„Zukunft gestalten – Erwartungen an Religion und Glaube“ - Vortrag beim Advents – Empfang der Kirchenleitungen im Freistaat Sachsen in Dresden

Wolfgang Huber

I.

Von der Zukunft soll heute Abend die Rede sein. Doch in welchem Geist begegnen Christen der Zukunft? Lassen Sie mich auf diese elementare Vorfrage mit einem Gesangbuchvers antworten. Er stammt von Johann Gottfried Hermann und verdient es, auch deshalb zitiert zu werden, weil er auf dem Weg in unser derzeitiges Evangelisches Gesangbuch verloren gegangen ist:

„Geht hin, ihr gläubigen Gedanken,
ins weite Feld der Ewigkeit,
erhebt euch über alle Schranken
der alten und der neuen Zeit;
erwägt, dass Gott die Liebe sei,
die ewig alt und ewig neu!“

Ungehemmt lässt der Dichter den Blick des Glaubens Raum und Zeit überbrücken. Schranken, Einwände, Zeitläufe – sie scheinen nicht zu existieren. Wer den Blick in die Zukunft wirft und Gott vertraut, der steht in der Verheißung von Gottes Bund mit den Menschen von Anbeginn an.

In der Zukunft wohnt also kein anderer Gott als jener, den Juden und Christen seit alters verehren. Christen können sich deshalb vertrauensvoll der Zukunft zuwenden. Der Gott, der ihnen entgegenkommt, ist kein anderer als der, der mit ihnen ist und ihnen auf ihrem Weg vorangeschritten war. Gottes Liebe, so sagt es Johann Gottfried Herrmann, ist „ewig alt“.

Zugleich ist Gottes Liebe „ewig neu“. Sie stellt gerade keine Verlängerung des Wohlbekannten dar, vollzieht sich nicht als Wiederkehr des ewig Gleichen. Christen vertrauen darauf, dass die Zukunft für Überraschungen offen ist. Deshalb können wir die Zukunft, den Raum des Möglichen, niemals vollständig voraussagen oder planen. Jeder kennt solche Überraschungsmomente. Für mich ist der Herbst 1989 dafür ein unvergessliches Beispiel; was damals geschah, ging über unser aller Erwarten, ja auch über unser Bitten hinaus.

Die Zukunft liegt also nicht in unserer Gestaltungsmacht. Dennoch sind das Nachdenken über die Zukunft und der Versuch, auf sie gestaltend einzuwirken, weder unnötig noch unerlaubt. Fröhlich das Eigene tun und auf Gottes Zutun hoffen – so lässt sich die christliche Haltung zur Zukunft beschreiben. Prägnant hat Dietrich Bonhoeffer das aufgenommen. In einem Brief aus der Tegeler Haft richtet er seine Erwartungen an ein christliches Handeln darauf, dass es „Menschen geben (wird), die beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.“ Manchmal wird Bonhoeffers Wort nur in der Verkürzung zitiert, nach der es darauf ankomme, zu beten und das Gerechte zu tun. Doch Bonhoeffer geht über eine solche Weiterentwicklung des alten „ora et labora – bete und arbeite“ hinaus. Er beschreibt eine dreifache Grundhaltung des Christen gegenüber der Zukunft: Beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten. An diesem Dreiklang will ich mich in den Überlegungen des heutigen Abends orientieren.

II.

Doch auf dem Weg dazu ist die Vorfrage unumgänglich: Wieso eigentlich gerade Religion und Glaube? Weshalb sollen sie in besonderer Weise dazu beitragen, Zukunft zu gestalten?

