Afghanistan: „Hoffnung auf dünnem Eis“

EKD-Delegation zieht erste Bilanz

Vom 1. bis 5. Februar 2011 hat eine Delegation der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Soldatinnen und Soldaten der Deutschen Bundeswehr sowie zivile Aufbauprojekte in Masar-i-Sharif (Afghanistan) besucht. Der Delegation gehörten neben dem Vorsitzenden des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider, der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Pastor Renke Brahms, sowie der evangelische Militärbischof, Landessuperintendent Martin Dutzmann, an.

Nach der Rückkehr sagte der Ratsvorsitzende heute in Düsseldorf: „Wahrzunehmen und zuzuhören – das war der wichtigste Zweck unserer Reise. Zudem gilt: Viele Soldatinnen und Soldaten sind unsere Gemeindeglieder, und gute Pfarrer besuchen ihre Leute!“ Die Gespräche hätten ihn sehr beeindruckt, so Schneider weiter. Er sei angetan davon, „wie intensiv Angehörige der Bundeswehr ihren Einsatz und ihre persönliche Situation reflektierten.“ Allerdings hätten die Soldatinnen und Soldaten den Eindruck, dass häufig „auf ihrem Rücken“ politische Streitigkeiten ausgetragen würden, „die nichts mit ihnen zu tun haben.“ Schneider bekräftigte, dass die Angehörigen der Bundeswehr gerade angesichts der besonderen Situation in Afghanistan der „aufmerksamen und umfassenden seelsorglichen Begleitung“ bedürften.

Schneider sagte, im Gespräch mit Vertretern ziviler Organisationen in Afghanistan habe ihn positiv überrascht „wie viel dort geschieht“. Auch habe er eine „neue Sicht“ auf das Thema Sicherheit gewonnen. Schneider: „Die Mehrzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der zivilen Organisationen sagten uns, dass es zurzeit noch nötig ist, dass die Bundeswehr mithilft, Sicherheit in der Fläche zu gewährleisten. So kann die zivile Aufbauarbeit beginnen. Aber auf Dauer, so der Ratsvorsitzende, könne nur eine andere Art von Sicherheit „nachhaltig“ wirken, nämlich, dass die Aufbauarbeit von der afghanischen Bevölkerung gewollt und mitgetragen wird. Diese nachhaltige, langfristige Art von Sicherheit könne von der Bundeswehr nur „vorbereitet“, aber nicht „erzeugt und garantiert“ werden. Deswegen sei es wichtig, so Schneider weiter, dass die „vollständige Übergabe der militärischen und polizeilichen Sicherheitsaufgaben von der Bundeswehr an die afghanischen Kräfte“ bald vollzogen werden könne, denn die Bundeswehr sei schon fast zehn Jahre im Land und deutsche Soldaten dürften nicht zu „Besatzern“ werden.

In einer ersten Bilanz fasste der Ratsvorsitzende seine Eindrücke so zusammen: „Es gibt Hoffnung in Afghanistan – aber es ist Hoffnung auf dünnem Eis. Das heißt: Allen Hoffnungszeichen zum Trotz kann die Mission auch scheitern. Das haben wir bei allen Gesprächspartnern – den militärischen und zivilen – deutlich gehört. Deswegen kommen wir nicht ohne Hoffnung zurück, aber keineswegs sorgenfrei, denn das Eis kann brechen.“

Der Friedensbeauftragte der EKD und leitende Geistliche der Bremischen Evangelischen Kirche, Renke Brahms, erinnerte daran, dass die EKD bereits vor einem Jahr in ihrem Wort „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ ein stärkeres Augenmerk für die zivile Aufbauarbeit gefordert habe. Er bedaure sehr, dass die Mandatsverlängerung im Deutschen Bundestag am 28. Januar 2011 wieder eine „rein militärische“ gewesen sei. Es wäre angemessen gewesen, wenn es neben der offiziellen militärischen auch eine offizielle zivile Mandatierung gegeben hätte. Der öffentliche Blick, so Brahms, sei leider sehr auf das „rein militärische“ fokussiert, dabei sei auch auf dem Sektor des zivilen Aufbaus schon längst vieles „in Gang gekommen“.

Im Blick auf den Fortgang der zivilen Projekte forderte Brahms eine „bessere Kommunikation und Koordination der am Afghanistaneinsatz beteiligten Bundesministerien“ Hier gebe es, so hätten Gesprächspartner in Afghanistan bestätigt, „noch viele Entwicklungsmöglichkeiten“, die für den Erfolg der zivilen Mission von großer Bedeutung seien. Positiv wertete Brahms hingegen, dass es im vergangenen Jahr 2010 nahezu eine Verdoppelung der zivilen Aufbaumittel für Afghanistan durch die Bundesregierung gegeben habe.

Der Friedensbeauftragte beurteilte die neue offensive Strategie der Bundeswehr kritisch, und äußerte „große Zweifel“, ob die neue, deutlich offensivere Strategie der ISAF-Truppen in Afghanistan mit der bisherigen friedensethischen Ausrichtung der evangelischen Kirche in Einklang zu bringen sei. Schließlich forderte Brahms, dass finanzielle Mittel, die frei würden, wenn die deutschen Soldaten und Soldatinnen sich aus Afghanistan zurückzögen, in der Form von Entwicklungshilfe den Menschen in Afghanistan zugutekommen solle. Brahms: „Nur wenn es eine Übergabedividende gibt, die dem im Aufbau befindlichen Land zugutekommt, kann die Exit-Strategie zum Erfolg führen.“

Der evangelische Militärbischof Martin Dutzmann wertete positiv, dass im jüngsten Bericht der Bundesregierung erstmals eine „ehrliche Zwischenbilanz“ zu lesen sei. Er hob hervor, dass die Mandatsverlängerung vom 28. Januar erstmals „die Reduktion bzw. das Ende des militärischen Engagements“ in den Blick genommen habe. Allerdings warnte Dutzmann ausdrücklich vor Euphorie, denn: „Mit der neuen Strategie ist der Einsatz erheblich gefährlicher geworden!“ Mehr denn je bräuchten Soldatinnen und Soldaten deswegen seelsorgliche Begleitung, denn neben den Problemen, die die lange Trennung von ihren Angehörigen bereiteten, werfe die neue Einsatzstrategie „grundlegende ethische Fragen“ auf.

Deshalb hätten „unsere Soldatinnen und Soldaten“ einen Anspruch darauf zu erfahren, für welche Zwecke die Bundesrepublik Deutschland ihre Streitkräfte einsetze – und für welche nicht. Diese Frage, so Dutzmann, sei nach dem Ende des Kalten Krieges „bis heute“ nicht beantwortet. Dutzmann: „Erst seit der Bombardierung zweier gestohlener Tanklastzüge nahe Kunduz im September 2009 ist in der Öffentlichkeit klar, dass deutsche Soldaten in Ausführung ihres Auftrages kämpfen und töten.“ Angesichts der damit verbundenen ethischen und seelsorglichen Fragen, so der Militärbischof, müsse es ein „sicherheitspolitisches Gesamtkonzept“ geben.

Abschließend sagte Dutzmann, dass im vergangenen Jahr 2010 im Blick auf das deutsche Engagement in Afghanistan „einiges geschafft“ worden sei. Das gebe Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Gleichzeitig aber sei beim Besuch in Afghanistan klar geworden, dass „neue Herausforderungen“ zu bewältigen seien.

Düsseldorf / Hannover, 06. Februar 2011
 
Pressestelle der EKD
Reinhard Mawick