Predigt im ZDF-Gottesdienst in der Schlosskirche Wittenberg

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,

schauen wir heute, am Heiligen Abend zuerst auf

Maria

„Ich bin gemeint“ – das begreift Maria. Ich, eine junge Frau aus Nazareth, die überhaupt nicht herausragt gegenüber den anderen. Sie erschreckt geradezu. Nichts Besonderes hat sie geleistet, sie ist nicht außergewöhnlich klug oder fromm oder schön oder reich. Und doch erlebt sie: Gott hat Großes an mir getan. Und so singt sie ihr geradezu revolutionäres Lied:

„Mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes;

denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.

Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.

… Er stößt die Gewaltigen vom Thron

und erhebt die Niedrigen.“ (Lk 1,46ff.)

Das ist schon sehr beeindruckend! Da klingt Maria so ganz anders als sie in den vielen Bildern gern dargestellt wird: Die sanftmütige junge Mutter, ganz und gar auf das Kind ausgerichtet. So wird sie gern gesehen: liebevoll, still und demütig, ergeben geradezu. Ihr Lied dagegen kommt selbstbewusst daher: Gott erhebt die Niedrigen!

In unserer christlichen Tradition spielt Maria als die „Gottesmutter“ oder auch „Gottesgebärerin“ eine große Rolle. Viele Mütter der Welt identifizieren sich mit ihr, die unter so schwierigen Umständen gebären muss und ihr Kind schützen will. Die irritiert ist über den Jugendlichen, der im Tempel lehrt. Die um den Sohn ringt, wenn sie mit seinen Geschwistern vor der Türe steht und erduldet, wie Jesus ihr eine Abfuhr erteilt. Die bis zuletzt bei ihm bleibt und auch unter dem Kreuz mitleiden wird. Die Pietá, Maria mit dem toten Sohn im Arm, sie ist weltweit und durch die Jahrhunderte ein Sinnbild mütterlicher Liebe.

Der Reformator Martin Luther war ein großer – heute würden wir sagen - „Fan“ Marias. In einer Auslegung zum Lobgesang der Maria, diesem besonderen, als Magnifikat bezeichneten Liedes schreibt er: „…die zarte Mutter Christi, sie lehrt uns mit dem Beispiel ihrer Erfahrung mit Worten, wie man Gott erkennen, lieben und loben soll. Denn weil sie mit fröhlichem regem Geist sich hier rühmt und Gott lobt, er habe sie angesehen, obwohl sie niedrig und nichts gewesen sei, muss man glauben, dass sie verachtete geringe Eltern gehabt hat.“ [1] Es ist erstaunlich, wie Luther sich hier in Maria hinein fühlt. Er sieht ihre Selbsteinschätzung der Niedrigkeit als Verweis auf ihre soziale Herkunft. Umso beeindruckender, welche Wertschätzung Martin Luther ihr zukommen lässt. Vielleicht können wir das wieder entdecken am Vorabend des Reformationsjubiläumsjahres – auch als Zeichen der ökumenischen Verbundenheit.

Der Gott der kleinen Leute

Wenn wir die Weihnachtsgeschichte hören, können wir immer wieder nur staunen. Es ist wahrhaftig keine Elitetruppe, die hier versammelt ist! Bei jeder Castingshow wären sie wohl durchgefallen, da ist kein Kandidat für Deutschland sucht den Superstar zu finden. Stellen wir uns nur vor, Maria – sie entspricht wohl kaum der Norm einer Heidi-Klum-Auswahl. Und Josef – er wird in der Geschichte eher als Randfigur angesehen, nicht gerade der Gewinnertyp. Die Hirten – das wären heute sicher auch Menschen, die um ihre tägliche Existenz ringen müssen. Weil sie von Hartz-IV leben, weil sie bitter arm sind im Alter oder denken wir an die Mexikaner, die illegal in den USA arbeiten und die Donald Trump unbedingt abschieben will. Nein, Lichtgestalten der Kino Glamour Glitzerwelt sind unsere biblischen Weihnachtsprotagonisten nicht…

