Schuld, Befreiung, Neuanfang

Landesbischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx zum 70. Jahrestag des Kriegsendes

Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, erklären aus Anlass zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren:

„Am 8. Mai 1945 schwiegen in Europa die Waffen. Am Ende von nahezu sechs Jahren Krieg stand die bedingungslose Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschland, das diesen Krieg entfesselt hatte. Europa lag in Trümmern, Millionen Menschen waren getötet, geschändet und auf der Flucht.

Wenn wir dieses Tages heute gedenken, sind wir dankbar, dass aus den äußeren Trümmern und den inneren Zerrüttungen nach dem totalen Zusammenbruch eine neue stabile, friedliche und demokratische Ordnung Europas erwachsen ist. Die ehemaligen Kriegsgegner haben, entgegen allem Erwartbaren, dem deutschen Volk die Hand zur Versöhnung geboten. Diese ausgestreckte Hand erleichterte es Deutschland wesentlich, seine Schuld für einen verbrecherischen Vernichtungs- und Auslöschungskrieg ehrlich zu bekennen. Die Anerkennung von Schuld und Verantwortung für viele Millionen gefallene Soldaten, getötete Zivilisten, verfolgte und geknechtete Menschen und, vor allem anderen, für die unvorstellbaren Gräuel der Shoah ist heute ein unverrückbarer Teil der politischen Identität unseres Landes. Wir gedenken der Opfer von Krieg, Unrecht und Gewalt mit tiefer Bewegung. Die Opfer und ihre Geschichte bleiben anwesend und rufen uns auch heute in die Verantwortung.

Es ist sehr schmerzhaft zu erkennen, dass auch Christen und Kirchen durch ihr Tun und durch ihr Schweigen schuldig geworden sind und dass der Riss zwischen Tätern und Opfern mitten durch die Kirchen ging. Wir gedenken voller Dankbarkeit der mutigen Zeuginnen und Zeugen, die dem Unrecht und der Barbarei widerstanden. Wir bekennen aber auch, dass die Kirchen sich dem Unrecht nicht deutlich widersetzt haben und auch viele Christen sich der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus und den daraus entspringenden verbrecherischen Taten bereitwillig geöffnet haben.

Es hat lange Zeit gedauert, bis man in Deutschland den 8. Mai 1945 nicht nur als Tag der Niederlage, sondern als ,Tag der Befreiung‘ anerkennen wollte. Als im Jahr 1985 der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmt gewordenen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes vom 8. Mai als dem ,Tag der Befreiung‘ sprach, löste diese Wendung leidenschaftliche Debatten aus. Heute sehen wir klarer. Für Deutschland war der 8. Mai ein Tag des geschenkten und unverdienten Neubeginns. Aber für viele bedeutete es auch Flucht, Vertreibung und die durch die Blockkonfrontation erzwungene deutsche Teilung. Es führte nicht für alle Menschen in Deutschland und Europa in die Freiheit, sondern brachte auch andere Systeme der Unfreiheit, die selbstverständlich nicht mit dem Nationalsozialismus vergleichbar sind. Auch dies gehört in die Spur der Gewalt, die durch den von Deutschland entfesselten Krieg ausging.

Der Prozess der europäischen Einigung war und ist eine konkrete und unverzichtbare Antwort auf diese Erfahrungen. Wir sind dankbar für das auf diesem Weg Erreichte. Aber Frieden und Wohlstand herrschen nicht in ganz Europa. Gewalt und Krieg sind auch auf unserem Kontinent, entgegen anderer Hoffnungen, noch nicht überwunden. Mit großer Sorge blicken wir nach wie vor auf die Spannungen auf dem Balkan, in Bosnien und im Kosovo. Wir nehmen wahr, wie im Konflikt im Osten der Ukraine und auf der Krim wieder Grenzen mit kriegerischer Gewalt verändert werden, Menschen in die Flucht getrieben und getötet werden. Wir sehen: Friede und Freiheit in Europa sind eine ständige Aufgabe. Dazu ist die Einheit Europas, wie sie besonders in der Europäischen Union vorangetrieben wurde und wird, eine notwendige Voraussetzung.

Der Blick auf das Kriegsende mit seinen Millionen entwurzelter und fliehender Menschen macht uns heute neu aufmerksam auf die Not und das Elend der Menschen, die als Flüchtlinge einen Platz zum Überleben in Europa suchen. Dass an den Grenzen Europas Tausende ihr Leben verlieren, ist für uns unerträglich. Das darf nicht hingenommen werden!
In der unmittelbaren Nachbarschaft Europas, im Nahen Osten und in Nordafrika, brechen Staaten auseinander, die Menschenrechte werden in furchtbarer Weise missachtet. Mord, Folter und Gewalt bestimmen den Alltag. Gerade viele Christen werden Opfer religiöser Verfolgung. Geprägt durch die Erfahrungen der großen Kriege trägt Europa heute eine Verantwortung als Friedensmacht. In Syrien, im Irak, in Libyen und an anderen Orten bedarf es eines engagierten Beitrags Deutschlands und Europas zu glaubwürdigen politischen Lösungen und zu einer Ordnung des gerechten Friedens.

Für unsere Kirchen glauben und bekennen wir gemeinsam in ökumenischer Verbundenheit mit den Worten des Apostels Paulus: ,Christus ist unser Friede‘ (Epheser 2,14). Die liebende Zuwendung Gottes überwindet den Hass und öffnet den Raum des Friedens. In einer Zeit, in der von neuem die Stimmen von Hass und Gewalt laut werden, erinnern wir an die geschichtlichen Erfahrungen Europas, an Krieg, Zerstörung und Schuld und an Neubeginn, Vergebung und Versöhnung. Wir bitten die Christinnen und Christen, diejenigen, die Verantwortung tragen in Politik und Gesellschaft, und alle Menschen guten Willens, im Beten und im Tun den Weg des Friedens und der Gerechtigkeit zu gehen.“

Hannover, 6. Mai 2015

Pressestelle der EKD
Carsten Splitt