Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? - Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik (1)

Wolfgang Huber

Potsdam

Das Jahr 1989 hat in vielen Hinsichten eine neue Situation geschaffen. Auch Friedensverantwortung und Friedensethik sind davon betroffen.(2)  Wichtige Einsichten, die in der Auseinandersetzung mit dem Wettrüsten in der Zeit des Kalten Kriegs und in der Phase des Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung gewachsen waren, bewährten sich auch in der neuen Situation; andere mussten neu gewonnen werden. Die Kundgebung der EKD-Synode von Osnabrück 1993 und der Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Schritte auf dem Weg des Friedens. Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik“ von 1994 markierten im evangelischen Bereich eine erste friedensethische Ortsbestimmung unter den neuen Bedingungen.(3)  Dabei machte die EKD Gebrauch von einem weitgehenden Konsens in der evangelischen Friedensethik, nämlich von der Ausrichtung auf das der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugeschriebene Paradigma vom gerechten Frieden. Dabei fühlte sich die EKD durch die Tatsache bestärkt, dass viele der christlichen Kirchen in Europa, aber auch die römisch-katholische Kirche(4) , sich in den letzten Jahrzehnten von der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg abwandten und die neue Lehre vom "gerechten Frieden" als Überwindung der alten Lehre und zugleich als ihre konstruktive Weiterführung zu etablieren suchten. Die Lehre vom "gerechten Krieg", die seit der Antike die christliche Friedensethik als unangefochtenes Paradigma bis weit in das 20. Jahrhundert konkurrenzlos beherrscht hatte, schien damit für immer zu den Akten gelegt zu sein.

In jüngster Zeit aber meldet sich vermehrt Widerspruch zu Wort. Eine Wiedervorlage der alten Akte wird gefordert. Die Aufgaben der Friedenssicherung in einer globalisierten Welt, die nur noch eine Supermacht, aber viele regionale Konfliktherde kennt, haben ein neues friedensethisches Nachdenken ausgelöst. Die Frage nach Kriterien für die Beurteilung militärischer Interventionen in solchen regionalen Konflikte bestimmt die friedensethische wie auch die völkerrechtliche Diskussion. Der zweite Golfkrieg 1991, die NATO-Intervention im Kosovo 1999, die Allianz gegen den Terrorismus und der Afghanistankrieg 2001 und der Irakkrieg 2003 waren Fälle, an denen sich die Kontroverse in der Beurteilung militärischer Gewalt immer wieder neu entzündete. Vor allem im anglo-amerikanischen(5) , neuerdings auch im deutschsprachigen Bereich(6) , und so auch im Raum der EKD erheben sich Stimmen, die Kritik an der Lehre vom "gerechten Frieden" üben und die Rückkehr zur überkommenen Lehre vom "gerechten Krieg" fordern.

Was etwa die Anglikanische Kirche angeht, so hat im vergangenen Jahr eine friedensethische Fachtagung zwischen der EKD und der Church of England(7)  die unterschiedlichen Sichtweisen nicht nur deutlich gemacht, sondern auch plausible historische Motive aufgezeigt, die zu unterschiedlichen friedensethischen Entwicklungen in Großbritannien und Deutschland führten. Die Briten waren sich eben sicher, im Zweiten Weltkrieg auf der richtigen Seite gestanden zu haben - der Krieg gegen Hitler-Deutschland war für sie "beyond all doubt a just war". Die Deutschen dagegen leben seit Jahrzehnten mit der bitteren Einsicht, dass sie in zwei Weltkriegen auf der Seite des Unrechts gestanden hatten. Ihr Zweifel, ob es denn überhaupt gerechte Kriege geben könne, ist auch daraus motiviert.(8)  Es ist eine zutiefst selbstkritische Haltung, die sich hier niederschlägt. In ihr werden Erfahrungen von Schuld, Scham, Reue und Umkehr verarbeitet.

So ist es verständlich und verwunderlich zugleich, dass neuerdings auch in der deutschsprachigen evangelischen Sozialethik die Forderung auftaucht, man brauche doch wieder eine Lehre vom gerechten Krieg und müsse diese traditionelle Lehre ganz oder teilweise wieder beleben. Ich nenne hier exemplarisch die Namen der Sozialethiker Ulrich H. J. Körtner(9), Martin Honecker(10) und Michael Haspel(11).  Gelegentlich äußern sich auch leitende Geistliche der EKD in diesem Sinn.(12)

Ich versuche in diesem Vortrag, auf die wichtigsten Argumente einzugehen, die dazu in der evangelischen Sozialethik der jüngsten Vergangenheit vorgebracht wurden. Doch werde ich zunächst die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg knapp umreißen (I) und im Anschluss daran einige Stationen in der Entwicklung einer Lehre vom gerechten Frieden darstellen (II), damit deutlich wird, welche alternativen Denkwege sich hier eröffnen. Sodann gehe ich im Einzelnen auf die Argumente ein, die für eine Erneuerung der Lehre vom gerechten Krieg angeführt werden, und beleuchte diese kritisch (III). Schließlich, in einem kurzen Schlussteil, versuche ich, die wesentlichen Gesichtspunkte zu bündeln, die im Umkehrschluss für eine Lehre vom gerechten Frieden sprechen (IV).


I. Umriss der Lehre vom gerechten Krieg

Die in der theologischen Ethik beheimatete Lehre vom gerechten Krieg steht sachlich zwischen der Lehre vom Heiligen, also von Gott gewollten Krieg, und einem radikalen christlichen Pazifismus. Ihr Ziel liegt nicht in einer kritiklosen Bejahung der Gewaltanwendung, sondern in ihrer kritischen Begrenzung. Zur Lehre vom gerechten Krieg passt deshalb keine religiös motivierte Kriegsbejahung oder gar Kriegsbegeisterung. Sie hat etwas eigentümlich Säkulares und Nüchternes an sich. Von der Lehre vom gerechten Krieg aus lässt sich aber auch kein generelles "Nein" zu jedem nur denkbaren Krieg begründen. Krieg ist weder notwendig wie in der bellizistischen Philosophie noch begrüßenswert wie im Konzept des Heiligen Krieges. Aber er ist auch nicht ausgeschlossen wie im radikalen Pazifismus; er ist vielmehr (leider Gottes) möglich. Die Lehre vom gerechten Krieg behauptet somit die grundsätzliche Kontingenz und damit die Vermeidbarkeit wie die Führbarkeit des Krieges.
Im Ausgang von antiken Überlegungen bei Cicero und in der Stoa findet sich die Lehre explizit bei Aurelius Augustinus (354-430). Thomas von Aquin (1225-1274) systematisiert sie in seiner "Summa Theologica"(13) zu einer klaren Drei-Kriterien-Lehre. Die spanischen Spätscholastiker des 16. Jahrhunderts (Vitoria, Sepulveda u.a.) schreiben sie fort und differenzieren ihre Kriterien weiter aus. Die Lehre sagt im Kern: Auf dieser Welt gibt es Kriege. Diese sind zwar nicht heilig. Aber sie können sehr wohl unter bestimmten Bedingungen gerecht, d.h. gerechtfertigt, sein. Dazu müssen sie folgende Hauptkriterien erfüllen:

1. Kriterien des ius ad bellum (Recht zum Krieg)

Die Kriegführung bedarf einer legitimen Autorität (legitima auctoritas)

Das erste Kriterium bei Thomas von Aquin: Keine Privatperson darf Kriege führen. Dies dürfen nur die dazu legitimierten Herrscher.Die

Kriegführung bedarf eines gerechten Grundes (causa iusta).

Das zweite Kriterium bei Thomas von Aquin: Darunter fällt u.a. auch die Rache für erlittenes Unrecht, nicht aber die Absicht persönlicher Bereicherung.   Die Kriegführung bedarf einer guten Absicht (recta intentio).

Das dritte Kriterium bei Thomas von Aquin: Gutes soll gefördert, Übles verhütet werden. Das Ziel der Kriegführung muss die Herstellung des Friedens sein.

Dies sind die drei klassischen Kriterien des Thomas von Aquin. Das erste Kriterium soll allen Formen der Privatfehde den Boden entziehen. Das zweite Kriterium enthält die Bindung an ein übergeordnetes Rechtsverständnis. Das dritte Kriterium schließlich unterwirft die Anwendung militärischer Gewalt der Aufgabe, den Frieden wiederherzustellen.

Die weitere Entwicklung dieser Lehre hat das letzte Kriterium weiterentwickelt. Denn es geht auch um die Unterwerfung der militärischen Gewalt unter die Aufgabe des Friedens, wenn nun gefordert wird: Der Krieg muss unvermeidlich, alle anderen Möglichkeiten müssen ausgeschöpft sein (ultima ratio).

