„Maßstäbe christlichen Handelns“: Rede am 1. November 2010 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel
Katrin Göring-Eckardt
Anrede,
75 Jahre Kirchliche Hochschule Wuppertal, 105 Jahre Kirchliche Hochschule Bethel – es gibt wahrlich Gründe genug zum Feiern und ich freue mich, dass ich hier heute mit Ihnen feiern kann. Über die Bedeutung und das Wirken der nun vereinten Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel haben wir ja heute schon viel gehört. Jetzt soll es um die Maßstäbe des christlichen Handelns gehen, aber, das will ich gleich hinzu sagen, Sie haben sich mit mir ja nicht nur eine Kirchenfrau, sondern ja auch ganz bewusst eine Politikerin ausgesucht. Vielleicht in der Hoffnung, dass damit eine womöglich große Theorie ihre Erdung findet, so wie ja auch die Forschung und Lehre hier an der Hochschule auch immer verbunden ist mit der konkreten Frage, wie sich Kirche und Diakonie so gestalten lassen, dass sie der gegenwärtigen Gesellschaft dienen können. In dieser Hinsicht will ich Sie nicht enttäuschen. Ich werde nicht versuchen, im luftleeren Raum eine Theorie zu entwickeln, sondern Ihnen an meinen Erfahrungen und meiner politischen Arbeit, sozusagen in Miniaturform, zeigen zu versuchen, was heute Maßstäbe christlichen Handelns sein können.
Anrede,
es gibt ja so Worte und Sätze im Leben, wo man weiß: wenn ich das jetzt sage, dann wird sich das bisherige Gespräch mit meinem Gegenüber urplötzlich ändern. „Ich liebe dich", das ist zum Beispiel so ein Satz. Der, zu einem Fremden gesagt, löst ohne Zweifel eine ganze Menge aus - entweder in die eine oder in die andere Richtung und hoffentlich in die erwünschte. Und dann gibt es zum Beispiel die Antwort auf die eigentlich harmlose Frage: "Was haben Sie denn studiert?" und, so habe ich es schon dutzende Male erfahren, wenn ich dann sage: ich habe Theologie studiert, dann geht das an meinem Gegenüber auch nicht spurlos vorüber. Zwei Reaktionsweisen sind immer einzuplanen: da gibt es die einen, die ungläubig die Augen aufreißen und man merkt wie hinter ihrem freundliche Lächeln längst schon die Gedanken sagen: „eigentlich machte sie ja bisher einen ganz intelligenten Eindruck. Aber Theologie?" Oder aber, und das ist zweifellos eine wunderbare Erfahrung, auf einmal merke ich meinem Gegenüber an, dass da plötzlich Vertrauen ist und wir über Fragen des Lebens ins Gespräch kommen, zu denen es normalerweise einen meilenweiten Anlauf bedurft hätte. Ich denke, dass Sie alle hier, diese Erfahrung mit mir teilen. Denn Theologie zu studieren oder studiert zu haben, ist ja doch immer auch etwas Besonderes. Aber gerade im Osten auch noch immer etwas durchaus Exotisches.
Aber da gibt es bei mir auch noch die Antwort auf die eigentlich ganz harmlose Frage: „Welchen Beruf haben Sie denn?" und, wenn ich dann sage: ich bin Politikerin, dann geht das an meinem Gegenüber ebenso wenig spurlos vorüber wie die Aussage, dass ich Theologie studiert habe. Zumeist hat mein Gegenüber dann schnell eine große Wunschliste parat, mit vielfältigen Anregungen und Wünschen, was alles getan und geändert werden müsste in unserem Land. Sie müssten…, Sie sollten…, können Sie nicht endlich…. Und vielem stimme ich zu und die Liste dessen, was sich alles ändern müsste, damit es in unserem Land so lebenswert ist, wie ich es mir vorstelle, ist tatsächlich lang. Vielleicht zu lang? Oder aber mein Gesprächspartner winkt resigniert ab: „Ach, Politik, was kann man denn von der schon erwarten?“ Und meint damit sicher auch mich.
