Bibelarbeit über Jeremia 29, 5. Internationaler Gospelkirchentag, Karlsruhe

Nikolaus Schneider

Zeit: 9.00 Uhr/ Ort Europahalle
9.00 – 9.05 Uhr: Chor: By the rivers of Babylon
9.05 – 9.25 Uhr: Bibelarbeit

“By the rivers of Babylon
Where we sat down
And there we wept
When we remembered Zion.”

Wer kennt es nicht, dieses Spiritual, das von Boney M. Ende der 70er Jahre aufgegriffen wurde und sich 17 Wochen lang auf Platz 1 der deutschen Charts hielt? Selbst den Jüngeren müsste es als Oldie geläufig sein. Mit der Reggae-Melodie im Ohr, beginnt man unwillkürlich zu tanzen.

Doch der Text spricht im Gegensatz zur Melodie von Tränen, Trauer und Vertreibung. Er geht auf ein altes Psalmgebet zurück, in dem die nach Babylon verschleppten Juden an ihre Heimatstadt Jerusalem denken:
„An den Wassern Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.“

In den Worten des Psalms 137, dem die Verse des Liedes entnommen sind, spiegeln sich bis heute die Trauer und die Sehnsüchte von Menschen, die ihre Heimat verloren haben:
Trauer und Sehnsucht von Menschen, die vor Verfolgung, Unrecht, Gewalt oder Hunger aus ihrer Heimat fliehen mussten;
Trauer und Sehnsucht von Menschen, die aus ihrer Heimat in die Sklaverei verschleppt wurden, wie einst die Schwarzen aus ihrer afrikanischen Heimat;
Trauer und Sehnsucht aber auch von Menschen, die ihre innere Heimat verloren haben, denen ihre Nächsten zu Fremden wurden, die sich selbst fremd wurden.

„An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.
Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande.“ –
Es ist gut und es tut gut, wenn Menschen von ihrer Trauer und Sehnsucht nicht gleichsam eingemauert und von innen her zerfressen werden.

Es ist gut und es tut gut, wenn Menschen ihre Sehnsucht und ihre Trauer teilen und mitteilen können, wenn sie Zeiten und Orte haben, um sich gemeinsam zu erinnern und gemeinsam zu weinen.

Tränen, Klageworte und Klagepsalmen können befreien und trösten.

Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht in unserem Klagen und in unseren Tränen versinken.
Das Erinnern an die vergangene Heimat und das Ersehnen einer zukünftigen Rückkehr darf nicht gleichsam zu einem „Ersatzleben“ werden und zur Flucht aus der Gegenwart verleiten.

In dieser Gefahr standen wohl die verschleppten Juden in Babylon, als der Prophet Jeremia ihnen einen Brief schreibt:
 (Jeremia 29,1.4-7.10-14 – Vv. 5-6 in eigener Bearbeitung):

„Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte.

So spricht der Gott Zebaoth, der Gott Israels, zu allen in der Verbannung, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:
Baut Häuser und wohnt darin! Pflanzt Gärten und esst ihre Früchte! Heiratet und bekommt Söhne und Töchter! Lasst eure Söhne und Töchter heiraten, dass auch sie Söhne und Töchter bekommen! Vermehret euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.

Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zu Gott, denn wenn es ihr wohl geht, so geht es auch euch wohl.
Denn so spricht Gott: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich mich um euch kümmern und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort zurückbringe.

Denn ich weiß wohl, was für Gedanken ich über euch habe, spricht Gott: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch Zukunft und Hoffnung gebe. Und wenn ihr mich anruft und hingeht und mich bittet, so will ich euch erhören.

Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht Gott. Ich will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.“

Der König Jojachin aus dem kleinen Staat Juda hatte es gewagt, die babylonische Weltmacht herauszufordern. Und nun müssen die Einwohner Judas bitter dafür büßen. Alle Hoffnungen, dass Gott im letzten Moment eine Rettung schenken würde, hatten sich in Luft aufgelöst. Die babylonischen Truppen hatten das Land besetzt und hatten zur Strafe König Jojachin mit seiner Familie und vielen anderen Menschen gefangen genommen und nach Babylon umgesiedelt, wo sie als Sklaven leben und arbeiten müssen.

Die Männer und Frauen aus dem kleinen Staate Juda haben ihre Heimat und ihre Freiheit verloren. Viele wurden mitten aus ihren Familien herausgerissen. Nun leben sie in einem Land, in dem ihre Werte und religiösen Vorstellungen nicht mehr gelten. Schlimmer noch ist ihnen die Vorstellung, dass sie das Land verlassen hatten, in dem Gott ihnen nahe gewesen war, der Gott Israels.
Es erscheint ihnen unmöglich, im fremden Babylon an ihrem Glauben festzuhalten - ohne den Tempel, in dem doch nach ihrer Überzeugung Gott Wohnung genommen hat.

