Predigt am Ostersonntag im Berliner Dom über 1. Korinther 15, 19-28
Wolfgang Huber
I.
"Ist Pontius Pilatus eine Krankheit"? So fragte ein siebenjähriger Junge neulich seine Mutter beim Insbettgehen. Die Mutter war über diese Frage höchst erstaunt; das war noch zu spüren, als sie mir davon erzählte. Zunächst klärte sie den Sohn darüber auf, Pontius Pilatus sei ein römischer Statthalter zur Zeit Jesu gewesen. Dann fragte sie nach, wie er denn darauf komme, Pontius Pilatus sei eine Krankheit. Wieso, fragte der Sohn zurück, sagen wir im Gottesdienst immer: "gelitten unter Pontius Pilatus"? Das muss doch eine Krankheit sein.
Ein aufgeweckter Junge, finde ich: Der eine leidet unter Halsschmerzen, der andere unter Heuschnupfen, je nach Jahreszeit. Jesus leidet unter Pontius Pilatus.
"Gelitten unter Pontius Pilatus": so falsch ist die Diagnose nicht, dass es sich dabei um eine Krankheit handelt. Der römische Statthalter stößt Jesus hinaus vor das Tor, in die Einsamkeit des Kreuzes. Jesus leidet unter der Verlassenheit des Todes. Er erfährt: Der Tod zerstört Beziehungen, sogar die Beziehung zu Gott: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?
Die Pontius-Pilatus-Krankheit ist vielen vertraut. Vielleicht ist das die am meisten verbreitete Krankheit unserer Zeit: die Einsamkeit. In der Hälfte aller Haushalte dieser Stadt lebt nur ein Mensch, häufig allein. Aber Sprachlosigkeit kann sich auch dort ausbreiten, wo mehrere Menschen zusammen leben. Es gibt einen Tod vor dem Sterben, den Tod der Einsamkeit.
In zunehmendem Maß nehmen Filme oder Theaterstücke dieses Thema auf; Bücher sind voller Einsamkeit. Dafür nur ein Beispiel.
"Ich bin allein und weiß nicht, wo ich Leute treffen kann." Dieser Satz ist der Schlüssel zu dem Schicksal von Moijmir Demeter, einem Roma und Halbwaisen. Kein Problem bedrängt ihn mehr als dieses: "Ich bin allein und weiß nicht, wo ich Leute treffen kann." Die tschechische Schriftstellerin Iva Procházková schildert dieses Schicksal in einem Roman mit dem sprechenden Titel: "Wir treffen uns, wenn alle weg sind". Moijmir besucht seine todkranke Großmutter in einer abgelegenen Berghütte; kaum ist er bei ihr angekommen, breitet sich pestartig eine fürchterliche Epidemie aus. Wie soll irgendjemand diesem Fluch entkommen? Die Krankheit löst Menschen in Nichts auf; sie bringt die Zivilisation zum Erliegen. Auch Moijmirs Großmutter stirbt. Er bleibt zurück: "Ich bin allein und weiß nicht, wo ich Leute treffen kann."
Gewiss: Dieser Roman zeichnet auch eine Spur der Hoffnung in die Sandwüste der Einsamkeit. Moijmir entdeckt, dass Hingabe reich macht. Widerständen und Enttäuschungen abgerungen, entwickelt sich gegen große Hindernisse doch der Weg einer stillen Liebe. Die Einsamkeit behält nicht das letzte Wort. Freundschaften leuchten auf, von tiefer Trauer und zugleich von überraschender Hoffnung geprägt.
Solche Bücher finden ihre Leser. Denn Einsamkeit ist ein Grundgefühl unserer Zeit. Vom entlegensten Ort dieser Welt sind wir nur einen Mausklick entfernt. Obwohl der Ozean dazwischen liegt, klingt die Stimme am Telefon so, als käme sie von nebenan. Und doch sind im Stimmengewirr dieser lauten Zeit unendlich viele Menschen einsam. In der Flut bewegter Bilder, von denen wir umgeben sind, fehlt uns oft das eine Bild: ein Mensch, uns nahe, Gott, dem wir vertrauen können – im Leben wie im Sterben. Wo finden wir dieses eine Bild? Wo finden wir Hoffnung?