Die Antwort ist einfach: Religion und Glaube bilden einen zentralen Bereich menschlichen Lebens. Zwar hat die Shell-Jugendstudie gerade der Behauptung widersprochen, wir erlebten gegenwärtig eine „Renaissance der Religion“. Bei Jugendlichen kann man vielmehr in Fragen des Glaubens eine breite Streuung von Positionen wahrnehmen. Dennoch lässt es sich nicht bezweifeln: Die meisten Prognosen der letzten Jahrzehnte zur Rolle der Religion haben sich als falsch erwiesen. Zwar hat sich in Europa die Rolle die Kirchen während der vergangenen zweihundert Jahre tiefgreifend verwandelt. In vielen Bereichen haben sie im Prozess der Säkularisierung ihre unmittelbare, mit staatlicher Unterstützung durchsetzbare Bestimmungsmacht verloren. Doch die Wirkungsgeschichte des Evangeliums dauert an: Die Botschaft von Gottes Gnade wird verkündet, Menschen gründen ihr Leben im Glauben und lassen sich zu Taten der Liebe anstiften, der Gedanke der christlichen Freiheit wirkt auch dort fort, wo ein Hinweis auf seine Wurzeln fehlt. Der Gedanke der Menschenrechte, die Ausgestaltung des demokratischen Staates, die Orientierung gesellschaftlichen Handelns an Gerechtigkeit und Solidarität oder die Idee eines Europas der Versöhnung und des Friedens verdanken sich entscheidenden Impulse des christlichen Glaubens und mit ihm der jüdischen Tradition. Deshalb bin ich im Übrigen nach wie vor der Auffassung, dass es richtig wäre, dem in der Präambel des Europäischen Verfassungsvertrages ausdrücklich Rechnung zu tragen.

Heute zeigt sich immer deutlicher, dass die Engführung auf die Herrschaft eines vermeintlich exakten naturwissenschaftlichen Denkens in eine Sackgasse geraten ist. Gerade die Verbindung zwischen Glauben und Vernunft wird wieder zu einem öffentlichen Thema. Zwischen Benedikt XVI. und Jürgen Habermas spannt sich der Bogen der Diskussion; auch die Antwort der Reformation bringen wir in diese Debatte ein. Auch in unseren Breiten nehmen die Menschen sich in neuer Weise wahr als die selbsttranszendenten Wesen, die sie sind. Religiöse Interessen werden lebendig, wenn auch oft in diffuser Form. Kirche wird wieder gefragt, wenn auch manchmal auf befremdliche Weise. Nahezu drei Viertel der Deutschen rechnen gegenwärtig damit, dass Religion ein wichtiges Thema bleibt oder an Bedeutung gewinnt. Nur ein Viertel hat die Vorstellung, dass die Bedeutung der Religion schwindet.

Je unerbittlicher die europäische Welt auf die globalisierte Wirtschaft ausgerichtet wird, je strikter Markt und Finanzkraft, Lohnnebenkosten und Konkurrenzkampf das Leben bestimmen sollen, desto stärker wird nach Gegenkräften gefragt. Die meisten spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt, dass Wirtschaft allein nicht Sinn schenkt, dass Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht. Mit der Rückkehr der Religion rebelliert die Seele der Menschen gegen ihre kommerzielle Reduktion. Ich glaube auch aus diesem Grund, dass Entscheidungen, die den Menschen nur noch als Konsumenten in den Blick nehmen – der Umgang mit den Sonntagen ist dafür ein Symptom – in die Irre gehen.

Die Vorstellung, dass sich der Glaube in die Privatsphäre abschieben lasse und dass gesellschaftliches Zusammenleben ohne die öffentliche Erkennbarkeit von Religion und Glaube möglich sei, gehört der Vergangenheit an. Natürlich bedeutet das keineswegs, dass alle Menschen sich zum Glauben an Gott bekennen. Aber in vergleichsweise kurzer Zeit ist deutlich geworden, dass dies eine der Fragen ist, in denen man zu einer persönlichen Entscheidung kommen muss. Während 1992 noch ein Drittel der (West-)Deutschen auf die Frage, ob sie an Gott glauben, antworteten, sie wüssten das nicht, sind es heute noch drei Prozent. Gestiegen ist in der Zwischenzeit nicht nur die Zahl derjenigen, die sich zum Glauben an Gott bekennen (von 50 auf 64 Prozent), sondern auch die Zahl derjenigen, die diesen Glauben für sich ablehnen (von 20 auf 33 Prozent). Aber das Entscheidende ist: Die Indifferenz ist in einem erstaunlichen Maß zurückgegangen.