Doch so sehr ich es verstehen kann, dass manch einer angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Krisen und Probleme lieber den Kopf unter die Bettdecke steckt, für mich ist das keine Option. Christ-sein und seine Stimme erheben, sich Einmischen und Einbringen in die Gestaltung unserer Welt, das gehört für mich zusammen. Es geht darum, das „heute und hier notwendige zu tun“, wie es Dietrich Bonhoeffer formuliert hat. Die Menschen müssen die Verantwortung für ihr Handeln selbst übernehmen, sie können sie nicht auf irgendeine Institution oder auch auf Gott selbst abwälzen. Bonhoeffer hält es für die Aufgabe der Christinnen und Christen, in „tiefer Dieseitigkeit" zu leben, in unbedingter Hinwendung zur Welt. Christus sendet seine Jünger aus, damit sie sich rückhaltlosen in den Dienst für die Menschen stellen. Dieser Auftrag bleibt für jeden auch erhalten, selbst wenn die Lage aussichtslos scheinen mag.
Die Umstände, die Dietrich Bonhoeffer zu seinem entschiedenen Handeln herausforderten, das ihn dann vor 65 Jahren das Leben kostete, sind unvergleichlich und ohne jede Parallele. Aber selbstverständlich sind wir selbst heute und jeden Tag neu gefragt, was es bedeutet unser Christ-Sein zu leben im Einsatz für die Welt im Hier und Jetzt?
Wir brauchen Maß-Stäbe, Stäbe, die uns als Geländer dienen und an denen wir uns orientieren können und manchmal auch festhalten, denn ohne die Stabilitätsstäbe schwanken und wanken wir. An ihnen messen wir, was für unser Leben Bedeutung hat, was unser Leben und Streben bestimmt, woran wir unser Tun und Lassen, unser Denken und sogar das Träumen ausrichten. Maßstäbe zeigen Wege an, das rechte Maß zu halten, nicht maßlos zu werden. Sie sind weniger als Vorschriften und Gesetze, aber mehr als Willkür und Beliebigkeit, sie sind Orientierungen, die kommunizierbar sind, über die man verantwortlich reden kann, auf die man sich selbst und andere ansprechen kann. Maßstäbe sind Einstellungen, die uns von innen her leiten. Sie schaffen Verhältnismäßigkeiten, sie lassen unser Herz, unser Gewissen, unsere Seele wissen, welche Haltung wir einnehmen sollten. Dabei setzen Maßstäbe ein Innenverhältnis voraus, wer nur äußerlich ist, der hat keine Maßstäbe, weil er sich allein von Außen und fremden Erwartungen treiben lässt. Wer keine Maßstäbe hat, ist von außen und Äußerlichem abhängig, von Applaus und Zuneigung der anderen, vom in der Öffentlichkeit stehen an sich, von dem Bankkonto oder Bonizahlen, von Reputation und Erfolg usw.
Wir haben uns auch daran gewöhnt, Zahlen als Maßstab zu verwenden. Wir verwenden sie, um unser Leben zu ordnen, das Leben mit seinen vielfältigen Erfahrungen und Anforderungen handhabbar zu machen. Was braucht ein Mensch, um leben zu können, in Würde, be- und geachtet von anderen und von sich selbst? Wir suchen die Antwort in Zahlen. Wir reden dann von "Regelsätzen für Hartz-IV-Empfänger". Und wir sprechen von Transferleistungen und dem Lohnabstandsgebot. Geht es da noch um menschliche Maßstäbe? Oder haben alle eine Nummer, auf der steht wie viel sie am Markt gerade wert sind?
Wenn wir nur daran denken, mit welchen Zahlen in den letzten Jahren im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Banken und Staaten agiert wird, dann wird deutlich: Zahlen, die jede Vorstellungskraft übersteigen, verlieren ihre Bedeutung. Natürlich stellen diese Versuche, verlorene Maßstäbe durch Zahlen zu ersetzen, nur einen Ausschnitt unserer Versuche der Kompensation dar.
Gewinn, Rendite, Boni – das sind Größen, die mehr und mehr zum Maßstab für Erfolg wurden bis die Blase platzte und das Kartenhaus zusammenbrach. Dabei ist auffällig, dass in der Diskussion um die Ursachen dieser Krise immer wieder der Begriff der Gier fällt. Gier, das ist einerseits ein individuelles Phänomen. Erlegen sind ihr verantwortliche oder eben besser: unverantwortliche Banker und Manager. Mehr Rendite, mehr Boni, kurzfristig, immer schneller, eine Spirale nach oben. Allerdings: nicht nur Manager hat die Gier gepackt, auch weite Teile der Bevölkerung haben die Versprechen von steigenden Aktienkursen und utopischen Zinsausschüttungen verführt. Die Haltung, immer mehr Haben zu wollen, ohne zu fragen, wie das eigentlich sein kann und auf wessen Kosten – das ist Teil des Problems.