II.
An die Gemeinde in Korinth schickt der Apostel Paulus ein christliches Manifest. Glauben, Liebe und Hoffnung sind seine drei Themen. Die Hoffnung steht am Ende. Sie hat nur einen einzigen Grund: die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Und sie hat nur einen einzigen Maßstab: Es muss eine Hoffnung sein, die stärker ist als der Tod. Paulus schreibt:
Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat. Denn er muss herrschen, bis Gott ihm »alle Feinde unter seine Füße legt«. Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn »alles hat er unter seine Füße getan«. Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem.
III.
Welch ein Manifest! Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Auf diese Aussicht läuft alles zu. Darin bündelt sich das machtvolle Zeugnis von Gottes Ordnungen, das uns in den Worten des Apostels Paulus entgegentritt. Gewiss: Ruhig bleiben kann man bei dieser Aussicht nicht. Sie ergreift uns wie ein spürbarer Nachhall des Zitterns und Entsetzens, das die Frauen am Ostermorgen angesichts des leeren Grabes Jesu überfällt. Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? So schallt der Ruf neuen Lebens seit Ostern über den Erdkreis. Dieser Osterruf verändert die Welt. In die Tragik von Tod und Einsamkeit wird eine unwiderstehliche Zuversicht eingelassen. Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod.
Über diese Aussicht ist Streit angebrochen. Denn manche denken, zur Überwindung des Todes seien wir nicht auf Gott angewiesen, der moderne Mensch könne das selber. Zwei Zweige der Medizin faszinieren heute vor allem die Menschen. Die Reproduktionsmedizin soll menschliches Leben künstlich zu Stande bringen. Und die regenerative Medizin soll den Tod hinausschieben und eines Tages ganz überwinden. Unsterblichkeit – ein käufliches Produkt, von Menschen hergestellt, einstweilen allerdings noch nicht ganz fertig und vermutlich für die meisten unerschwinglich. Trotzdem ist das eine verbreitete Vision: Der Tod ist ein letzter Feind, aber wir überwinden ihn selbst.
Immer wieder gibt es Phantasten, die meinen, der medizinische Fortschritt werde eines Tages den Tod überwinden. Ich glaube daran nicht. Der Tod gehört zu unserem Menschsein. Mitten im Leben tritt er uns entgegen. Wer ihn verdrängt, verabschiedet sich von der Wirklichkeit.
Österliche Menschen haben einen anderen Zugang. Sie leugnen nicht, dass jeder Mensch sterblich ist. Sie glauben auch nicht an die Seelenwanderung. Sondern sie glauben an die Überwindung des Todes. Der Ostertag hat dem Tod das Rückgrat gebrochen. Es gibt ihn noch; aber er ist nicht die bestimmende Autorität. Sie liegt bei Gott, der den Tod überwindet.
Diese Überwindung des Todes feiern wir an Ostern. Denn wir feiern die Auferstehung Jesu. Der gekreuzigte Jesus bleibt nicht im Tod. Gott nimmt ihn zu sich auf. Am Kreuz hat sich kein Scheintod ereignet, Jesus wird nicht einfach wiederbelebt. Aber dieser Tod behält nicht das letzte Wort. Jesus lässt ihn hinter sich. Damit nimmt er schon vorweg, was für uns alle verheißen ist: Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod.
Niemand wird durch Ostern unsterblich. Aber keiner braucht dem Tod eine letzte Macht einzuräumen. Die Seele jubelt und tanzt, denn mit der Auferstehung Jesu ist die Macht des Todes durchbrochen. Das Licht wird zum Symbol für die Kraft der Auferstehung. Das Erblühen des Frühlings wird zum Zeichen dafür, dass das Leben stärker ist als der Tod. All das hilft uns dabei, getrost und fröhlich zu sein.