Hierbei muss, wie man inzwischen deutlicher sieht, unterschieden werden zwischen der zeitlichen und der sachlichen (qualitativen) Interpretation des Terminus "ultima ratio". Mitunter muss sehr schnell gehandelt werden, um Menschenleben retten zu können. Dann darf nicht endlos abgewartet werden.

Dabei muss eine realistische Aussicht auf Erfolg bestehen, eine nüchterne Kalkulation muss die erfolgreiche Beendigung des Krieges von Anfang an im Blick haben.

2. Kriterien des ius in bello (Recht im Krieg)

Den drei klassischen Kriterien für das ius ad bellum treten ferner die Kriterien des ius in bello zur Seite. Die Kriegführung bedarf der angemessenen Weise (debitus modus) und der quantitativen Verhältnismäßigkeit (proportionalitas) im Hinblick auf die angewendete Gewalt. So müssen Unschuldige und Zivilisten weitestgehend geschont und Kriegsgefangene menschlich behandelt werden. Auch wäre es unangemessen, beispielsweise ein ganzes Volk auszurotten, um einige wenige Menschenleben zu retten.

Nur ein Krieg, der diesen Kriterien vollständig oder jedenfalls annähernd vollständig genügt, kann als gerecht gelten.

Martin Luther (1483-1546) und die anderen Reformatoren akzeptierten im Wesentlichen das Konzept vom gerechten Krieg, auch wenn sie im Augsburger Bekenntnis (Artikel XVI) nur vom "iure bellare", nicht vom "bellum iustum" sprachen.  Auf diesen Aspekt werde ich später zurückkommen.

Wichtig ist gerade für die Reformatoren, dass die Absicht der Lehre vom gerechten Krieg von ihren Anfängen her war, Kriege zu verhindern (Kriegsprävention) und zu begrenzen (Kriegslimitation). Zwei Voraussetzungen sind grundlegend: Zum einen soll niemand Richter in eigener Sache sein; zum andern gilt: Wer Krieg anfängt, ist im Unrecht. Mit großer Klarheit unterstreichen die Reformatoren den Gesichtspunkt, dass nur der Verteidigungskrieg ein legitimer Krieg sein kann.

Faktisch wurde diese Lehre im Lauf der Geschichte jedoch häufig zur Kriegslegitimation missbraucht. Nun schließt die Tatsache, dass eine Lehre missbraucht werden kann, nicht aus, dass sie gut, richtig und sinnvoll gebraucht werden kann: Abusus non tollit usum. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die US-amerikanischen römisch-katholischen Bischöfe ebenso wie beispielsweise der amerikanische Philosoph Michael Walzer ihre Ablehnung des Irakkrieges im Frühjahr 2003 (des sogenannten "3. Golfkriegs") unter Hinweis auf die Lehre vom gerechten Krieg begründet haben. Der Irakkrieg sei kein gerechter Krieg, denn er widerspreche einer Reihe von Kriterien des ius ad bellum ebenso wie des ius in bello so eklatant, dass er auf ihrer Basis nicht gerechtfertigt werden könne.

Aber bis hinein in diese modernen amerikanischen Weiterentwicklungen einer Lehre vom „just and limited war“ hinein muss man immer wieder feststellen, dass diese Lehre keineswegs eindeutig ist. Das zeigen zwei weit verbreitete und in ihrer Auswirkung geradezu gegensätzliche Auslegungsmöglichkeiten. Man muss nämlich unterscheiden zwischen einer heuristischen und einer restriktiven Auslegungsweise. Was ist damit gemeint?

a) In der heuristischen (oder minimalen) Auslegung sind die in der Lehre enthaltenen Kriterien als offene Prüfmaßstäbe zu verstehen, die mehr oder weniger erfüllt sein können.(14) Die logische Verbindung der Kriterien besteht in der Figur der Disjunktion. Sie sind verbunden durch ein logisches „oder“ beziehungsweise durch ein "oder auch". Die Legitimation eines Krieges braucht nicht notwendigerweise auf die Erfüllung aller Kriterien gestützt zu werden, sondern kann in einem gegebenen Fall bereits durch die Erfüllung einiger Kriterien gegeben sein. Ein klassisches Beispiel aus der neueren Zeit bildet der Kosovo-Krieg.  Er wurde nicht im Einklang mit den Grundsätzen der Charta der UN geführt; insofern war keine „legitima auctoritas“ gegeben. Auf der anderen Seite wurde beansprucht, mit dieser Intervention Menschenleben zu retten und das Unrecht der Vertreibung der Kosovaren zu beenden; insofern galt der Grundsatz der "recta intentio" als erfüllt. Und wenn dieser Krieg tatsächlich Menschenrechtsverletzungen in erheblichem Umfange verhindert haben sollte (was aus heutiger Perspektive umstritten ist), dann hätte es auch eine "causa iusta" gegeben.

Gegen die heuristische Interpretation der Lehre vom gerechten Krieg kann man den Vorwurf der Maßstabslosigkeit oder der Beliebigkeit erheben. Denn es besteht die Gefahr, dass man sich die Kriterien nach Belieben aussucht, auf die man die Legitimität des Krieges zu stützen versucht. Die Gedankenfigur des von beiden Seiten gerechten Krieges kann dadurch leicht wieder belebt werden. Denn mit welchem Argument kann man auf dieser Basis zwingend gegen einen Krieg votieren? Irgendein Kriterium wird immer erfüllt sein, das einen gerechten Krieg gestatten könnte, vielleicht sogar mehrere. Andere mögen dagegen nicht erfüllt sein, in der Regel ebenfalls mehrere.

b) In der restriktiven (oder maximalen) Interpretation besteht die logische Verbindung der Kriterien in einer strengen Konjunktion; die Kriterien sind durch ein "und" miteinander verbunden. Nur wenn alle Kriterien der Lehre zweifelsfrei und in vollem Umfang erfüllt sind, gilt ein Krieg nach dieser Betrachtungsweise als legitim. Dieser restriktiven Interpretation zufolge kann nun allerdings nahezu niemals ein Krieg wirklich gerechtfertigt werden. Denn einzelne Kriterien sind sicherlich immer unerfüllt; oder ihre Erfüllung kann zumindest mit guten Gründen bezweifelt werden. In der Weimarer Republik gab es etwa den Dominikanerpater Franziskus M. Stratmann, damals Chefdenker des "Friedensbundes der Deutschen Katholiken". Er legte die Lehre vom gerechten Krieg in dieser restriktiven Weise aus.  Es war seine Form der Reaktion auf das Grauen des Ersten Weltkrieges.

Auch die friedensethischen Ausführungen Michael Haspels tendieren in diese Richtung. Das muss man auch dann festhalten, wenn der Autor beteuert, seines Erachtens müsse es in der evangelischen Friedensethik denkbar sein, die Anwendung militärischer Gewalt zu gestatten. Auf der anderen Seite erhebt er jedoch unter Berufung auf die neuere amerikanische Just and Limited War Theory für den Einsatz militärischer Gewalt die strenge und nahezu unerfüllbare Forderung, alle Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg müssten "gleichzeitig" erfüllt sein.(16)  Wann wird dies aber jemals der Fall sein?

Abseits der theologischen Diskussionsstränge folgt dieser Auffassung zum Beispiel Alois Riklin(17), wenn er postuliert, die von ihm unterschiedenen und explizierten Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg müssten "kumulativ" erfüllt sein. Allerdings lässt die Rede von einer "kumulativen" Erfüllung eine quantitative Interpretation zu. Ein "mehr oder weniger" müsste entsprechend definiert werden, ein Schwellenwert wäre erforderlich. Liegt dieser bei der Erfüllung aller sechs Kriterien? Oder genügt es, wenn die Mehrzahl von ihnen erfüllt ist? Kann die Nichterfüllung eines einzigen Kriteriums u.U. schon ein hinreichendes Gegenargument sein?

Derartige restriktive Auslegungen der Lehre vom gerechten Krieg laufen im Ergebnis auf einen de-facto-Pazifismus hinaus. Darunter verstehe ich eine Haltung, die zwar nicht den radikalen Pazifismus vertritt, aber behauptet, die Voraussetzungen, unter denen eine Gewaltanwendung ethisch zu rechtfertigen sei, seien in dem jeweils gegebenen speziellen Fall faktisch nicht erfüllt. Durch die beliebige Iteration dieses Verfahrens entspricht diese Haltung extentional(18) dem prinzipiellen Pazifismus. Ein de-facto-Pazifismus ist verantwortungsethisch jedoch kaum nachzuvollziehen. Denn er erklärt den Einsatz militärischer Gewalt zwar prinzipiell für möglich. Von ihm her wäre jedoch nicht einmal die Selbstverteidigung eines Staates gegen gewaltsame Angriffe anderer Staaten, wie sie ausdrücklich in der UN-Charta (Kap. VII, Art. 51) vorgesehen ist, zu rechtfertigen.