In der Geschichte des Christentums wird es so bleiben. Petrus ist ein ängstlicher Typ. Sobald Jesus verhaftet wird, leugnet er, ihn überhaupt gekannt zu haben. Und doch wird er einer der führenden Apostel. Maria Magdalena umgibt ein eher zweifelhafter Ruf. Und doch wird sie wegen ihrer Glaubenstreue in aller Welt und durch die Jahrhunderte erinnert. Paulus hat Christen brutal verfolgt. Und doch wird er, der mit körperlichen Einschränkungen leben muss, das Evangelium über das Mittelmeer nach Europa bringen.

Jesus erzählt in seinem Leben und seinen Gleichnissen von Gott als einem Gott der kleinen Leute. Niemand ist zu gering. Alle können etwas beitragen mit ihrem Gottvertrauen zum Reich Gottes. Das ist mir wichtig an meiner Religion. Jesus selbst war kein Kämpfer, der auf dem Pferd mit dem Schwert daherkam und siegte. Unbewaffnet reitet er auf einem Esel nach Jerusalem ein. Er wehrt sich nicht, als er verhaftet wird. Er lässt sich verspotten, leidet, stirbt elend am Kreuz. Der Gott der kleinen Leute, er ist selbst klein, elend. Und gerade deshalb weiß unser Gott etwas vom Leid des Lebens, des Alltags, von Schmerz und Trauer. Gerade deshalb können wir uns diesem Gott anvertrauen. Gott schickt nicht Leid. Gott weiß selbst um Leid und Kummer und gibt uns die Kraft, damit zu leben.

Ein Unternehmer fragte mich neulich: Heißt das denn, mit den Reichen und Erfolgreichen kann Gott nichts anfangen? Aber doch! Gott freut sich an den Menschen. Nur haben es die Reichen und Erfolgreichen wohl in der Tat schwerer. Wer erfolgreich ist und gut zurecht kommt, meint oft, dass er oder sie niemanden braucht. Das habe ich mir alles selbst zu verdanken! Da vertrauen Menschen eher auf Macht, Schönheit und Geld als auf Gott. Sie sehen sich gern als „Macher“ ihres eigenen Lebens. Deshalb ist es so schwer für sie, ihr Vertrauen ganz auf Gott zu werfen. So schwer wie für ein Kamel oder ein dickes Tau durch ein Nadelöhr zu gelangen. Wenn sie aber frei werden von der Gier nach Mehr, von der Angst um den Besitz und den Blick auf die Menschen um sie herum werfen, Freude haben am Geben und Teilen, ihr Herz nicht an Dinge, sondern an Gott hängen, dann teilen sie die Freiheit der Kinder Gottes.

Aber müssen wir nun alle etwas tun, um unser Gottvertrauen geradezu zu beweisen? Das wäre doch ganz gegen Luthers Erkenntnis, dass allein der Glaube unser Leben rechtfertigt und nicht unsere Leistung. An der Weihnachtsgeschichte der Evangelisten Lukas und Matthäus können wir sehr schön ablesen, was Luther meint. Maria leistet nichts. Sie vertraut sich mit ihrer Schwangerschaft Gott an. Und gerade so wird sie zum Sinnbild von Gottvertrauen. Josef hat seine Zweifel mit Blick auf all die problematischen Umstände. Aber er fragt nicht viel, er steht seiner Frau bei, vertraut seiner Intuition, seinem Traum, und flieht vor dem mordenden Diktator Herodes nach Ägypten. Die Hirten haben nichts vorzuweisen. Aber sie vertrauen dieser Botschaft, die sie wie von Engeln zu hören meinen. Es wird nicht sofort alles besser für die Protagonisten. Kein Geldregen kommt über sie, ein Happy End ist nicht in Sicht. Und doch ändert sich ihr Lebensgefühl: Gott ist da. Gott ist mitten unter uns erfahrbar, das erleben sie. Ihr Leben macht Sinn. Sie sind angesehene Personen, weil Gott sie ansieht.