Andererseits ist Profitstreben, im Gegensatz zur individuellen Gier, gerade nicht subjektiv. Es ist kein Impuls, dem der oder die einzelne nachgeben oder sich durch Selbstdisziplinierung einfach verweigern könnte. Wettbewerb und Gewinnstreben sind für die freie Marktwirtschaft konstitutiv. Nur: es braucht eben Maßstäbe, Leitplanken, staatliche Intervention, die die Regeln des Strebens nach Mehr, nach Gewinn festlegt – und zwar so, dass es gerecht zugeht und dass es um das Gemeinwohl, nicht um die maßlosen Interessen Einzelner oder einzelner Gruppen geht. Deswegen sprechen wir von sozialer Marktwirtschaft. Geschieht das nicht, dann verändern sich zunehmend Denken und Handeln aller Menschen. Hauptsache ich, nach mir die Sintflut. Wenn keine anderen Maßstäbe außerhalb dieser Logik mehr Halt und Orientierung geben, wird jeder zum Schnäppchenjäger, zum "homo oeconomicus", dem alles zur Ware verkommt. Allein diese eindimensionale Logik des billig kaufen und teuer verkaufen zählt dann noch. Ethische Forderungen werden als realitätsfern abgetan und in die Sonntagsrede verbannt.
Dieser homo oeconomicus orientiert sich allein an seinem eigenen Vorteil. Und das steht dem, was uns das jüdisch-christlichen Erbe aufgibt, diametral entgegen. Denn nicht in Egozentriertheit, nicht im "In sich selbst Gekrümmtsein", wie Luther es so treffend beschrieb, sondern in der Ausrichtung auf Gott und den Nächsten liegt heilsame Befreiung. Die mittelalterliche Kirche zählte die unersättliche Gier zu den so genannten sieben Todsünden – nicht von ungefähr. Und der Ausdruck der "Todsünde" trifft es ja auch genau. Denn sie unterhöhlt die Grundlagen des Lebens und stellt es schließlich in Frage. Deswegen macht es auch so viel Sinn, dass wir über eine "Ökonomie des Genug" nachdenken.
In der Bibel lesen wir: "Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat." (Lk 12, 15) Die Geldgier ist die Wurzel allen Übels (1. Tim, 6,10). Ja, der Mammon selbst wird zum Götzen und die Habgier zum Götzendienst, der schließlich ins Verderben führen muss. Die Alternative lauten also von alters her: Entweder du glaubst an den lebendigen Gott oder du glaubst an das Geld. Beides zusammen scheint nicht möglich zu sein.
Ganz anschaulich, geradezu archetypisch wird vom verhängnisvollen Wirken der Habsucht in den alten Schriften erzählt. Judas, verrät seinen Herrn – für 30 Silberlinge. Wem alles zur Ware verkommt, wer alles für käuflich hält, die Liebe, die Freundschaft, die Hoffnung und den Glauben, dem bleibt am Ende nur die Isolation, die Trostlosigkeit, der selbstgewählte Untergang.
Diese Erkenntnis ist, und das ist ja auch nicht überraschend, nicht spezifisch christlich. Auch die alten Griechen wussten um die unheimliche Macht der Geldgier. Sie kennen die tragische Geschichte von König Midas. Die Ereignisse beginnen vielversprechend, Midas nimmt Dionysos freundlich auf, gewährt ihm Gastfreundschaft, teilt, was er hat. Es darf sich etwas wünschen dafür, soll entlohnt werden. Und in seiner Torheit und Gier bittet er darum, dass alles, was er fortan berührte, sich in Gold verwandeln möge. So geschieht es. Zunächst ist er euphorisch, doch dann macht sich mehr und mehr Entsetzen breit. Alles, wirklich alles wird dem König nun zu Gold: Er kann nun nicht mehr essen, trinken, lieben, und droht, an den Folgen seiner maßlosen Gier zu verenden.
