenommen worden war: „durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden...“.
Heftiger Widerspruch
Auch das „Darmstädter Wort“ vom August 1947, das Niemöller mitformuliert hatte, stößt in Kirche und Politik auf heftigen Widerspruch. „Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen...“, heißt es dort selbstkritisch.
Nur wenig später, am 1. Oktober 1947, wird der Neu-Wiesbadener zum ersten hessen-nassauischen Kirchenpräsidenten gewählt. Den Bischofstitel hatte er zuvor unter Verweis auf den Führerkult der Deutschen Christen in der NS-Zeit abgelehnt und sich stattdessen in ein kollektives Führungsgremium, das Leitende Geistliche Amt, eingeordnet.
„Vaterlandsverräter“ und „Störer des konfessionellen Friedens“
Ein Sturm der Entrüstung erhebt sich, als Niemöller im Januar 1952 auf Einladung der russisch-orthodoxen Kirche nach Moskau fährt. Er wird als „Vaterlandsverräter“ und „Störer des konfessionellen Friedens“ beschimpft. 1959 sorgt er erneut für einen Eklat, als er in Kassel Zeitungsberichten zufolge die Bundeswehr als „Hohe Schule für Berufsverbrecher“ bezeichnet. Prompt erstattet Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) Strafanzeige, der liberale Bundespräsident Theodor Heuss spricht von „demagogischen Anwürfen“.
Gleichwohl streitet der charismatische Kirchenmann Niemöller weiter unnachgiebig gegen den politischen Kurs der Bundesregierung, gegen deren „einseitige Westorientierung“ und die Wiederbewaffnung. Bei Kundgebungen, Ostermärschen und Mahnwachen steht er in der ersten Reihe. 1961 wird er zu einem der sechs Präsidenten des Weltkirchenrats gewählt und reist in viele Länder des kommunistischen Machtbereichs: in die DDR, nach Ungarn, Polen und Nord-Vietnam, wo er mit Ho Chi Minh Tee trinkt.
Ende 1964 legt Niemöller sein Amt als Kirchenpräsident nieder und widmet sich intensiver denn je seinem Thema der letzten Jahre – dem Engagement für den Frieden. Er stirbt am 6. März 1984 in Wiesbaden und wird sechs Tage später in aller Stille in seiner westfälischen Heimat Lotte-Wersen beigesetzt.
Dieter Schneberger