Jedoch nicht nur die Doppeldeutigkeit, die sich in den Extremen der heuristischen und der restriktiven Interpretation äußert, ist an dieser Lehre problematisch. Schließlich sind auch andere Lehren mehrdeutig, zweifellos auch die Lehre vom gerechten Frieden. Es stellt sich vielmehr eine ganz grundsätzliche Frage, die sich schon auf der semantischen Ebene äußert und die eigentlich sofort jeden stutzig machen müsste: Kann der entscheidende Grundbegriff für die christliche Friedensethik der Begriff des Krieges sein, und sei es auch der des gerechten Krieges? Frieden ist schließlich etwas anderes als Kriegsverhinderung oder Kriegsführung mit der Intention des Friedens. Biblische Begriffe wie Schalom und Eirene führen uns das vor Augen. Frieden meint mehr und ist der Sache nach umfassender, tiefer und reicher als die bloße Abwesenheit von Krieg. Er ist seinem Wesen nach zutiefst verbunden mit Recht und Gerechtigkeit. Er wurzelt in Vertrauen und führt zu Sicherheit, wohlgeordneten Zuständen, trägt auch zur Überwindung von Not und Unfreiheit bei. Und er verweist symbolisch auf das Heil, auf das Menschen hoffen und das ihnen nach christlichem Verständnis in Jesus Christus zuteil wird. Von ihm sagt das Neue Testament deshalb: „Er ist unser Friede“ (Epheser 2,14). Wenn von Frieden in dieser umfassenden und nach meiner Überzeugung angemessenen Weise die Rede sein soll, dann legt sich der Kriegsbegriff jedenfalls nicht als Grundbegriff nahe, auch nicht der Begriff des gerechten Krieges.


II. Hinweise zum historischen Hintergrund des Begriffs "gerechter Friede"

Von vielen Seiten wird das neue Paradigma vom gerechten Frieden als Alternative oder endgültige Überwindung der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg gesehen oder gar als identisch mit dem prinzipiellen Pazifismus betrachtet. Ein Blick auf die Begriffsgeschichte zeigt jedoch, dass diese Identifizierungen oder Affinitäten nicht zwangsläufig bestehen müssen. Ich erwähne in aller Kürze drei prominente Beispiele, an denen sich das zeigen lässt: Augustinus, Woodrow Wilson und Karl Barth. Bei allen dreien findet sich der Begriff des gerechten Friedens.

(1.) Der historische Ursprung des Begriffs bei Aurelius Augustinus

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der theologische Begründer der Lehre vom gerechten Krieg, nämlich Augustinus, auch den Begriff des "gerechten Friedens" geprägt hat. Im Anschluss an klassische biblische Belege wie Psalm 85,11 oder Jesaja 32,17 spricht Augustinus von der "iusta pax Dei" und sieht auch im sogenannten "gerechten Krieg" nichts anderes als ein Mittel zur Herstellung eines gerechten Friedens.(19) Doch trotz der Einführung des Begriffs durch Augustin kam es nicht zur Ausbildung einer umfassenden Lehre vom gerechten Frieden. Die Entwicklung dieser Lehre im Sinne einer expliziten Ausarbeitung sollte eben erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Angriff genommen werden.

(2.) Die Verwendung der Formel bei Woodrow Wilson

Ganz säkular verwandte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson die Formel vom "gerechten Frieden" im Jahre 1917. Im Kontext von Überlegungen, die den Kriegseintritt der USA in den Ersten Weltkrieg begründen sollten, schrieb er: "Die Frage, von der der zukünftige Frieden und die zukünftige Politik der Welt insgesamt abhängen, ist diese: Ist der gegenwärtige Krieg ein Kampf für einen gerechten und sicheren Frieden [Hervorhebung durch den Verfasser] oder nur für ein neues Machtgleichgewicht? [...] Statt eines Machtgleichgewichts muss es eine Machtgemeinschaft geben; keine organisierten Rivalitäten, sondern einen organisierten gemeinschaftlichen Frieden."(20)

Noch Wilsons 14-Punkte-Programm vom 8. Januar 1918 ist von der Idee eines möglichen gerechten Friedens inspiriert, auch wenn der Begriff dort nicht fällt. Interessant ist, dass der Formel vom "gerechten Frieden" in diesem Zusammenhang etwas Zwiespältiges anhaftet: Denn Wilson war einerseits ein klarer Befürworter des amerikanischen Kriegseintritts, er war Interventionist. Derselbe Wilson aber trat für die Verwirklichung der von Immanuel Kant entworfenen Idee eines Völkerbundes, des Vorläufers der heutigen Vereinten Nationen, in der internationalen Politik ein. Er zielte auf "Machtgemeinschaft, keine organisierten Rivalitäten, sondern einen organisierten gemeinschaftlichen Frieden". Die ihm zugedachte Hauptaufgabe, Kriege zu verhindern, konnte der Völkerbund indes nicht lösen. Ausgerechnet die USA selbst traten dem Bund nicht bei und schwächten somit von Anfang an seine Autorität erheblich.

Der Begriff des „just and durable peace“ taucht in der amerikanischen Diskussion auch während des Zweiten Weltkriegs auf und findet von hier aus auch Eingang in die ökumenische Diskussion. Ohne Zweifel haben wir hier eine der wichtigen Wurzeln für die neuere Diskussion über den „gerechten Frieden“ zu sehen.

(3.) Der Begriff des "gerechten Friedens" bei Karl Barth

Auch der evangelische Kirchenvater des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, gebrauchte in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts den Begriff des gerechten Friedens. In einem Brief an Willem A. Vissert Hooft vom 13. April 1939 schrieb er: "Sollen die Kirchen jetzt wieder einfach um den Frieden in blanco beten (1938, in den Tagen von München haben wir es bekanntlich getan) oder bewusst und bestimmt um einen gerechten Frieden [!] und deshalb bewusst und bestimmt (den Willen Gottes, der auch die beste Sache unterliegen lassen kann, vorbehalten!) um den Sieg dieser und nicht jener Waffen?"(21) Für Barth schloss der Gedanke des "gerechten Friedens" ausdrücklich die Möglichkeit des bewaffneten Kampfes, in diesem Fall gegen das nationalsozialistische Deutschland, ein. Ein Friede um jeden Preis mit dem Deutschland Adolf Hitlers, die fatale Konsequenz der damaligen Appeasement-Politik Neville Chamberlains, war für Barth ein fauler, letzten Endes ein ungerechter Friede. In einem Brief vom Herbst 1939 an den in Prag lebenden Joseph Hromadka begründete Barth die Notwendigkeit, gegen Hitler bewaffneten Widerstand zu leisten, sogar mit der Auferstehung Jesu Christi, also "steil dogmatisch". Das Bekenntnis zum Leitbild des gerechten Friedens schließt nach Barth folgende Elemente ein: die Einsicht in den unauflöslichen, substanziellen Zusammenhang von Recht, Gerechtigkeit und Frieden, die nüchterne Wahrnehmung der jeweiligen weltpolitischen Realität, das Erkennen der denkbaren äußersten Möglichkeit, als Christen unter Umständen einen bewaffneten Konflikt austragen zu müssen und schließlich die vernünftige Kalkulation der möglichen Folgen einer militärischen Auseinandersetzung - oder aber der Folgen der Unterlassung einer solchen. Barth war als wehrhafter Schweizer Demokrat eben alles andere als ein Pazifist.