Nichts steht der neuen Ordnung Gottes mehr im Wege. Der Blick auf den Horizont ist freigelegt. Im aufgehenden Hoffnungslicht des Ostermorgens zeigt sich klar und deutlich Gottes neue Ordnung, auf dass Gott sei alles in allem. Die Osterhoffnung bricht unsere Einsamkeit auf.
IV.
Der Tag der Auferstehung ist der Feiertag des Glaubens. Deshalb ist jeder Sonntag ein kleines Ostern; denn der Sonntag wurde als christlicher Gottesdiensttag gewählt, weil Jesus an ihm aus dem Tod auferweckt wurde. Dieser besondere Inhalt gehört zu unserer Sonntagskultur genauso hinzu wie die Freiheit vom Zwang der Arbeit, die gemeinsame Unterbrechung unseres oft so rastlosen Tätigseins.
Paradox genug: In Berlin unterbrechen manche an diesen Ostertagen nicht etwa die Arbeit, sondern den Streik. Busse und Bahnen sind in diesen Tagen ungehindert unterwegs. Alle Berlintouristen wissen das zu schätzen. Aber Gewerkschaftssprecher geben unverblümt auch ein anderes Motiv zu erkennen: Auf die Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit sollen die Fahrer der Busse und U-Bahnen nicht verzichten. Auch die Werkstätten fahren Sonderschichten, um den entstandenen Wartungsstau wieder aufzulösen. Sie alle streiken lieber an Tagen, an denen es keine Zuschläge gibt.
Neid sollte da nicht aufkommen. Denn der Lohn bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben ist nicht üppig; genau darum geht ja der Streit. Aber es ist eine unerträgliche Umkehrung der Maßstäbe, wenn an Werktagen gestreikt und am höchsten Fest der Christenheit gearbeitet wird, damit die Zuschläge nicht verloren gehen.
Wer erst einmal die Axt an die Wurzel unserer Feiertagskultur gelegt hat, muss sich fragen, ob es noch ein Halten gibt. Eine Stadt muss nicht – wie Berlin – an zehn Sonntagen im Jahr ihre Geschäfte öffnen, um für Touristen attraktiv zu sein. Es schmückt sie mehr, wenn man an ihrem Leben den Unterschied zwischen Werktag und Sonntag noch erkennen kann. Es tut ihr gut, wenn man ihr an Ostern das Besondere dieses Festes abspürt. Die Seele jubelt und tanzt. Denn Ostern ist das Fest des Lebens.
Dieses Leben zeigt sich, wenn uns der Schritt aus der Einsamkeit gelingt. Es zeigt sich, wenn wir uns aufrichten lassen und den Blick nach vorn richten. An Ostern können wir es erleben: Was uns niederdrückt, hat nicht das letzte Wort. Widerstand statt Ergebung – das ist der Geist von Ostern. Dafür brauchen Menschen gegebenenfalls unsere Unterstützung; denn allein bliebe ihnen zur Ergebung keine andere Wahl. Beispiele dafür gibt es genug. Ich denke an die Christen im Irak, denen es – Gott sei’s geklagt – heute weit schlechter geht als selbst zu Zeiten des Diktators Saddam Hussein; und natürlich wünsche ich den Diktator nicht zurück, wenn ich das sage – ganz im Gegenteil! Ich denke an die Tibeter, die aufbegehren, weil sie um ihre kulturelle Identität fürchten; mit brutaler Gewalt werden sie zurückgeschlagen. Ich denke an verarmte Menschen in unserem reichen Land, die sich – ich habe das in diesen Tagen selbst erlebt – an den Ausgabestellen von "Laib und Seele" einen Osterhasen schenken lassen und sich darüber freuen wie ein Kind.
Der aufrechte Gang gehört zu Ostern. Jeder von uns sollte schauen, wie es bei ihm um diesen aufrechten Gang steht. Und ob er einem anderen dabei helfen kann, sich aufzurichten und der Zukunft entgegenzugehen. Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden. Amen.