Du bist gemeint

In seiner Magnifikatauslegung schreibt Martin Luther auch: „Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat tun will“. Niemand. Das heißt, nicht nur Maria ist gemeint. Auch Du bist gemeint. Wir alle. Gott traut ganz normalen Menschen etwas zu. Allen Menschen. Auch Dir und auch mir. Und wenn wir begreifen, wir sind gemeint, dann können wir einen Teil dazu beitragen, dass eine Spur gelegt wird vom Frieden Gottes schon in dieser Welt.

Da macht ein Mensch die Erfahrung von Liebe und entdeckt: Mein Leben macht Sinn, ich bin gar kein Looser, nein, mir ist Sinn schon zugesagt. Ich schaffe das schon. Da nimmt eine Familie schlicht einen Flüchtling bei sich auf, ohne großes Trara, weil sie das als christliche Haltung ansehen. Und sie erleben Bereicherung, Glück an dieser Gemeinsamkeit. Ein Mann tritt für die Würde des Obdachlosen ein, der aus dem Laden gescheucht werden soll, und spürt an sich: Ja, das war gut, das fühlt sich richtig an. Eine Jugendliche verteidigt ihre dunkelhäutige Freundin, die in der Straßenbahn angepöbelt wird. Sie begreift: Unsere Verbindung ist stark, das Miteinander kann dem Hass etwas entgegen setzen. Immer dann ereignet sich etwas von dieser Barmherzigkeit Gottes mitten in unserer Wirklichkeit. Und immer dann sehen wir im Kleinen, was einst im Großen Gottes Zukunft bedeuten wird: Das Ende von Hass und Gewalt.

Zuletzt

Als ich vor einigen Jahren den Weihnachtsgottesdienst in der Marktkirche Hannover hielt und die Kirchenälteste mit der Lesung begann: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging…“ stöhnte neben mir ein etwa zehnjähriger Junge auf: „O Mann, die Story kenn ich schon!“ Ich hab´ ihm zugeflüstert: „Und du wirst sie immer wieder hören im Leben, jetzt mit deinen Eltern, später vielleicht mit deiner Liebsten und deinen eigenen Kindern!“

Ja, für mich klingt die Weihnachtsgeschichte jedes Jahr neu. Weil sie lebendig werden, Maria und Josef, das Kind und die Hirten und die Weisen. Wir begegnen ihnen auf den Straßen von Wittenberg und Berlin, von Köln und München. Schauen wir hin! Sehen wir uns an. Und stehen wir einander bei.

Weihnachten meint nicht immer Glanz und Gloria wie es uns die Werbung vorgaukelt. Die Weihnachtsgeschichte selbst handelt von kleinen Leuten mit all ihren Sorgen und Konflikten. Und so wird es auch heute Abend Enttäuschung gegeben haben, auch Bitterkeit und Streit. Aber vielleicht hilft der Blick auf die Weihnachtsgeschichte selbst, dass wir das überwinden. Das Leben ist nicht perfekt, kein Leben ist das. Aber wenn wir uns Gott anvertrauen, dann bekommen wir einen gnädigeren Blick auf uns selbst. Und wir können freier auf die anderen blicken. Auch wenn heute Abend nicht alles gelungen ist, nicht alles harmonisch war: Gott ist da, mitten im Alltag, mitten in unseren Auseinandersetzungen und gerade auch da, wo eine Träne fließt.

Ich wünsche Ihnen frohe und gesegnete Weihnachten. Amen.


  1. Maria. Evangelisch, hg.v. Thomas A. Seidel/Ulrich Schacht, Leipzig 2011, S. 190f.