(4.) Der Sprachgebrauch im Gefolge des Konziliaren Prozesses und in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts

In den Achtzigerjahren des zurückliegenden Jahrhunderts wurde die Formel neu aufgegriffen und vor dem Hintergrund der globalen atomaren Bedrohung durch das Wettrüsten der damaligen Weltmächte pazifistisch aufgeladen. Insbesondere in der DDR entstand die Idee einer neuen, um diesen Begriff sich rankenden christlichen Friedensethik. In dieser Zeit und vor dem Hintergrund des Nuklearpazifismus der 80er-Jahre entwickelte sich eine stark pazifistische Konnotation des Begriffs "gerechter Friede". Die Lehre vom gerechten Frieden und der radikale christliche Pazifismus wurden gleichsam zu Synonymen. Im Zuge der Diskussionen des sog. "Konziliaren Prozesses" für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung kam es im Jahr 1989 zu folgender programmatischen Formulierung:

"Mit der notwendigen Überwindung der Institution des Krieges kommt auch die Lehre vom gerechten Krieg, durch welche die Kirchen den Krieg zu humanisieren hofften, an ein Ende. Daher muss schon jetzt eine Lehre vom gerechten Frieden entwickelt werden, die zugleich theologisch begründet und dialogoffen auf allgemein-menschliche Werte bezogen ist. Dies im Dialog mit Andersglaubenden und Nichtglaubenden zu erarbeiten, ist eine langfristige ökumenische Aufgabe.“

Das Zitat belegt: Die Lehre vom gerechten Frieden wird hier nicht als ein fertiges Produkt vorgestellt. Es wird vielmehr dazu aufgefordert, sie zu entwickeln. Sie wird als notwendig empfunden, weil die Lehre vom gerechten Krieg nicht mehr als tragfähig und hilfreich, sondern als überholt und schädlich gesehen wird. Nach einer Formulierung Horst Schefflers besteht das Neue in der Lehre vom gerechten Frieden darin, die vorrangige Option für Gewaltfreiheit bei der Lösung von Konflikten zu behaupten.(22) Daran ist sicherlich etwas Richtiges. Aber es geht noch um mehr: "Si vis pacem, para pacem". So haben Dieter Senghaas und Eva Senghaas-Knobloch dies einmal überschrieben und damit der überkommenen Logik des Grundsatzes "Si vis pacem, para bellum"(23) widersprochen.

Parallel zu solchen Entwicklungen in Europa wird die Lehre vom gerechten Frieden auch in den USA entwickelt. Amerikanische Kirchen – die United Church of Christ beispielsweise – , die keineswegs von ihrer Tradition her durchgängig pazifistisch sind, verstehen sich heute programmatisch als „just peace church“. Darüber hinaus wird die Konzeption des gerechten Friedens in der katholischen Soziallehre aufgenommen, wie das Hirtenwort der deutschen katholischen Bischöfe exemplarisch deutlich macht. Nicht mehr nur die Frage, unter welchen Kriterien Gewalt angewandt werden darf, sondern die weiterreichende Frage, wie der Frieden der Herrschaft der Gewalt abgerungen werden kann, ist die Leitfrage.

Klar ist: Es geht darum, etwas historisch Neues, in die Zukunft Weisendes zu entwerfen, das so bisher nicht existiert hat. Dabei steht der Gedanke einer konstitutiven Interdependenz von Frieden, Gerechtigkeit und Recht im Vordergrund. Und es geht darum, auf diejenigen Konstitutionsfaktoren hinzuweisen, die Frieden in einem qualitativ gehaltvollen Sinne (also nicht als bloße Abwesenheit von Krieg) überhaupt erst möglich machen. Für Dieter Senghaas etwa fassen sich diese Faktoren in seinem Schema des zivilisatorischen Hexagons zusammen. Ähnliche Überlegungen finden sich dies bei Dieter Wellershoff, der zusätzlich den Gesichtspunkt der individuellen Freiheit in Verbindung mit den Menschenrechten betont. Ich folge hier dem klassischen, bekannt gewordenen Konzept von Senghaas:

In dieser Perspektive herrscht Frieden dann vor, wenn eine Konstellation von sich gegenseitig stützenden Bedingungen vorhanden ist, die sich ansatzweise im Sinne der Bündelung historischer Erfahrungen realiter beobachten lassen und gleichzeitig doch eine "Idee" im Kantschen Sinne bleiben, also als Begriff von einer "Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet". Die sechs Eckpunkte einen solchen zivilisatorischen Hexagons können wie folgt beschrieben werden:

a) Wesentlich für das Zivilisierungsprojekt sind die Entprivatisierung von Gewalt und die Herausbildung eines legitimen Gewaltmonopols. Ohne die "Entwaffnung der Bürger" könne es keinen ewigen, bzw. modern formuliert, dauerhaften Frieden geben.

b) Die Kontrolle des Gewaltmonopols und die Herausbildung von Rechtsstaatlichkeit sind wiederum Voraussetzung dafür, dass das öffentliche Gewaltmonopol nicht despotisch missbraucht wird.

c) Durch wachsende Interdependenzen und durch die Entprivatisierung von Gewalt bildet sich eine zunehmende Affektkontrolle im gegenseitigen Umgang miteinander heraus, die von Norbert Elias als "Prozess der Zivilisation" eindrucksvoll beschrieben ist. In der Folge mag dies auch zu "Gefühlsräumen" führen, die die lokalen Grenzen überschreiten und in eine "nationalen Identität" münden.

d) Damit ist auch die Grundlage für die demokratische Beteiligung an den Prozessen politischer Entscheidungsfindung gelegt.

e) Ein weiteres Element ist die soziale Gerechtigkeit. Die materielle Anreicherung von Rechtsstaatlichkeit ist eine konstitutive Bedingung der Lebensfähigkeit von rechtsstaatlichen Ordnungen und damit des inneren Friedens.

f) Schließlich bildet eine konstruktive Konfliktkultur, Bereitschaft zur produktiven Auseinandersetzung mit Konflikten und kompromissorientierte Konflikten, den letzten Eckpunkt des Hexagons.

Frieden als Zivilisierungsprojekt wird somit zum Streben nach einer legitimen gerechten Ordnung: In diesem Sinne sind gelungene Zivilisierung und Frieden "identische Tatbestände". Man muss dem Modell von Dieter Senghaas nicht in allen Einzelheiten zustimmen. Vielleicht sind Korrekturen oder Ergänzungen zu diesem Modell nötig. Sicher ist aber: Dies alles muss mit im Blick sein, wenn es darum gehen soll, die wesentlichen Inhalte der Lehre vom gerechten Frieden darzustellen.


III. Argumente für die Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg

Welche Argumente werden nun für die Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg aufgeboten, und wie sind diese Argumente hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit einzuschätzen? Zunächst wird man einräumen müssen: Der erneute Rückgriff auf diese Lehre erklärt sich aus der Veränderung der zeitgeschichtlichen Umstände. Die Vorstellung, mit dem Ende des Kalten Kriegs sei Friedensethik kein Thema mehr, weil der Frieden sich nun von selbst verstehe, erwies sich schnell als trügerisch. Stattdessen vermehrte sich die Zahl gewaltsamer Auseinandersetzungen, die sich aus ethnischen Konflikten, aus dem Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols und aus regionalen Auseinandersetzungen ergaben. Die Frage nach Notwendigkeit und Grenzen militärischer Einsätze in solchen Situationen stellte sich neu. Der erneute Rückgriff auf die Lehre ist eine Reaktion auf diese Lage; auch in der ethischen Diskussion ist man gut beraten, nüchtern einzuräumen, inwiefern neue Akzentsetzungen der ethischen Argumentation Reaktionen auf veränderte Bedingungen darstellen. Dafür, in dieser Situation nicht die Lehre vom gerechten Frieden weiterzuentwickeln, sondern zur Lehre vom gerechten Krieg zurückzukehren, werden vor allem sechs gewichtige Argumente vorgebracht.

(1) Das Uneinigkeitsargument: Die christlichen Kirchen seien in friedensethischer Hinsicht keineswegs intern oder gar untereinander einig gewesen.

(2) Das Gesinnungsethik-Argument: Es bestehe mindestens ein starkes gesinnungsethisches Gefälle in den Verlautbarungen der EKD. Die Äußerungen der Kirchen wiesen keinen Weg zu einem konkreten Handeln etwa im Hinblick auf das diktatorische Regime Saddam Husseins.

(3) Das Utopismus-Argument. Die Kriege auf dem Balkan sollten den Kirchen den utopischen Charakter der Vorstellung von der Überwindung der Institution des Krieges vor Augen führen. Damit aber werde die Frage unausweichlich, ob nicht auch weiterhin eine christliche Lehre vom Gerechten Krieg notwendig sei.

(4) Das Bekenntnis-Argument. Das Thema sei zudem zumindest im lutherischen Bereich bekenntnisrelevant. Denn CA XVI bejahe ausdrücklich das Recht des Staates, "rechte Kriege zu führen" (iure bellare). Diese Formulierung impliziere die Vorstellung und die Lehre vom gerechten Krieg.