Der Einfluss der Religion, insbesondere der Kirchen, auf die Gesellschaft – durch kulturelle Präsenz und politische Äußerungen, Gemeinwohlarbeit in den Kommunen, Diakonie und Bildung – wird an Bedeutung weiter wachsen. Natürlich vollzieht sich dabei keine Rückkehr zu einem überholten Staatskirchentum. Nur an den Punkten, an denen sich für die gesellschaftlichen Kräfte eine Auseinandersetzung mit der Meinung der Vertreter der Religionsgemeinschaften qualitativ lohnt, wird sie auch vollzogen werden. Schon ist in diesem Zusammenhang von einem „kulturellen Wettbewerb“ (Wolfram Weimer) die Rede, der auch ein Wettbewerb um die Positionen und Antworten ist, die am meisten überzeugen. Unverkennbar wächst die Nachfrage nach der geistlichen Orientierung, die von den Religionsgemeinschaften ausgeht. Unsere christlichen Kirchen und Gemeinden müssen darauf antworten mit der Konzentration auf das, was allein sie vertreten können: die Orientierung an der Wirklichkeit Gottes. Die Kirchen vermögen es, Orte und Riten anzubieten, die über ihre eigenen Mitglieder hinaus tragfähig sind. Entwickeln wir Zutrauen zu den neuen und überraschenden Wegen, auf denen das geschieht! Mit diesem Mut und in dieser Gewissheit gilt es, auch in unseren eigenen Bereichen Zukunft zu gestalten.

III.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat deshalb in Abstimmung mit der Kirchenkonferenz im Herbst 2004 eine Perspektivkommission eingerichtet und dieser den Arbeitsauftrag erteilt,  Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert zu entwickeln. Die zwölf Mitglieder der Kommission haben diesen Auftrag mit großer Intensität wahrgenommen. Unter dem Titel „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ liegt das am 6. Juli 2006 als Impulspapier des Rates der EKD veröffentliche Ergebnis vor. Es beinhaltet sehr konkrete Erwartungen an die evangelischen Kirchen und Gemeinden in unsrem Land.

Der Text zeigt Möglichkeiten auf, wie die evangelische Kirche den vielfältigen Herausforderungen, vor denen sie steht, begegnen kann. Bei einem aktiven Umbauen, Umgestalten und Neuausrichten der kirchlichen Arbeit und einem bewussten Konzentrieren und Investieren in Arbeitsgebiete mit Zukunft kann ein neuer Aufbruch in Gang gesetzt werden.

Mit dem Impulspapier will der Rat der EKD eine Reformdebatte auf allen kirchlichen Ebenen und Handlungsfeldern anstoßen. Der Text geht davon aus, dass eine Vielzahl gesellschaftlicher Entwicklungen einen Strukturwandel in der evangelischen Kirche notwendig macht.  Demographische Umbrüche, finanzielle Einbußen, hohe Arbeitslosigkeit und  der globalisierte Wettbewerb  werfen zahlreiche Fragen auf. Angesichts des neuen Interesses für Religion, für tragfähige Grundeinstellungen und verlässliche Orientierungen wachsen die Chancen wie auch die Verpflichtung der evangelischen Kirche, Menschen durch die Verkündigung des Evangeliums zu erreichen.