Die Gier des Menschen ist also gewiss kein Phänomen der Neuzeit. Aber sie scheint größer zu sein, je größer die Versuchung, je größer der Anreiz und je enthemmter eine Gesellschaft ist. Dieser Entschränkung der Gier zu wehren – durch Gesetze, Vorschriften, Regeln und auch Erziehung zum Maßhalten, vor allem durch das Setzen anderer Werte und Ziele – anderer Maßstäbe - das ist nicht nur Aufgabe der ethischen, sondern auch der ökonomischen Vernunft. Es ist eine Frage des guten Lebens, ja, zunehmend auch eine Frage des Überlebens. Es ist, noch einmal: eine Frage nach der Ökonomie des Genug.
Unsere Gesellschaft als ganze und auch jede und jeder einzelne wird sich fragen und fragen lassen müssen, wo Neuorientierung notwendig ist. Es geht um die Frage nach einer Freiheit, die in Verantwortung gestaltet wird. Es geht um die Erkenntnis von Schuld, um die Bitte um Vergebung, um Neuanfang und die Schaffung von menschlichen Beziehungen, die von Vertrauen und Solidarität bestimmt sind.
Es lohnt sich also, nach Maßstäben zu suchen, alt hergebrachte wie neue. Sie zu entdecken, sie aber auch zu prüfen. immer wieder müssen wir Maßstäbe formulieren, die den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen angemessen sind.
Die religiösen Traditionen stellen uns, unser Denken und Urteilen in einen größeren Zusammenhang. Die Orientierung fällt uns leichter. Welche Stellen in der Bibel fallen Ihnen ein, wenn es um Maßstäbe geht, um die Formulierung dessen, was sein soll und wir gut miteinander leben können. Den meisten vielleicht zuerst der Dekalog, die zehn Gebote, die auf den Punkt bringen, wie Leben gelingen kann. Natürlich auch die Goldene Regel, die weit in die Geistesgeschichte hineingewirkt hat: "Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!" (Lk 6,31). Und nicht zuletzt ist uns das Doppelgebot der Liebe aufgetragen: "'Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften'. Das andre ist dies: 'Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst'. Es ist kein anderes Gebot größer als diese." (Mk 12, 29-31). Auch das ein Rückgriff auf ältere Traditionen im Altem Testament (Dtn 6,5; Lev 19;18).
Diese bekannten Orientierungen oder Regeln oder Gebote – wie immer wir sie nennen wollen – geben vor, was sein soll. Und wenn wir sie ernst nehmen, müssen wir sie uns erschließen. Wir verstehen, dass diese überlieferten Maßstäbe nicht hermetisch abgeschlossen sind. Sie sind nicht nur offen für Interpretation und Aneignung auf dem Hintergrund der jeweils aktuellen Situation. Sie fordern geradezu heraus dazu, sie als Maßstab und Richtschnur im eigentlichen, ursprünglichen Sinn zu verstehen. Es geht darum, mit ihrer Hilfe immer wieder etwas Neues zu schaffen. Denn Maßstab und Richtschnur, beides im Lateinischen mit "norma" übersetzt, sind ja ursprünglich Werkzeuge des Baumeisters. Werkzeug, um etwas zu schaffen: eine Behausung, eine Wohnung, einen Ort zum Leben, Arbeiten, Lernen, Sein. So lassen sich Orientierungen oder Regeln oder Gebote verstehen: Werkzeuge, die dazu dienen, Leben zu ermöglichen. Hilfen, um die Gemeinschaft der Menschen zu schützen gegen Über-, Ein- und Angriffe. Und sie dienen dazu, die Integrität jedes und jeder Einzelnen zu schützen. Und nicht zuletzt auch, die Schöpfung zu schützen vor Missbrauch durch uns Menschen.
Doch wie lassen sich über diese Maßstäbe, an denen sich christliches Handeln zum Ausdruck bringt, in unserer Gegenwart zum Klingen bringen? Sicher, da gibt es auch die großen schöne Worte in unserer Tradition, die ich selbst auch immer gerne höre. „Liebe und tue, was du willst“ zum Beispiel, dieses schöne Wort des Augustinus. Oder Luthers gewiefter Satz von der Freiheit eines Christenmenschen: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Doch diese systematischen und auch alle biblischen Aussagen müssen ja doch auch ihre Alltagstauglichkeit zeigen. Es stimmt, dass, wie der ehemalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber sagte, sich unsere Kirche durch ihr permanentes Handeln und die fehlende Besinnung auf den Glauben selbst säkularisierte. Aber, dem möchte ich hinzufügen, eine Selbstsäkularisierung findet auch statt, wenn unsere christlichen Handlungsmaßstäbe so gestrickt sind, dass sie keinen Anknüpfungspunkt mehr in der Welt finden und sich diese dadurch von uns enttäuscht säkularisierend zurückzieht.