Die im Exil in Babylon lebenden Juden müssen zugleich die äußere Heimatlosigkeit erleiden und ihre innere Heimatlosigkeit bekämpfen.
Und so sitzen sie an den Wassern Babylons und klagen und weinen und sehnen sich nach der verlorenen Heimat, wie es uns im Psalm 137 überliefert ist.
Und die „Klage der Gefangenen zu Babel“ ( Lutherbibel ) wird zu einem Klagelied für alle Menschen, die ihre äußere oder innere Heimat verloren haben:

Ein Klagelied für alle die Männer und Frauen, die ihre Heimat verlassen mussten, die in unserem Land Asyl suchen oder Arbeit. Wir können nur ahnen, welche Geschichte hinter jedem einzelnen Schicksal steht. Viele von ihnen finden hier keine rechte Heimat und fühlen sich innerlich noch lange nach ihrer Ankunft heimatlos und fremd.

Ein Klagelied für alle die Männer und Frauen, die sich hier fremd und heimatlos fühlen, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen sind.

Ich nehme solche Gefühle wahr bei Menschen, deren Leben sich ungewollt durch äußere Umstände verändert. Nach einer Lebenswendung, die wir nicht selbst herbeiführen, die uns innerlich verletzt und schmerzt, fühlen wir uns unversehens fremd, auch mitten in unserer Heimat.

Wenn etwa nach dem Verlust des Arbeitsplatzes unser Leben bis in seine Grundfeste erschüttert wird und wir uns auf einmal nicht mehr zugehörig fühlen in der ehemaligen Kollegenschaft oder gar unter den Menschen, die morgens zur Arbeit gehen: Dann kommt man sich inmitten der Nachbarn oder Freunde wie ein Fremder vor. Wie leicht zieht man sich dann zurück, traut sich kaum mehr unter Menschen und beginnt immer mehr, in der Welt der Vergangenheit zu leben.

Wenn der Grund unter unseren Füßen zu wanken beginnt und auf einmal nicht mehr zählt, was eben noch galt; wenn uns ungerecht mitgespielt wird und wir uns auf einmal nicht mehr darauf verlassen können, dass sich Liebe und Treue, Recht und Gerechtigkeit durchsetzen; wenn uns Freundschaften, Beziehungen und Familien zerbrechen: Dann verlieren wir unsere innere Heimat und vielleicht sogar unser Gottvertrauen.

Dann ergeht es uns wie den Männern und Frauen, die ins ferne Babylon verschleppt wurden. Dann wird das Klagelied der Gefangenen Babels auch zu unserem Lied.

Wenn es doch nur wieder wie früher sein könnte – solche Gedanken gehen Menschen durch den Sinn, wenn sie sich innerlich oder äußerlich heimatlos fühlen. Und sie werden anfällig für falsche Versprechungen von schnellem Heil und schneller Heilung.

So war es auch damals in Babylon:
Unter den verschleppten Männern und Frauen wurden Stimmen laut, die von einer baldigen Rückkehr in die Heimat sprechen und eine trügerische Hoffnung verbreiten. Natürlich fanden diese Stimmen Anklang, entsprachen sie doch den Wünschen derer, die um den Verlust ihrer Heimat weinten. Es wäre geradezu verwunderlich, wenn die Prophezeiungen nicht begierig aufgegriffen würden, die eine baldige Rückkehr aus dem Exil in Aussicht stellten.

Aber diese Träume waren auf Sand gebaut. Rückkehr war nicht das Gebot der Stunde.
„So schmerzlich der Verlust der Heimat auch ist, heute gilt es, sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden. Das ist die jetzt von Gott gestellte Aufgabe“ - dies macht der Prophet Jeremia den nach Babylon Verschleppten unmissverständlich deutlich.

Es ist ein Irrtum zu glauben, Wiederherstellung der Vergangenheit, Rückschau und Rückkehr seien die einzig gangbaren Wege aus der Heimatlosigkeit heraus. Im Namen Gottes weist Jeremia auf eine andere Möglichkeit hin und macht den verschleppten Männern und Frauen Mut, sich mitten in der Fremde eine neue Heimat zu schaffen:
„Baut Häuser, pflanzt Gärten“, sagt der Prophet, „heiratet und bekommt Kinder.“

Solchen Aufforderungen kann man nicht nachkommen, wenn man auf gepackten Koffern sitzen bleibt.
Wer Häuser bauen will und Gärten pflanzt und erst recht wer Kinder bekommt, muss sich beheimaten. Ein Haus baut man schließlich, um darin zu wohnen. Wer einen Garten anlegt und einen Baum pflanzt, muss Jahre warten, bis er dessen Früchte ernten kann. Jeremia nimmt die Exilierten, die Migranten der damaligen Zeit in die Pflicht, das Ihre zu tun, um sich zu integrieren.

Aber der Prophet Jeremia geht noch einen Schritt weiter, ihm geht es nicht allein um Beheimatung in der Fremde. Er sagt:
„Suchet der Stadt Bestes! Betet für sie zum Herrn!“

Das heißt doch nichts anderes, als sich im fremden Babylon für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen und zugleich dafür zu beten. Das ist nicht leicht zu hören für die Männer und Frauen, die selbst unter der Willkür der Weltmacht leiden, deren Macht auf Vertreibung und gewaltsame Umsiedlungspolitik fußt. Die Stadt, für die gebetet werden und deren Bestes gesucht werden soll, ist die Stadt der Feinde.