(5) Das kriteriologische Argument: Alle Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg kehrten innerhalb des Paradigmas vom gerechten Frieden wieder. Das zeige die Unhintergehbarkeit der traditionellen Lehre.

(6) Das Substitutions-Argument. Für den Fall, dass Instanzen des Völkerrechts versagen oder fehlen, zeige sich, dass auch weiterhin eine eigenständige ethische Theorie des gerechten Krieges nötig sei. Diese ethische Theorie sei schon deshalb nötig, weil andernfalls die Frage von Krieg und Frieden auf eine juristische und politische Frage reduziert werde. Sie habe aber doch ein eigenes, ein ethisches Gewicht.

Ich gehe nunmehr der Reihe nach auf diese Argumente ein:

(1') Das Uneinigkeitsargument:

Wenn behauptet wird, die Kirchen seien sich in friedensethischer Hinsicht in der letzten Zeit keineswegs einig gewesen, so stimmt dies zwar, soweit ich dies beurteilen kann, im Hinblick auf den Kosovo-Krieg. Und es ist in schwächerem Sinn auch richtig in Bezug auf den Afghanistankrieg. Es trifft aber nicht im Blick auf den Irak-Krieg zu. Im Gegenteil, man könnte fast sagen: Nie waren sich die Kirchen weltweit einiger als in der Ablehnung genau dieses Krieges. Und dies gilt nicht nur für den engeren Bereich der EKD oder der großen deutschen Kirchen. Selbst die Kirchen in den USA lehnten im Ergebnis in einer geradezu überwältigenden Geschlossenheit den Irak-Krieg ab, mit Ausnahme freilich der nicht unbedeutenden Southern Baptist Church. Die EKD wurde aber von ihren unmittelbaren kirchlichen Partnern, zu denen die südlichen Baptisten nicht gehören, gebeten, an ihrer klaren Position gegen diesen Krieg festzuhalten, da sie so die Kirchen in den USA sachlich unterstütze. Im Blick auf den Irak-Krieg ist das Uneinigkeitsargument also eigentlich kaum haltbar.

Aber was besagt der Vorwurf der Uneinigkeit in diesem friedensethischen Zusammenhang überhaupt? Eine bestehende Uneinigkeit könnte darauf hinweisen, dass in einer ethischen oder moralischen Ermessensfrage faktisch kein Konsens zu Stande kam. Es kann sich also um eine Uneinigkeit in der Anwendung dieser Lehre handeln. Solche Uneinigkeit beobachten wir in der Anwendung der Lehre vom gerechten Frieden genauso wie in der Anwendung der Lehre vom gerechten Krieg. In der Abwägung zwischen diesen beiden friedensethischen Ansätzen führt das Argument also überhaupt nicht weiter. Denn es sagt gar nichts im Blick auf den Ansatz, auf dessen Basis der Konsens gesucht wurde, es sei denn, auf dieser Basis wäre prinzipiell kein Konsens möglich. Uneinigkeit könnte aber auch hinweisen auf sachlogische Spannungen und Widersprüche in der Wahrnehmung der Realität, in der Analyse der Situation. Dann muss das Problem aber auch dort gesucht werden, wo es tatsächlich besteht – insbesondere in den Einschätzungen, die der Anwendung des Kriteriums von der „ultima ratio“ zu Grunde liegen. 

(2') Das Gesinnungsethik-Argument

Es wurde während der Auseinandersetzung um den Irak-Krieg im Blick auf die EKD schon von Daniel Deckers in der F.A.Z. im Februar 2003 erhoben. Ich hatte seinerzeit als Mitglied des Rats der EKD die Gelegenheit, mit einem eigenen Artikel auf Deckers Angriffe zu reagieren. Ich wies auf Karl Barths Begriff des gerechten Friedens hin, der den Gedanken des Einsatzes militärischer Gewalt als ultima ratio, also einer im qualitativen Sinne verstandenen äußersten Möglichkeit, konsequent einschließt und deshalb im verantwortungsethischen Sinne handlungsfähig bleibt. Insofern jegliche Gewaltanwendung der UNO-Resolution 1441 kategorisch abgelehnt worden sei, müsse die Position vieler kirchlicher Verlautbarungen als gesinnungsethisch verstanden werden, meint nun auch Ulrich H.J. Körtner. Hier ist zunächst zu fragen, an welche Verlautbarung Körtner denkt. Es gab ja seinerzeit eine Fülle kirchlicher Äußerungen, die sich übrigens immer noch auf der Homepage der EKD finden(24) und sich daher unter diesem und anderen Aspekten umfassend analysieren lassen. Die EKD selbst hat in ihrer Erklärung vom 24.01.2003 klar gesagt, dass sie "zum gegenwärtigen Zeitpunkt" und unter den gegebenen Voraussetzungen einen Krieg gegen den Irak "derzeit" nicht für befürwortbar halte. Sie hat damit ihre Aussage klar konditioniert. Gesinnungsethik kennt freilich keine solchen Konditionierungen. Nüchtern betrachtet hat die EKD sich im Hinblick auf die Irakfrage nirgends gesinnungsethisch positioniert. Das von Körtner und anderen vorrangig kritisierte Dokument, die sog. "Berliner Erklärung" der Kirchenführer vom 5.2.2003, ist ja keine Äußerung der EKD, sondern eine unter großem Zeitdruck entstandene ökumenische Äußerung, an der die EKD beteiligt war, ohne jedoch ihre eigene Argumentationslinie dort entfalten zu können. Ich will hier nicht beurteilen, ob sich in dem Text Anzeichen einer Gesinnungsethik finden lassen. Richtig an jenem Dokument war jedenfalls, dass es beabsichtigte, den drohenden Krieg zu verhindern. Insofern war es aus meiner Sicht jedenfalls verantwortungsethisch intendiert.

(3') Das Utopismus-Argument

Dieses Argument ist mit dem Gesinnungsethik-Argument eng verwandt, ohne mit ihm identisch zu sein. U-topos heißt ja wörtlich: Es gibt keinen Ort, an dem wirklich sein könnte, was hier vor Augen gestellt wird. Das Utopismus-Argument im Hinblick auf den Frieden lautet: Einen ewigen Frieden wird es auf dieser Welt niemals geben, die Überwindung der Institution des Krieges ist prinzipiell nicht möglich. Nun ist es ja denkbar, dass derzeit die Überwindung von Kriegen nicht möglich ist, dass dies aber eines Tages in ferner Zukunft einmal Wirklichkeit werden könnte. Aber selbst wenn dies nicht einmal denkbar wäre, so kann dennoch die Idee dieser Überwindung als eine regulative Idee dem moralischen Handeln und der ethischen Orientierung von Menschen zu Grunde liegen. Körtner geht es, das ist positiv hervorzuheben, um eine "wirklichkeitsgerechte Friedensethik", d.h. um eine solche Friedensethik, die die gewalttätige Natur der Menschen realistisch in Rechnung stellt. Diesem Anspruch genügt die Lehre vom gerechten Frieden schon deshalb, weil sie - im Gegensatz zum radikalen Pazifismus - u.a. den Gedanken der ultima ratio festhält. Die Lehre vom gerechten Frieden hat daher keinen utopischen Charakter, auch wenn sie in ihrem Kern mit der Hoffnung auf die Überwindung von destruktiver Gewalt und Krieg verbunden ist. Das Festhalten an dieser Hoffnung muss jedoch weder zu einem "Verlust an Glaubenstradition" noch zur "Moralisierung des Christlichen"(25) führen.  Politische Bemühungen um den Frieden und zivile Friedensdienste sind auf ihre Weise Anwälte einer solchen Hoffnung. Doch diese Hoffnung ist ebenso überall dort lebendig, wo es mit Hilfe der Präsenz militärischer Gewalt gelingt, die Anwendung solcher Gewalt zu verhindern oder zu beenden. Ganz gegen das Utopismus-Argument muss man nach meiner Überzeugung sagen: Ohne eine Hoffnung, die über die Anwendung der Gewalt hinausreicht, wird alles Bemühen kraftlos, das auf die Beendigung solcher Gewalt und den Aufbau von Strukturen gerichtet ist, in denen das Recht über die Gewalt herrscht. Jeder, der in diesem Feld handelt, ist angewiesen auf ein Licht der Hoffnung, das sich der Dunkelheit kriegerischer Gewalt und Zerstörung. Jeder ist darauf angewiesen, dass die Hoffnung auf einen Frieden jenseits der Gewalt auch einen Ort erhält, und sei dieser Ort zunächst auch so armselig wie der Stall von Bethlehem.