Wie aber lässt sich ein Handeln, das christlichen Maßstäben verbunden ist, konkret inhaltlich füllen? Ich denke, dies geht nur im Diskurs. Im diskursiven Zusammenklang von biblischer und systematischer Einsicht, menschlicher Erfahrung und politischer Gestaltungsmöglichkeit. Solch eine Aussage schreit ja nun aber geradezu nach einem ausführenden Beispiel. Und da stehen gegenwärtig viele Möglichkeiten im Raum. So die ethisch problematischen Fragestellungen am Anfang und Ende des menschlichen Lebens, besonders gerade die Frage der Zulässigkeit der PID. Aber auch die Armutsproblematik, insbesondere die Armut bei Kindern und die Frage nach einer zureichenden finanziellen Ausgestaltung von Bildungsmöglichkeiten. Die Chancen- und Teilhabegerechtigkeit spielt eine große Rolle. Dann die Frage der Integration des Islams in unsere Gesellschaft. Aber auch etwas anderes ist diese Woche aktuell: Die Castoren rollen wieder. Und die Kernenergiebetreiber plakatieren großflächig, dass ihre Kernkraftwerke angeblich dem Klimaschutz und damit letztendlich dem Umweltschutz dienten. Nehmen wir doch dieses Beispiel, um nach christlichen Maßstäben und ihrer konkreten inhaltlichen Füllung und Konsequenzen zu schauen.
Im Schöpfungsbericht heißt es: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht." (Gen 1,27). Wegen dieses Bibelworts, des sogenannten dominum terrae, ist die christliche Tradition immer wieder in die Kritik geraten. Fragen wurden gestellt: Führte der Auftrag des Schöpfers an den Menschen zur Herrschaft über die Erde und über alle anderen Geschöpfe in letzter Konsequenz nicht zu deren Ausbeutung durch den Menschen? Lastet damit nicht die Hauptverantwortung für die meisten ökologischen Probleme auf dem Schöpfungsglauben und dem Menschenbild der jüdisch-christlichen Tradition? Während östliche Religionen den Menschen eingebettet sehen in eine Vielfalt von lebenden Arten, von Tieren und Pflanzen, hebe die jüdisch-christliche Tradition den Menschen über alle anderen Geschöpfe hinaus, so lautet der Vorwurf. Im christlichen Menschenbild sei die Überheblichkeit des Menschen und damit die Zerstörung der Natur schon programmatisch grundgelegt.
Wer so argumentiert, darf jene Genesis-Stelle nicht überlesen, die der nichtmenschlichen Natur ein ähnliches Dominum zuspricht: "Alles Getier, das mit dir ist … soll sich tummeln auf Erden, fruchtbar sein und sich vermehren." Die Natur ist eine Schöpfungstat Gottes. Mit diesem Bekenntnis beginnt die hebräische Bibel, das alte Testament. Der Mensch bekommt dabei eine mit-schöpferische Verantwortung zugewiesen: Die "Erde zu bebauen und zu bewahren" (Gen 2, 15). Er ist dafür gegenüber dem Schöpfer nicht nur verantwortungsfähig, nein, er ist auch verantwortungspflichtig. Eine schöpfungsgemäße Lebensorientierung ist demnach auch eine Haltung der Demut. Bewundernd und ehrfürchtig sollen wir mit dem umgehen, was uns geschenkt ist.
