Predigt über Galater 5, 1-6

Nikolaus Schneider in der Thomaskirche zu Leipzig

Der Predigttext, Galater 5, 1-6:

"Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und ihr seid aus der Gnade gefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist."

Liebe Gemeinde!

"Ganz oder gar nicht!" - diese kompromisslose Alternative ist manchmal die entscheidende Frage für das Glück unseres Lebens.

"Ganz oder gar nicht!" - damit konfrontiert uns ein uns liebender Mensch, wenn es um unsere Bereitschaft geht, Vertrauen zu wagen für eine lebenslange Beziehung und für eine Entscheidung zur Elternschaft. Wer in der Liebe versucht, sein Vertrauen durch Kontrollvereinbarungen abzusichern, der wird sein Lebensglück vielleicht verpassen.

"Ganz oder gar nicht!" - damit haben die für die "Thomana" Verantwortlichen in Kirche und Stadt hier in Leipzig auch in widerständigen Zeiten für das Zusammenhalten von Glauben, Singen und Lernen gestritten. Wir danken Gott und vielen glaubensstarken Menschen, dass der Thomanerchor in diesem Jahr seinen 800. Geburtstag feiern und unseren Glauben heute in der Thomaskirche mit der Reformationskantate "Gott der Herr ist Sonne und Schild" stärken kann.

"Ganz oder gar nicht!" - Diese kompromisslose Alternative sieht Paulus auch beim Umgang von Menschen mit dem Gnadengeschenk Gottes: Auf Christus vertrauen und zusätzlich noch die eigene Rechtfertigung vor Gott durch eigene Leistungen absichern wollen - das geht nicht zusammen.

Martin Luther - dessen Reformation wir heute, auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017, in besonderer Weise gedenken -- hat uns genau das mit seinem "sola gratia - allein aus Gnade" erneut ins Gedächtnis gerufen: Wer sich Gottes Gnadengeschenk zusätzlich mit seinem Verhalten verdienen will, der fällt heraus aus Gottes Gnade! Wer Gott gegenüber auf Ansprüche aus eigenem gerechtem Tun setzt, überschätzt sich selbst und seine Möglichkeiten - und landet nicht selten in Selbstgerechtigkeit. Gott schenkt seine Gnade ganz oder gar nicht!

Wenn Menschen dieses Gnadengeschenk Gottes aber ganz und gar annehmen, dann erwachsen ihnen Freiheit und die Kraft, Gerechtigkeit zu üben. Freiheit und Gerechtigkeit sind also nicht der Lohn für den Weg des Menschen zu Gott - wie ernsthaft und theologisch gebildet auch immer Menschen ihn suchen und wie ehrenwert und gesetzestreu auch immer Menschen leben und handeln. Gott findet vielmehr den Weg zu uns Menschen: In Jesus Christus kommt Gott uns Menschen unüberbietbar nahe, damit Freiheit und Gerechtigkeit fortan unser Leben bestimmen können.

"Zur Freiheit hat uns Christus befreit!" Das ist die entscheidende Botschaft für diesen Reformationsgottesdienst. Wir Menschen können uns der Gnade Gottes "ganz und gar" anvertrauen. Anvertrauen, Glauben - das ist die Antwort, die Gott von uns auf sein Entgegenkommen erwartet. Das war und ist die befreiende Botschaft, die Menschen zu allen Zeiten von Leistungsdruck und Größenwahn befreit - in ihrer Beziehung zu Gott und zu Menschen, in ihrem privaten wie in ihrem öffentlichen Leben und Handeln. Und das ist die befreiende Botschaft auch heute am Reformationstag des Jahres 2012.

Wie aber können wir die uns von Gott geschenkte Freiheit und Gerechtigkeit heute leben? Und wie entgehen wir der Gefahr, die uns von Gott geschenkte Freiheit zu verspielen?

Eine Gefahr, unsere Freiheit und Gerechtigkeit zu verspielen und aus der Gnade Gottes zu fallen, führt Paulus uns vor Augen: "Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt"

Bei dieser Warnung kommt es ganz entscheidend auf das kleine Wörtchen "durch" an. Paulus erteilt der Absicht, sich durch Gesetzestreue Gottes Gerechtigkeit zu verdienen, eine Absage. Er verurteilt aber nicht das Bemühen, mit Gottes Geboten und Weisungen den Glauben im Alltag zu leben.

Auch die Evangelien machen das deutlich: Es ging Jesus in seinem Predigen und Handeln nicht darum, die in der jüdischen Tradition überlieferten Gebote und Weisungen Gottes aufzuheben, sondern zu erfüllen. Für Jesus - und so auch für seine Nachfolger und Nachfolgerinnen - hat das Gesetz Gottes eine unersetzbare soziale Funktion: Ein Leben mit Gottes Gesetz hilft Menschen in Frieden und Gerechtigkeit miteinander zu leben.

Allerdings: das Gesetz Gottes hat für Menschen keine rettende Heilsfunktion: Menschen können durch ein Leben nach Gottes Gesetz weder das Gottesreich errichten noch sich ihre eigene Gerechtigkeit vor Gott erwerben. Paulus sagt das in unserem Predigttext so: "Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss."