Bei der Perspektivarbeit geht es um einen Paradigmen- und Mentalitätswechsel, der die evangelische Kirche mit der nötigen Klarheit auf die neue Situation ausrichtet und Kräfte zur Gestaltung des Umwandlungsprozesses freisetzt. Dieser Umwandlungsprozess soll sich an vier grundlegenden Ansätzen orientieren. Es geht um „geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität“, um „Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit“, um „Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen“ und um „Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit“. Diese vier biblisch fundierten Grundansätze werden in zwölf Leuchtfeuern als Orientierungspunkten auf dem Weg in das Jahr 2030 so entfaltet, dass Chancen und Veränderungsaufgaben in vier Schlüsselbereichen des kirchlichen Handelns beschrieben werden. Diese vier Schlüsselbereiche sind der Aufbruch in den kirchlichen Kernangeboten, der Aufbruch bei allen kirchlichen Mitarbeitenden, der Aufbruch beim kirchlichen Handeln in der Welt und der Aufbruch bei der kirchlichen Selbstorganisation.

Das Impulspapier soll die in den Landeskirchen vorhandenen Reformanstrengungen verstärken und fördern. Die Auseinandersetzung mit den in diesem Text formulierten Vorstellungen unter den jeweiligen regionalen Bedingungen soll helfen, die Veränderungsnotwendigkeiten für den jeweils eigenen Bereich zu klären. Ausdrücklich verbindet der Rat der EKD mit der Veröffentlichung seines Textes den Wunsch nach kritischen Stellungnahmen und konstruktiven Weiterentwicklungen. Die Synode der EKD hat sich dieser Aufgabe in einer intensiven Debatte zugewandt. Ein Forum für die Bündelung der ersten Ergebnisse dieser Reformdebatte wird der Zukunftskongress der EKD bieten, der vom 25. bis 27. Januar 2007 in der Lutherstadt Wittenberg stattfindet. Der Kongress soll den Auftakt zu einer Reformdekade bilden, die 2017, im Jahr des fünfhundertjährigen Reformationsjubiläums, ihren Zielpunkt finden soll. Als Auftaktjahr wird das Jahr 2007 dadurch geprägt sein, dass die EKD-Synode das Thema „Kirche im Aufbruch“ zum Schwerpunktthema für ihre Tagung im November 2007 gewählt hat.

IV.

Es wird „Menschen geben, die beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.“ In diese Worte hatte Dietrich Bonhoeffer seine Erwartungen gefasst.

In der Tat: Von Religion und Glaube ist zu erwarten, dass sie beten, im Gebet gründen und zum Gebet rufen. Sie sind die Orte der Vergewisserung des Betens in einer Gesellschaft, die Beten immer wieder neu lernen muss. Viele sind ungeübt in der Sprache des Gebets, die so einfach ist, weil sie aus dem Herzen kommen kann, und doch so schwer, weil das Gebet im Vertrauen auf Gott seinen Sinn hat. Vorgegebene Gebete wie die Psalmen und das Vaterunser sind eine große Hilfe dabei, sein Herz vor Gott auszuschütten. Doch auch das Nutzen dieser Formen will geübt und gelernt werden. Glaubende sind neu gefordert, Lehrer des Betens zu werden. Wenn Menschen der religiösen Dimension des Lebens für sich wieder einen neuen Wert beilegen, dann lässt sich dies kaum vorstellen, ohne dass der Wunsch, mit Gott zu reden, innerlich erwacht. Wer betet, weiß sich Gott und den Menschen gegenüber verantwortlich. „Der Beter lernt das Wünschen, er wächst in die Gabe des Zorns gegen das Unrecht, er verliert seine Gleichgültigkeit. Er lernt den Willen Gottes. In diesem Sinne bildet Beten“ (Fulbert Steffensky). Indem der Beter in Klage und Dank, in Bitte und Fürbitte vor Gott tritt, sieht er seine Welt mit Gottes Augen. Beten macht verantwortlich, ja es stimmt darin ein, Verantwortung für das Geschehen um mich herum zu übernehmen. Wer betet, weiß sich der Welt in Gottes Namen verantwortlich. Er lernt, Unrecht beim Namen zu nennen und nach dem Weg der Gerechtigkeit inmitten der Konflikte unserer Zeit Ausschau zu halten.