Aus diesem jüdischen und christlichen Glauben lässt sich nun kein umweltpolitisches Programm ablesen. Aber unser Verständnis von Schöpfung geht Hand in Hand mit dem Leitbild einer dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung. Auch wenn sich in der Schrift keine Anleitung zum Umgang mit Atomkraftwerken oder mit Kohlendioxidemissionen findet, ist die konkrete Aufgabe zum Umwelt- und Klimaschutz für Christen wie für Kirchen kein Randphänomen. Ausgangspunkt für christliche Umweltethik ist vielmehr die ganz aktuelle Situation. Es ist schlicht nicht zu verkennen, dass mit der Ausbeutung der Natur auch das Wohl, die Zukunft und der Lebensraum der Menschen aufs Spiel gesetzt werden. Wer also den Menschen und die Lebenschancen kommender Generationen verteidigen will, muss sich entschlossen gegen die fortschreitende Umweltzerstörung einsetzen. Das christliche Eintreten für ein würdiges Leben aller Menschen ist heute undenkbar ohne das Handeln für die bedrohte Schöpfung. Das heißt auch, dass wir als Christen die Verantwortung für unser Handeln selbst übernehmen: Wir können sie nicht auf Gott abwälzen.
Sich die Erde untertan machen – das heißt also keineswegs: sich nehmen, was man braucht, ausbeuten, wo es nur geht, ohne Rücksicht auf Verluste und nur auf die Mehrung der eigenen Lebenschancen bedacht. Uns ist die Erde vielmehr anvertraut, als Lebensraum und zur gedeihlichen Nutzung überlassen. Wir Menschen haben eine Sonderstellung in der Schöpfungsordnung. Als Ebenbilder Gottes handeln wir stellvertretend. Und mit dem Auftrag, fürsorgend mit seiner Schöpfung umzugehen, stehen wir in der Verantwortung vor Gott. Das heißt: über den Tag hinaus denken. Das heißt verantwortungsfähig und verantwortungspflichtig zu sein: zu erkennen und zu sagen, dass wir maßgeblich verantwortlich sind für das, was wir an Schöpfungsbedrohung selber verschulden. Das heißt auch, Leben und Wohl unserer Mitgeschöpfe zu sichern.
Leben und Wohl unserer Mitmenschen, auch wenn sie in einem anderen Teil unserer Erde leben. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser zum Beispiel, wird eine der großen Gerechtigkeitsfragen der Zukunft sein. Ein Blick nach Bolivien ist symptomatisch: 2,5 Millionen Menschen haben dort nach Angaben des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung keinen gesicherten Zugang zu Trinkwasser. Im Jahr 2000 kam es deswegen zum sogenannten "Wasserkrieg" von Cochabamba, nachdem sich der Wasserpreis innerhalb kürzester Zeit verdreifacht hatte.
Wenn wir ärmeren Ländern dabei helfen, auch dabei, eine klimaverträgliche Energieerzeugung aufzubauen, dann geht es eben nicht um Almosen, sondern um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind nicht voneinander zu trennen: Gerechtigkeit, das kann und muss gerade für uns Christen die treibende Kraft für Veränderung sein. Sie ist die Idee und die Verheißung einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Wenn es um den skandalösen Mangel an Gerechtigkeit zwischen Reichen und Armen im Weltmaßstab, um die Ungleichheiten bei Ressourcen, bei Ressourcenverbrauch, geht, dann sind wir beschämend weit entfernt von einer gerechten Ordnung. Und nicht zuletzt trifft der Klimawandel weltweit vor allem die, die sich keine Deiche bauen können, die nicht das Geld haben, gegen Trockenheit vorzugehen und lange Wasserleitungen zu bauen.
Einige haben gegen den Klimawandel nun eine einfach wunderbare Allroundlösung parat: Die AKWs laufen lassen, vielleicht auch mehr AKWs bauen, dann wird alles gut! Doch Atomenergie bleibt das Problem und nicht die Lösung. Wirksamen Klimaschutz gibt es eben nicht mit Atomkraft, sondern nur mit dem Ausbau der Erneuerbaren bei Strom, Wärme und Verkehr, Energieeinsparung und Energieeffizienz. Nun rollen wieder die Castoren und die Atomkraftwerke sollen weiter laufen. Die Evangelische Kirche hat sich schon auf ihrer Synode in Bremen 2008 für den Ausstieg aus der Kernenergie ausgesprochen und wird dieses sicherlich auf der anstehenden Synode in Hannover diese Woche bekräftigen.