„Betet für eure Feinde“ – diese Worte Jesu aus der Bergpredigt klingen hier an. Die Worte des Propheten setzen Versöhnungsbereitschaft voraus und werden durch die Jahrhunderte bis heute als Weg zum Frieden gehört und erkannt.

Es ist wahrlich kein leichter Weg, den der Prophet Jeremia beschreibt – damals nicht und heute nicht!
Wenn wir heimatlos werden, wenn wir aus unseren vertrauten Bahnen gerissen werden, dann ist es oft die Frage nach dem „Warum?“, die unser Denken und Fühlen besetzt und unsere Gegenwart verdunkelt.

Warum lässt Gott das zu?
Warum trifft es gerade mich?
Warum ist mein Schicksal so ungerecht?
Auch die Männer und Frauen, die nach Babylon verschleppt wurden, quälten sich mit diesen Fragen. Und sie begannen, ihr Schicksal als Gottesferne und als Strafe Gottes deuten.

Sie klagten: Gott hat sich von uns abgewandt und hat uns unserem Schicksal überlassen.

Leidenschaftlich widerspricht Jeremia dieser Logik.
Gott zieht sich nicht zurück, wenn unser Weg durch finstere Täler verläuft. Gerade den Leidenden ist Gott ganz besonders nah.
Gott ist bei den Männern und Frauen, die in Babylon über den Verlust ihrer Heimat klagen, und Gott ist bei allen, die sich verstoßen, verlassen und heimatlos fühlen.
Auch wenn der Tempel in Jerusalem zerstört und weit weg ist:
Gott lässt sich an allen Orten dieser Welt finden.
Gottes Versprechen gilt überall:
„Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will mich von euch finden lassen.“

Die Männer und Frauen, die nach Babylon verschleppt wurden, durften dann erleben, dass Gott seine segnende Hand nicht von ihnen nahm.

Die Jahrzehnte des Exils wurden zu einem Segen für das ganze Volk Israel und letztlich für alle Völker.

Ohne diese Zeit wäre der jüdisch-christliche Glaube und wären wir alle um vieles ärmer.
Nach allem, was wir wissen, haben die Juden erstmals im Exil den Sabbat gefeiert. Sie haben die Zehn Gebote aufgeschrieben, sie haben begonnen, die Heiligen Schriften zu sammeln. Auch der Glaube an den Messias, der Recht und Gerechtigkeit bringen wird, entstammt dieser Zeit. Im Rückblick hat sich diese schwere Zeit der Heimatlosigkeit als eine Segenszeit erwiesen.

Mögen auch für uns die Zeiten, in denen Trauer und Sehnsucht unsere Herzen bewegen und in denen wir uns fremd und heimatlos fühlen, zu Segenszeiten werden.
Schenke Gott, dass wir alle uns der himmlischen Heimat so gewiss werden, dass wir uns an allen Orten, an die Gott uns stellt, beheimaten können.

Abschliessendes Gebet

Du, unser Gott und Vater,
durch den Mund der Propheten hast du gesagt:
„Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn!“
Darum beten wir heute zu dir
für unsere Städte und Dörfer und für das ganze Land
um Gerechtigkeit und Recht,
um Frieden und gute Ordnung.
Wir bitten dich: Gott, erhöre uns

Wir beten für die, die unser Land regieren.
Lehre sie Demut und Barmherzigkeit.
Schenke ihnen Weisheit, wenn sie entscheiden,
einen scharfen Blick für das, was wesentlich ist,
und Mut, deinem Gebot zu gehorchen.
Wir bitten dich: Gott, erhöre uns

Wir beten für alle,
die müde geworden sind an ihrem Leben.
Für die Mütter und Väter,
die sich aufzehren in Mühe und Arbeit für ihre Familien.
Für die Menschen, die Zeit und Kraft aufopfern für andere,
dass sie deine Hilfe spüren und neuen Mut gewinnen.
Wir bitten dich: Gott, erhöre uns

Wir beten für alle,
die unter uns eine neue Heimat suchen,
die enttäuscht und resigniert sind,
sich ausgegrenzt fühlen und alleingelassen
mit ihren Sorgen und Problemen.
Für die Menschen, die für die Verständigung der Völker eintreten,
dass sie den Glauben an deine Verheißung
für Gerechtigkeit und Frieden nicht verlieren.
Wir bitten dich: Gott, erhöre uns

Wir beten für uns,
weil auch wir oft hoffnungslos, müde und enttäuscht sind.
Stärke uns und mach uns bereit, zu warten
auf den neuen Himmel und die neue Erde, die du verheißen hast.
Tröste und ermutige uns, mitzuhelfen,
dass die Zeichen deiner Nähe und Liebe in der Welt erfahrbar werden.
Wir bitten dich: Gott, erhöre uns
Amen