(4') Das Argument der Bekenntnisrelevanz

Ferner wird argumentiert, zumindest in den lutherischen Kirchen berühre das friedensethische Thema eine Bekenntnisfrage, da die in den lutherischen Kirchen in Geltung stehende Confessio Augustana (CA) von 1530 in ihrem XVI. Artikel die Lehre vom gerechten Krieg vertrete. Dieses Argument sieht zweifelsohne etwas Richtiges, auch wenn die Rede vom "iure bellare" nicht zwangsläufig identisch sein muss mit der Lehre vom "bellum iustum". Dazu drei Gedanken:

Erstens ist es richtig, dass die Reformatoren gegen die in der Theologie seit Augustinus vorherrschende Lehre vom gerechten Krieg keinen grundsätzlichen Einspruch erhoben. Diese klassische Lehre blieb der gültige Referenzrahmen auch für die reformatorische Friedensethik. Zwischen der römisch-katholischen Kirche und der lutherischen Seite gab es an diesem Punkt keine bemerkenswerte und von den Auslegern beider Seiten faktisch bemerkte(26) Differenz.

Zweitens führt dies zur Frage nach der Hermeneutik von Bekenntnissen überhaupt. Kirchlichen Bekenntnissen wie der CA geht es sicherlich darum, eine historische Kontinuität aufzuzeigen, die Grundmerkmale der eigenen kirchlichen Identität festhält. Bei den klassischen Bekenntnisschriften handelt es sich ja um historische, nicht um zeitgenössische Dokumente. Deshalb kommt es darauf an, sie kritisch und produktiv zugleich auszulegen. Das Augsburgische Bekenntnis zeigt, dass die Reformation nicht von einem prinzipiellen Pazifismus geleitet war. Es zeigt nicht, dass man nicht über die Lehre vom gerechten Krieg hinausgehen dürfe.

Drittens: Folgt man der Auslegung von Torleiv Austad, so meint CA XVI mit der Formel "iure bellare" nicht "gerechte Kriege", sondern "rechtmäßige, d.h. nach den damaligen Rechtsvorstellungen legitime Kriege"(27). Genauer müsste man die grammatische Konstruktion von Verb und Adverb allerdings nicht substantivisch übersetzen, sondern verdeutlichen, dass mit ihr gemeint ist, dass Kriege nach CA XVI auf rechtmäßige Weise ("nach dem Recht") geführt werden können.(28) Hier geht es historisch wohl auch um die Rehabilitation des Soldatenberufs, der von Seiten mancher Schwärmer(29) heftiger Kritik ausgesetzt war. Aus CA XVI lässt sich nun allerdings ableiten, und das ist der Sache nach durchaus zukunftsweisend, dass es für das Führen von Kriegen einen rechtmäßigen, gesetzlichen Rahmen geben müsse. Luther und die Reformatoren dachten natürlich an das innerhalb eines Staates geltende Recht. Deshalb war "Aufruhr" für sie das unmittelbare Gegenteil von "iure bellare". Luther hatte eben die Schrecken der Bauernkriege vor Augen, die gerade erst fünf Jahre zurücklagen. In der neueren Forschung wird daher die "irenische Intention" dieses Artikels betont. Angriffskriege und Religionskriege liegen zum Beispiel außerhalb des Radius des "iure bellare"(30). Luther konnte noch keine Vorstellung von einer internationalen Rechtsordnung im Sinne des modernen Völkerrechts haben. Nun aber muss eine Anknüpfung an dieses Dokument von 1530 auch im Blick haben, zu welchen Weiterentwicklungen das Völkerrecht durch die Schrecken genötigt wurde, zu denen moderne Kriegführung im Stande ist.

(5') Das kriteriologische Argument

Das Argument besagt: Alle Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg kehren innerhalb des Paradigmas vom gerechten Frieden wieder. Das zeige die Unhintergehbarkeit der traditionellen Lehre.

Es ist richtig und von der EKD auch nicht bestritten, sondern klar gesagt worden, dass die Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg etwa auch in der neueren Diskussion um die sog. "humanitären Interventionen" eine entscheidende Rolle spielen. Dabei werden von der EKD nicht nur die klassischen Kriterien aufgeführt (legitima auctoritas, causa iusta, ultima ratio, proportionalitas etc.), vielmehr werden auch neue Gesichtspunkte eingeführt. So wird in der EKD-Schrift von 2001 betont, da die "Orientierungspunkte" von 1994 von dem Gedanken durchdrungen seien, eine internationale Friedensordnung als internationale Rechtsordnung zu befördern, müsse daher für die ethische Beurteilung von militärischen Nothilfemaßnahmen im internationalen Kontext stets auch geprüft werden, "... ob solche Maßnahmen letztendlich den Aufbau und die Weiterentwicklung einer internationalen Rechtsordnung eher stärken oder schwächen." (Schritte auf dem Weg des Friedens, 3. Aufl. 2001, 79).

Die EKD versteht die Kriterien als formale Prüfgesichtspunkte, die kein materiales Urteil vorwegnehmen und kein einhelliges Urteil garantieren können. Denkt man sich pazifistisch militärische Gewalt als in jedem Fall zu vermeidende Größe oder aber bellizistisch den Krieg als das höchste nur denkbare Gut, dann braucht man keine Diskussion über Kriterien. Die EKD jedoch vertritt eine verantwortungsethische Position jenseits des prinzipiellem Pazifismus und erst recht des Bellizismus. Deshalb werden Kriterien benötigt. Das belegt aber nicht die Unhintergehbarkeit der Lehre vom gerechten Krieg, sondern nur die Unhintergehbarkeit der kriteriologischen Fragestellung. Diese kehrt eben in der Lehre vom gerechten Frieden zwangsläufig und folgerichtig wieder.

(6') Das Substitutionsargument:

Dieses Argument lautet in seiner stärksten und m.E. überzeugendsten Fassung, die ebenfalls Körtner vorgetragen hat:

a) Die friedensethischen Stellungnahmen der EKD erwecken tendenziell den Eindruck, als erübrige sich die ungeliebte Lehre vom gerechten Krieg, weil sie durch das moderne Völkerrecht ersetzt werde. Zweifellos bedeutet das grundsätzliche Gewaltverbot, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg in der Charta der Vereinten Nationen formuliert wurde, völkerrechtlich wie friedensethisch einen großen Fortschritt. Das Gewaltverbot der Vereinten Nationen negiert nämlich prinzipiell das ius ad bellum und vermeidet den unfruchtbaren Streit um die Definition von Krieg und Angriffskrieg, freilich um den Preis, dass eine Reihe von der Ausnahmetatbeständen aufgenommen werden musste. Das verband sich mit der Gefahr, dass unter dem Deckmantel dieser Ausnahmetatbestände die Gewalt dann doch wieder jenen Platz einnahm, von dem sie gerade vertrieben worden war.

b) Außerdem sei, so Körtner, die Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität in Erinnerung zu rufen. Auch wenn in der modernen Gesellschaft das Recht teilweise die Funktion der Moral übernommen habe, so werde diese doch nicht durch das Recht vollständig ersetzt. In dem Falle, dass Instanzen des Völkerrechts versagen oder fehlen, zeige sich, dass auch weiterhin eine eigenständige Theorie des gerechten Krieges nötig bleibe. Diesbezügliche Vorbehalte der evangelischen Kirche beruhen möglicherweise, so Körtner, auf der Verwechslung von ethischer und theologischer Theorie des Krieges. Dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll, besagt, dass die Entscheidung für oder gegen militärische Maßnahmen in jedem Fall die eigene Entscheidung des Menschen und nicht die Entscheidung Gottes ist. Eben darum bedarf es, so folgert Körtner, einer ethischen Theorie des gerechten Krieges, weil anderenfalls die Frage von Krieg und Frieden ausschließlich auf eine politische Ermessensfrage reduziert werde.