Solche Konflikte führen immer wieder vor Gott und in das Gebet. Hierbei denke ich beispielhaft an Konflikte für einzelne, die durch Tragödien wie Flugzeugabstürze, Naturkatastrophen oder Unfälle verursacht werden. Solche Tragödien kennen keine Grenzen der Religion; Juden, Christen oder Muslime sind von ihnen ebenso betroffen wie areligiöse Menschen. Ihren Schmerz, ihre Trauer wollen sie vor Gott bringen. Doch wenn von Religion und Glauben in solchen Situationen erwartet werden kann, dass sie beten und zum Gebet rufen, dann gewinnt die Frage, zu welchem Gott sie beten, neue Bedeutung.

Das ist eine der Situationen, in denen Verbundenheit und Unterscheidung der Religions- und Glaubensgemeinschaften in der pluralen Gesellschaft von ganz praktischer Bedeutung sind. Die Situation ruft nach einem Zeichen der gemeinsamen Hinwendung zu Gott. Zugleich tritt das Wissen um die unterschiedlichen Vorstellungen von Gott ins Bewusstsein. Diese Differenzerfahrung sollte nicht aus wohlmeinender Absicht heraus überspielt werden; letztlich würde dies nur zu einer Selbstrelativierung der Glaubensgemeinschaften führen. Vielmehr ist von Religion und Glaube zu erwarten, dass sie ein kraftvolles Zeugnis des eigenen Glaubens geben und zugleich respektvoll mit dem fremden Glaubenszeugnis umgehen, ohne dass der Eindruck einer Vermischung der Religionen entstünde. Dies ist um des Wahrheitsanspruchs willen nötig. Christen bekennen sich zu Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat. Sie wissen sich mit auf dem Weg, den der Gott der Juden, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, seinem Volk verheißen hat. Trotz dieser Nähe zwischen Juden und Christen vollziehen Juden das Bekenntnis zu Gottes Offenbarung in Jesus von Nazareth nicht mit; das Gebet im Namen Jesu, das für das Christsein grundlegend ist, bleibt ihnen so verschlossen.

Noch stärker prägt eine solche Differenz das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen; aber auch für das Gespräch zwischen ihnen gibt es Anknüpfungspunkte. Dass Christen und Muslime mit dem Namen Gottes in erster Linie Frieden verbinden, ist genauso eine Gemeinsamkeit wie das Wissen um das Schöpfungswerk Gottes, wie die Rückbindung an Abraham als Stammvater, wie der Bezug auf die Person Jesu. Doch gerade hier zeigen sich erhebliche Differenzen: „Die Heilsbedeutung von Jesu Tod und der Glaube an den dreieinigen Gott sind christliche Glaubensüberzeugungen, denen Muslime bei aller Wertschätzung Jesu als Prophet nicht folgen, die sie vielmehr ausdrücklich ablehnen“ (EKD-Text 86, 115). So formuliert es die gerade veröffentlichte Handreichung des Rates der EKD zum Verhältnis von Christen und Muslimen. Der Titel dieser Schrift ist programmatisch für das, was von dem interreligiösen Gespräch erwartet werden kann: „Klarheit und gute Nachbarschaft.“ Nach beidem gilt es nüchtern und gewaltfrei zu streben. Denn – so wiederum die Handreichung des Rates: „Die evangelische Kirche kann … in jenen Gemeinsamkeiten „Spuren“ … oder Zeichen erkennen, dass sich der Gott der Bibel auch Muslimen nicht verborgen hat. Diese Spuren begründen aber keinen gemeinsamen Glauben und erst recht keine gemeinsame Verkündigung oder Frömmigkeitspraxis. Aber sie rufen doch Christen und Muslime auf, in dieser zerrissenen Welt Menschen auf Gott hinzuweisen“ (EKD-Text 86, 19). Diese Einsicht hat uns dazu veranlasst, das interreligiöse Gebet klar auszuschließen, aber für die Möglichkeit, aus besonderem Grund und in besonderer Weise bei dem Gebet des andern schweigend und respektvoll anwesend zu sein, durchaus für möglich zu halten. Kardinal Meißner hat übrigens in seiner Stellungnahme aus der vergangenen Woche diese Grundhaltung übernommen. Er hat jedoch – für mich überraschenderweise – hinzugefügt, Kindern sei die respektvolle Kenntnisnahme des Gebets Andersglaubender nicht zuzumuten; mit dieser Begründung hat er multireligiöse Feiern in Schulen generell ausgeschlossen. Mir würde es näher liegen, genau nachzufragen, in welchen Situationen sich solche Feiern aus der Situation heraus nahe legen (hier im Osten wird man damit eher nicht zu rechnen haben), um dann zu einem adäquaten Umgang mit der Situation im Licht der von mir vorgeschlagenen Kriterien zu kommen.