"Warten im Geist durch den Glauben" redet keinem untätigen Ausharren das Wort. Christenmenschen sollen sich ihrer aktiven Weltverantwortung nicht durch Jenseits-Träumereien entziehen. Es geht Paulus um ein Warten und Hoffen, das sich in einem tätigen Glauben ausdrückt. In einem gerechten und barmherzigen Tun, das auf die wirksame Gegenwart Christi im Geist vertraut und das sich auch durch Rückschläge und Misserfolge nicht entmutigen lässt.

Dietrich Bonhoeffer hat das in einem Bekenntnis so ausgedrückt: "Ich glaube, dass uns Gott in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen."

Dass die Bindung an Gottes Gesetz und die Einhaltung religiöser Traditionen dem Menschen nicht seine Gerechtigkeit vor Gott sichern können, macht Paulus am Beispiel der Beschneidung deutlich. Paulus führte dabei eine andere Beschneidungsdebatte als wir heute. Ihm ging es nicht darum, den Ritus der Beschneidung für die jüdische Religion in Frage zu stellen. Auch heute sollten sich die Kirchen davor hüten, jüdische und muslimische Gläubige zu belehren, welche Traditionen für ihre Gottesbeziehung grundlegend oder verzichtbar sind. Darüber hinaus treten wir entschieden an ihre Seite, wenn durch Rechtsentscheidungen jüdisches und muslimisches Gemeindeleben in unserem Land unmöglich zu werden droht. Paulus lehnt allerdings ab, dass Christen das Zeichen der Beschneidung als heilsnotwendig ansehen: "Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist."

Im diesem letzten Vers des Predigttextes hat Paulus verdichtet, worauf es "erst-rangig" ankommt, wenn wir danach fragen, wie wir die uns von Gott geschenkte Freiheit und Gerechtigkeit heute leben: Unser Glaube soll durch die Liebe tätig werden!

Nicht, damit Gott uns Freiheit und Gerechtigkeit schenkt.
Sondern: Weil Gott uns Freiheit und Gerechtigkeit schenkt.
Nicht, damit Gott uns liebt.
Sondern: Weil Gott uns liebt.

Weil Gott uns liebt und weil er uns Freiheit und Gerechtigkeit aus Gnade schenken will, hat er uns Wege gewiesen, "selig" - also von seiner Gegenwart begleitet - zu leben und zu sterben. Deshalb wird es die Kantate uns gleich jubelnd zusingen: "Gottlob, wir wissen den rechten Weg zur Seligkeit!"

Und Jesus Christus hat uns konkrete Schritte dieses Weges in seinen Seligpreisungen ans Herz gelegt, wir haben es in der Evangeliumslesung gehört:

Gottes Wort schenkt uns die Freiheit, uns nicht länger im Besitz von elitären Gotteserkenntnissen und absoluten Wahrheiten wähnen zu müssen. Wir können immer wieder neu nach Gottes Wort und Willen für uns und für unsere Welt fragen und suchen, denn Jesus sagt uns zu: "Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich."

Gottes Wort macht uns davon frei, menschliches Leid als göttliche Strafe oder als Gottes Ferne deuten zu müssen. Wir können darauf vertrauen, in Freud und Leid bei Gott geborgen zu sein, denn Jesus sagt uns zu: "Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden."

Gottes Wort macht uns frei von dem Drang, unsere eigenen Interessen rücksichtslos und mit Gewalt durchzusetzen. Wir können mit Geduld und mit sanftem Mut für Recht und Frieden und die Bewahrung der Schöpfung eintreten, denn Jesus sagt uns zu: "Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen."

Gottes Wort schenkt uns die Freiheit, vorfindliche Traditionen und menschenfeindliche Machtstrukturen zu hinterfragen. Wir müssen uns mit Unrecht und Gewalt nicht abfinden, denn Jesus sagt uns zu: "Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden."

Gottes Wort befreit uns von der Faszination unserer Sinne durch Reichtum, Ruhm und Macht. Wir können unsere Herzen, unsere Augen und unsere Hände gegenüber den Benachteiligten und Notleidenden öffnen, denn Jesus sagt uns zu: "Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen."

Gottes Wort schenkt uns die Freiheit, unser Vertrauen auch in Krisen durchzuhalten. Wir müssen uns unser Vertrauen nicht durch schlechte Erfahrungen, Missbrauch und Negativprognosen zerstören lassen, denn Jesus sagt uns zu: "Selig sind, die reinen Herzens sind; "denn sie werden Gott schauen."

Gottes Wort befreit uns aus dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt. Menschen konnten und können Kerzen den Kanonen entgegensetzen, denn Jesus sagt uns zu: "Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen."

Gottes Wort schenkt uns die Freiheit, um der Liebe willen auch Verzicht zu leisten und persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, denn Jesus sagt uns zu: "Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich."

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Zur Freiheit eines Glaubens, der das Heil nicht in der eigenen Gesetzestreue sucht. Zur Freiheit eines Glaubens, der sich der Gnade Gottes und der Gegenwart Christi in unserer Zeit anvertraut. Zur Freiheit eines Glaubens, der durch die Liebe tätig wird.

Wir können uns und unser Leben für die Gnadengeschenke Gottes öffnen - ganz und gar! Dazu leite und begleite uns auch die Reformationskantate mit der inständigen Bitte an Gott:

"Erhalt uns in der Wahrheit, gib ewigliche Freiheit, zu preisen deinen Namen durch Jesum Christum.

Amen."