Zu dieser Argumentation ist zu sagen: Zwar beruft sich die EKD auf das moderne Völkerrecht. Im Anschluss an Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ setzt die EKD ihre Hoffnung darauf, dass die internationale Staatengemeinschaft sich in Form eines Völkerbundes, der UN, organisiert und die Konfliktaustragung durch rechtliche Grenzziehungen und Verfahrensweisen reguliert wird. Wenn ein Maßstab dafür gesucht wird, wie unter heutigen Bedingungen das Kriterium der "legitima auctoritas" gedacht werden kann, dann gibt die Charta der UN dafür die zentralen Anhaltspunkte. Die Aushöhlung des geltenden Völkerrechts etwa durch das interventionistische Handeln der NATO (wie im Kosovokrieg) oder durch den hegemonialen Unilateralismus der USA (wie im Irakkrieg) wird folgerichtigerweise kritisiert. Daraus folgt aber keineswegs, dass das Völkerrecht keiner ethischen Reflexion mehr fähig oder bedürftig sei. Im Gegenteil bleibt auch das Völkerrecht ethisch hinterfragbar, weil die Ethik nicht durch das Recht substituiert werden kann. Wäre es anders, könnte die EKD nicht die faktische Handlungsunfähigkeit der UN oder des Weltsicherheitsrates in bestimmten Situationen kritisieren und die Fortentwicklung des Völkerrechts nach ethischen Kriterien fordern. Das tut sie aber. Die EKD rechnet jederzeit mit dem denkbaren Fall, dass etwa die UN eine bestimmte Handlungsweise, also etwa die militärische Intervention in einem bestimmten Staat, für rechtens oder gar für geboten erklärt, die EKD aber einer solchen Intervention wegen ethischer Bedenken nicht zustimmen kann. Umgekehrt ist der Fall denkbar, dass die UN bzw. der Weltsicherheitsrat eine bestimmte militärische Maßnahme wie etwa eine militärische Intervention nicht billigen, die EKD aber dennoch eine solche Maßnahme für möglich hält. Der Kosovo-Krieg ist ein Beispiel für diese Sichtweise, wenn auch ein im Ergebnis problematisches. Beide denkbaren Optionen (keine Intervention trotz Beschluss der UN, Intervention ohne UN-Beschluss) beruhen auf der notwendigen Unterscheidung von Ethik und Recht, die die EKD der Sache nach vollzieht. Wenn die EKD aber so unterscheiden kann, dann ist das Substitutionsargument nicht stichhaltig. Das schließt die selbstkritische Frage nicht aus, ob sie immer gut und zutreffend unterschieden hat.

Ich habe mich mit sechs Argumenten auseinander gesetzt, die zugunsten einer Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg angeführt werden. Ich halte einige dieser Argumente für interessant und bedenkenswert. Aber keines von ihnen scheint mir so gewichtig zu sein, dass ich auf dieser Grundlage die Lehre vom gerechten Frieden aufgeben würde. Im Gegenteil, diese Lehre leistet etwas, das nur sie leisten kann. Davon soll in einer abschließenden Bewertung die Rede sein.


IV. Abschließende Überlegung: Gewichtung der Hauptargumente für die Lehre vom gerechten Frieden

Ich nenne hier abschließend zwei Hauptargumente, die mich dazu bewegen, für die Präzisierung und Fortentwicklung der Lehre vom gerechten Frieden zu plädieren:

(1.) Die Lehre vom gerechten Frieden benennt schon in ihrem Namen das Ziel und den Maßstab aller Politik, nämlich den Frieden, und zwar den Frieden in einem umfassenden Sinn. Krieg kann nicht das Ziel der Politik sein, jedenfalls nicht aus der Sicht des christlichen Glaubens; und auch nur in Ausnahmefällen kann Krieg ein Mittel der Politik sein. Nur eine konsequente Friedenspolitik ist nachhaltig. Die Lehre vom gerechten Krieg steht in der Gefahr, diesen zwingenden Zusammenhang zu übersehen.

Drei nahe liegende Konsequenzen aus dieser Einsicht: Ein Friedensforscher muss vorrangig den Frieden und seine Ursachen analysieren, nicht den Krieg. Ein Politiker muss in seinem praktischen Handeln den Frieden vorbereiten, nicht den Krieg. Und ein Vertreter theologischer Ethik muss vom Grundbegriff des Friedens her denken. Theologische Friedensethik kann nicht auf dem Begriff des Krieges aufbauen.

(2.) Der komplexe Begriff "gerechter Friede" betont die Zusammengehörigkeit und Interdependenz von Frieden, Recht und Gerechtigkeit. Friede kann nach dieser Auffassung nur wachsen, wo Recht und Gerechtigkeit gedeihen, und umgekehrt. Deshalb ist der Begriff des gerechten Friedens in seiner Aussagekraft sehr viel gehaltvoller und substanzieller als der Terminus "gerechter Krieg". Schon der Begriff macht sichtbar, worauf Friede beruht und wie er sich entwickeln kann.

Der Friede ist somit das ausschließliche Ziel und der Inhalt aller Politik(31), und die Ursache des Friedens besteht in einem komplexen Zusammenhang, der wesentlich Recht und Gerechtigkeit mit umfasst. Diese beiden Gedanken sind tragende Pfeiler der Lehre vom gerechten Frieden. Die vorgetragenen Argumente für eine Wiederbelebung der Lehre vom gerechten Krieg verstehe ich vor diesem Hintergrund dagegen allein als Gesichtspunkte anzusehen, die zur weiteren Klärung und Weiterentwicklung der Lehre vom gerechten Frieden beitragen. Dabei sind mir drei Gedanken wichtig, von denen ich vermute, dass sie einer Annäherung der Positionen oder zumindest einem besseren Verständnis füreinander dienen können:

Nicht alle Elemente der Lehre vom gerechten Krieg werden durch die Lehre vom gerechten Frieden gegenstandslos. Im Gegenteil. Manche Elemente, etwa die Kriterien der überkommenen Lehre oder der Gedanke der "ultima ratio", lassen sich innerhalb des neuen Paradigmas rekonstruieren und werden insofern aufbewahrt. Man kann daher sagen: Zwischen den beiden Lehren besteht keine völlige Diskontinuität. Vielmehr spricht einiges dafür, die Lehre vom gerechten Frieden als eine Fortentwicklung der Lehre vom gerechten Krieg zu verstehen, die deren Horizont systematisch erweitert und die grundbegrifflich eine größere Stimmigkeit anstrebt.

Die Kurzformel vom "gerechten Frieden" als Überschrift dieser in der Entstehung befindlichen Lehre ist auch ihrerseits gegen mögliche Missverständnisse nicht gefeit. Versteht man die Rede vom "gerechten Frieden" nämlich statisch im Sinne eines gegebenen oder jedenfalls in der Zeit erreichbaren Zustands, dann versteht man diesen Begriff falsch. Denn er bezeichnet eher einen Prozess als einen Zustand, eher eine regulative Idee als einen unter irdisch-weltlichen Bedingungen identifizierbaren Gegenstand. Wollte man dem vollständig gerecht werden, müsste man statt von einem "Paradigma des gerechten Friedens" von einer "Lehre von dem konstitutiven, interdependenten Zusammenhang zwischen Recht, Gerechtigkeit und Frieden" zu sprechen. Das wäre präziser, aber sicherlich nicht gerade griffig formuliert.

Die Lehre vom gerechten Frieden ist schließlich kein fertiges, gleichsam hermetisch abgeschlossenes Lehrgebäude, das von heute an bis in alle Ewigkeit Bestand hätte. Sie ist vielmehr ein im Entstehen begriffenes Gebilde, eine Lehre im Wachstum und in der Entwicklung. Und sie hat sich vor allem im ökumenischen Dialog und im Auswerten geschichtlicher Erfahrungen entwickelt. Insofern ist sie zukunftsoffen, nämlich ergänzungs- und korrekturbedürftig. Sie wird sich auch in den kommenden Jahren aufgrund neuer und besserer Einsichten und aufgrund von historischen Erfahrungen wandeln müssen.

Dabei wird es nicht nur auf die in der deutschsprachigen evangelischen Theologie oder im Raum der EKD geführten Gespräche ankommen. Wichtig sind auch die ökumenischen Kontakte. Besonders der Dialog mit der anglo-amerikanischen Tradition muss gesucht werden, die großenteils unbeirrt an der „just war-theory" festhält. Schließlich geht es nicht nur um eine innertheologische Fachdiskussion. Der Anschluss an die juristische Debatte und an den philosophischen Diskurs der Gegenwart muss ebenfalls hergestellt werden. Auch politische, strategische und militärgeschichtliche Aspekte müssen dabei Berücksichtigung finden.

Die Lehre vom gerechten Frieden wird sich in den kommenden Jahren vor verschiedensten Foren bewähren müssen - im ökumenischen Miteinander, im transatlantischen Dialog und im interdisziplinären Kontext. Ich bin davon überzeugt, dass sie ihre Bewährungsprobe bestehen, dass sie sich dabei aber auch weiter entwickeln wird.


Fußnoten:

(1) Vortrag im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam am 28. April 2004. Ich danke Eberhard Pausch für seine Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Textes.
 
(2) Zum Stand der Friedensethik zu diesem Zeitpunkt vgl. W. Huber / H.-R. Reuter, Friedensethik, 1990.
 