V.

Beten hieß unser erstes Stichwort. Das Tun des Gerechten ist das zweite. Von Religion und Glaube ist zu erwarten, dass sie das Gerechte tun. Reformatorische Theologie hat zu einem solchen Ansatz einen besonders unmittelbaren Zugang, weil ihr theologisches Zentrum im Hinweis auf Gottes rechtfertigendes Handeln liegt. Aus Gnade spricht Gott den Menschen trotz seiner Sünde gerecht; der Mensch ist deshalb frei dazu, Gerechtigkeit walten zu lassen.

Das Gerechte zu tun, heißt, für Kinder und Familie einzutreten. Ohne Kinder gibt es keine Zukunft. Dies gilt es gesamtgesellschaftlich mit der gleichen Dringlichkeit wahrzunehmen wie innerkirchlich. Denn die jüngsten Kirchenmitglieder von heute sind eben auch die Kirchensteuerzahler von morgen. Es wäre jedoch genauso verkürzt, das Thema Kinder und Familie unter dem Aspekt finanzieller Zukunftssicherung für die Kirche zu betrachten, wie es eine unzulässige Verkürzung wäre, wegen der künftigen Renten für mehr Geburten zu plädieren. Denn damit würde man nur noch den letzten die Bereitschaft zu Kindern austreiben. Auch in den Zeiten, in denen Menschen um ihrer Alterssicherung willen auf eigene Kinder angewiesen waren, wurden die Kinder nicht im Blick auf das eigene Alter geboren. Geboren wurden sie, jedenfalls in der Regel, aus Lust und Liebe.

Religion und Glaube müssen ihr Verhältnis zu Kindern und Familie neu bestimmen. Diese Erwartung zielt keineswegs allein auf ein muslimisches Familien- und Frauenbild. Dadurch aber, dass in vielen islamisch geprägten Ländern religiöse Normen und kulturelle Muster ein männlich dominiertes Familienbild zur Folge haben, werden von muslimischen Frauen hohe Erwartungen an eine Reform solcher Vorstellungen gerichtet.

Lassen Sie mich hinzufügen: Familie ist eben nicht allein dort, wo Kinder sind; Familie haben alle. Auch wer als Single lebt, lebt in einem Familienverbund. Wenn ich zur Familie ermutige, dann meine ich damit alle Formen, in denen die Generationen miteinander verbunden sind und Menschen füreinander Verantwortung wahrnehmen. Dies zu betonen ist von besonderer Bedeutung in einer Zeit, in der zugleich die statistische Lebenserwartung des einzelnen im Vergleich mit der Generation seiner Großeltern enorm gestiegen ist und sich Deutschland hinsichtlich der Zahl der tatsächlich geborenen Kinder pro Kopf im weltweiten Vergleich auf niedrigsten Niveau vorfindet. Beides hat auf die zukünftige Gestalt unserer Gesellschaft erhebliche Auswirkungen. Wir brauchen eine Auseinandersetzung über die Last, insbesondere aber über den Segen des Alters, und zugleich eine neue Wertschätzung der Familie und des Lebens mit Kindern.