(3) Gemeinsam veröffentlicht in EKD-Texte 48, 1994, im Jahr 2001 ergänzt um den Text: Friedensethik in der Bewährung. Eine Zwischenbilanz

(4) Vgl. das Hirtenwort der deutschen katholischen Bischöfe vom 27. September 2000: Gerechter Friede, Bonn 2000.

(5) Ich erinnere an das Manifest der 60 US-amerikanischen Intellektuellen "Gerechter Krieg gegen den Terror" vom Frühjahr 2002, das eine heftige transatlantische Debatte auslöste. Für viele Deutsche war daran die Selbstverständlichkeit frappierend, mit der die amerikanische Seite auf den Topos des gerechten Krieges rekurrierte.

(6) Vgl. Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002, 56f. Münkler argumentiert, in den letzten Jahrzehnten habe der Krieg sein Gesicht gewandelt. Er werde weithin nicht mehr als klassischer Krieg zwischen souveränen Staaten geführt, sondern privatisiert und in weitem Umfange als Geschäft betrieben. Dem entspreche es, dass die Vorstellung vom gerechten Krieg auf die politische Bühne zurückkehre, da die Rechtsbezüge der Kontrahenten von vornherein als asymmetrisch gedacht werden müssten. Ähnlich Bernd Ludermann, der in einem "Zeitzeichen"-Artikel fordert, die deutsche Friedensforschung müsse sich auf neue Fragen nach dem gerechten Krieg einstellen (Zeitzeichen 3/2004, 8-11).

(7) Vgl. die epd-Dokumentation Nr. 41/2003: "Gerechter Krieg - ja oder nein?".

(8) Hans-Ulrich Wehler etwa hat jüngst die Kontinuität zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg sehr deutlich herausgearbeitet. Der Erste Weltkrieg habe als Auftakt und Vorbild für den Zweiten gedient. Ja, im Grunde seien die beiden als ein zusammengehöriges Ereignis im Sinne eines "zweiten Dreißigjährigen Krieges" zu sehen. Vgl. DER SPIEGEL Nr. 8/2004 (16.02.2004), 82-89.

(9) Ich beziehe mich vor allem auf folgende, von Ulrich H.J. Körtner verfasste Texte: Notorisch ausgeblendet: Das Konzept vom Gerechten Frieden weist zu viele Ungereimtheiten auf, in: Zeitzeichen 5 (2003), 14-16; Christliche Friedensethik in verantwortungsethischer Perspektive, in: Evangelische Verantwortung (7/8) 2003, 1-6; "Gerechter Friede" - "gerechter Krieg". Christliche Friedensethik vor neuen Herausforderungen, in: ZThK 3 (100.Jg.), 2003, 348-377. Vgl. aber auch: Ders.: Religion und Gewalt. Zur Lebensdienlichkeit von Religion in ihrer Ambivalenz, ZEE 2 (2003), 121-135.

(10) Martin Honecker: "Gerechter Friede und/oder gerechter Krieg", in: Kriterien der Gerechtigkeit, FS Christofer Frey, hg. von Peter Dalbrock u.a., Gütersloh 2003, 251-268.

(11) Michael Haspel: Friedensethik und humanitäre Intervention: Der Kosovo-Krieg als Herausforderung evangelischer Friedensethik, Neukirchen-Vluyn 2002. Haspel zeigt in einer gründlichen Analyse, dass der sog. "Kosovo-Krieg" mit großer Wahrscheinlichkeit alles andere als eine "humanitäre Intervention" war; wenn man ihn an den traditionellen Kriterien der Lehre vom "gerechten Krieg" misst, war er vielmehr ein ungerechtfertigter Krieg und insofern ungerecht. Haspel fokussiert die Lehre vom "gerechten Krieg" jedoch auf die Kriterienfrage und interpretiert diese sehr restriktiv.

(12) Etwa der Bischof der Württembergischen Landeskirche, Gerhard Maier (vgl. epd-ZA 131, 11.07. 2003).

(13) Vgl. Thomas von Aquino: Summe der Theologie, zusammengefasst, eingeleitet und erläutert von Joseph Bernhart, Bd. 3, "Der Mensch und das Heil", Stuttgart 3. Aufl. 1985, 187-192.

(14) Dahin tendiert "Schritte auf dem Weg des Friedens", EKD-Texte 48, Hannover 3. Aufl. 2001, 80, wo von "unerlässlichen Prüffragen" die Rede ist. Diese könnten indes auch bei sachgemäßer Anwendung nicht verhindern, dass "... die auf dieser Grundlage getroffenen Urteile möglicherweise voneinander abweichen". (a.a.O.).

(15) Vgl. die Ausführungen von Christoph Weber: "Christliche Pazifisten in der Weimarer Republik", in: Frieden in Geschichte und Gegenwart, hg. vom Historischen Seminar der Universität Düsseldorf, Düsseldorf 1985, 150-161, bes. 151-153. Weber wertet Stratmanns Haltung als "akademisches Glasperlenspiel" (153).
 
(16) Michael Haspel: Friedensethik und humanitäre Intervention: Der Kosovo-Krieg als Herausforderung evangelischer Friedensethik, Neukirchen-Vluyn 2002, 77, sowie ebd., 42.
(17) "Gerechter Krieg? Die sechs Kriterien einer neualten Theorie", in: Hans Küng/Dieter Senghaas (Hg.): Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen, München 2003, 279-287.

(18) Freilich nicht intentional, also im wesentlichen Sinngehalt.

(19) Vgl. den Hinweis von Wilfried Härle: "Zielperspektive: Gerechter Friede", in: Für Ruhe in der Seele sorgen: Evangelische Militärpfarrer im Auslandseinsatz der Bundeswehr, Leipzig 2003, 17-24, dort 18.

(20) Zitiert nach: Henry Kissinger: Die Herausforderung Amerikas, Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Aktualisierte Taschenbuchausgabe, Ullstein-Verlag 2003, 295.

(21) Das Barth-Zitat findet sich bei: Wolfgang Lienemann: Frieden, Vom 'gerechten Krieg' zum 'gerechten Frieden', Ökumenische Studienhefte 10, Göttingen 2000, 43.

(22) Horst Scheffler: "Krieg ist immer ein Verbrechen: Warum der Gerechte Friede in Zukunft das Ziel aller Politik sein muss", in: Zeitzeichen 5/2003, 11-13, dort 11.

(23) Wörtlich begegnet der Gedanke so in der Antike noch nicht. Aber der Sache nach findet er sich bereits bei Platon, Gesetze VIII, 829 A. Vgl. auch Cornelius Nepos, Epaminondas 5, 4; Livius VI, 18, 7; vor allem aber bei dem Kriegsschriftsteller Vegetius, III. Buch, Vorwort (4. Jahrh. n. Chr.).

(24) Siehe http://www.ekd.de/aktuell/442_2003_02_12
_irakkonflikt_stellungnahmen.html
.

(25) Martin Honecker: "Gerechter Friede und/oder gerechter Krieg", in: Kriterien der Gerechtigkeit, FS Christofer Frey, hg. von Peter Dalrock u.a., Gütersloh 2003, 266f.

(26) Bei sorgfältiger Exegese hätte der römisch-katholischen Seite allerdings die in geschickten Formulierungen versteckte Kritik an dem (monastischen) Eskapismus auffallen können, die in CA XVI sachlich enthalten ist.

(27) Torleiv Austad, in: ders./Horst Georg Pöhlmann/Friedhelm Krüger: Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, Gütersloh 1996, 126.

(28) "Iure" ist der Wortart nach ein Adverb und dem Verbum "bellare" (Krieg führen) zugeordnet. Das heißt, durch dieses Wort werden keine Kriege prädiziert, sondern das Führen von Kriegen. Es wird also nicht unterstellt, dass bestimmte Kriege mit der Eigenschaft versehen sein könnten, gerecht zu sein.

(29) Der sog. "linke Flügel" der Reformation war hinsichtlich der Gewaltfrage zutiefst gespalten. Die einen waren radikale Pazifisten ohne Wenn und Aber (Karl Holl nannte sie die "Leidentlichen"), die anderen (wie etwa Thomas Müntzer) befürworteten die Anwendung von Gewalt zur Schaffung einer christlichen Welt. Als die CA entstand, lagen die Bauernkriege bekanntlich erst vier, fünf Jahre zurück.

(30) Gunter Wenz: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, Bd. 2, Berlin/New York 1998, 453-456.

(31)  Vgl. hierzu Dolf Sternberger: Die Politik und der Friede, Frankfurt am Main 1986.