Das Gerechte tun, heißt zudem, Fairness zu üben. Die Armutsdenkschrift des Rates der EKD, die im Sommer dieses Jahres erschienen ist, steht unter dem programmatischen Titel „Gerechte Teilhabe“. Sie schlägt Handlungsoptionen gegen diejenigen Entwicklungen vor, die zum Ausschluss nicht nur einzelner, sondern ganzer Gruppen von den Möglichkeiten gesellschaftlicher Beteiligung führen. Wirtschaft, Bildung, Familie, Diakonie, Kirchengemeinden sind die fünf Felder, auf die sich die Vorschläge dieser Denkschrift beziehen. Die Synode der EKD hat diese Impulse im vergangenen Monat in Würzburg aufgenommen. Sie stand unter dem Motto: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“. Die Synodalen haben sich auf eine Kundgebung geeinigt, die das Auseinanderdriften unserer Gesellschaft kritisch anspricht. Die EKD-Synode erinnert uns daran, dass wir als Gottes Ebenbilder mit gleicher Würde begabt sind. Allerdings gibt es Lebenssituationen in Armut, die der Würde des Menschen Hohn sprechen; und es gibt ebenso auch ein falsches Vertrauen auf Reichtum und einen nicht zu rechtfertigenden Umgang mit ihm. Wir Menschen sind von Gott aneinander gewiesen und tragen füreinander Verantwortung. Einzelne oder ganze Gruppen vom gemeinsamen Leben auszuschließen und ihnen die Teilhabe zu verweigern, ist Sünde vor Gott. Gott traut uns zu, unser Land gerecht zu gestalten und seinen Reichtum zum Wohle aller einzusetzen. In diesem Geist ruft die evangelische Kirche dazu auf, dass wir uns weiterhin daran beteiligen, dass Armut bekämpft und Reichtum in die Pflicht genommen wird.

VI.

Von Religion und Glaube ist schließlich – neben dem Beten und dem Tun des Gerechten – zu erwarten, dass sie auf Gottes Zeit warten. Sie richten ihren Blick über die Gegenwart hinaus und verantworten ihre Entscheidungen im Horizont der Wirklichkeit Gottes. Das schließt ein, dass sie ihr Handeln auch vor denen verantworten, die heute noch gar nicht geboren sind. Der Grundsatz, der für die Holzbauern Jahrhunderte über Gültigkeit besaß – „Die Bäume, die ich ernte, haben meine Großeltern gepflanzt; die Bäume, die ich pflanze, werden meine Enkel ernten“ – hat globale Dignität erhalten. Bodenschätze, die heute verbraucht sind, stehen in der nächsten Generation nicht zur Verfügung; Technologien, die heute nicht entwickelt sind, können morgen nicht angewandt werden. Die Globalisierung ist nicht nur eine Aufgabe, die uns gegenwärtig betrifft. Der Auftrag, sie verantwortlich zu gestalten, ist uns längst in die Zukunft hinein erteilt. An uns ist es, dafür zu sorgen, dass er uns nicht enteilt.

Dass Christen auf Gottes Zeit warten, hat eine befreiende Kraft. Denn diese Gewissheit befreit davon, das Heil vom eigenen Handeln zu erwarten. Wir machen Gebrauch von unseren endlichen Möglichkeiten. Sie setzen wir nach bestem Wissen und Gewissen ein. Aber das Ziel der Wege Gottes liegt nicht in unserer Hand, es liegt bei ihm selbst. Deshalb ist das Gebet eine gute Richtschnur, das ein älterer Zeitgenosse und Freund Dietrich Bonhoeffers, der in New York lehrende Deutschamerikaner Reinhold Niebuhr formulierte: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und gib mir die Weisheit, das eine von dem andern zu unterscheiden.“