Denn eigentlich ist es ja bekannt: Je älter die Reaktoren, desto höher die Sicherheitsrisiken und allein die Subventionen für die deutsche Atomkraft belaufen sich – je nach Schätzung – summa summarum auf 40 bis 100 Milliarden Euro. Kosten für Umweltverschmutzungen, radioaktive Verseuchung und Gesundheitsgefährdungen sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Nicht zuletzt: Die Endlagerproblematik ist seit 50 Jahren weltweit ungelöst.
Wir werden Gott nicht finden in der ängstlichen Verteidigung unseres Luxus, unserer Lebensweise auf Kosten anderer. Gott finden wir in der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit den Armen gegenüber heißt nicht: Ein bisschen was abgeben, so dass wir es gar nicht merken. Es heißt teilen, den anderen als Gleichen sehen und ihm auf Augenhöhe begegnen, nicht von oben herab. Alle haben das gleiche Recht auf die Ressourcen dieser Welt. Vor allem haben wir die Pflicht, diese Ressourcen zu schützen. Denn auch die, die nach uns kommen, haben ein Recht auf gutes Leben in einer gesunden Welt. Gerade wir Christen sollten dabei durch die Botschaft des Evangeliums die Kraft haben, uns von vermeintlichen Zwängen des Mithaltens, des immer weiteren Konsums frei zu machen. Wir sollten die Kraft haben, uns auch einmal zurückzunehmen, damit unsere Kinder und Kindeskinder, damit auch die nichtmenschlichen Geschöpfe nicht zu Schaden kommen. Die Frage, die hierbei im Hintergrund steht, ist auch die Frage des Wachstums.
Dabei beobachte ich in der letzten Zeit - nicht nur bei jungen Menschen – eine zunehmende und sich zuspitzende Skepsis gegenüber dem Dogma des Wirtschaftswachstums. Mit anderen Worten: Die Rationalität der Wachstumslogik, die besagt, dass Wachstum und gutes, erfülltes Leben zusammenhingen, wird zunehmend angezweifelt.
Denn immer noch messen wir die Lebensqualität unserer Gesellschaft an einem Kriterium, das letztlich gar nichts darüber aussagt, wie lebenswert diese Gesellschaft wirklich ist. Ein Beispiel: Wenn Wachstum das alleinige Kriterium für ein gelingendes Leben wäre, dann müsste man sich ja darüber freuen, wenn jemand sich in der Kneipe betrinkt und dann sein Auto zu Schrott fährt. Reparatur oder Neukauf bringen schließlich die Wirtschaft in Schwung. Anders, weniger zynisch gesagt: Der Maßstab Wirtschafswachstum sagt absolut nichts darüber aus, ob wir wirklich so leben wollen wie wir leben. Er sagt nichts darüber aus, wie solidarisch die Gesellschaft ist, was für Kulturgüter sie hervorbringt, wie in ihr miteinander umgegangen wird. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat zurecht darauf hingewiesen, dass die gesellschaftlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte auf Bildung, Gesundheit und Kommunikation zurückgehen und nicht auf Wachstum.
Obwohl sich so vieles nicht in Wachstumszahlen ausdrücken lässt, hören wird das Mantra „Wachstum, Wachstum, Wachstum" nach wie vor an allen Ecken und Enden. Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, aber Schaden nehme an seiner Seele? fragt Jesus und legt damit einen anderen Maßstab an ein gelingendes Leben an als wir es gegenwärtig in unserer Gesellschaft tun.
Wir müssen anders leben. Umdenken und Umkehren, um in der Sprache der Bibel zu bleiben. Predigen wir jetzt Verzicht? Einschränkung und Darben? Nein! Wir reden über gutes Leben. Darüber, zu entscheiden, was wir wirklich brauchen und was wahrer Genuss ist. Denn es geht nicht einfach darum zu entbehren, zu verlieren, ärmer zu werden, den Gürtel enger zu schnallen. Solche Worte zeigen nur eins: dass wir schon sehr unserem Bild von Wohlstand, der Konsum braucht, der dauernd Mangel vortäuscht, erlegen sind.
An dieser Stelle müssen wir gar nicht in die Bibel sehen, da reicht sogar ein Blick auf Immanuel Kant: „Reich ist man nicht allein durch das, was man besitzt, sondern vielmehr durch das, was man mit Würde zu entbehren weiß. Und es könnte sein, dass die Menschheit gewinnt, indem sie verliert und reicher wird, indem sie ärmer wird." Übersetzt ins Heute kann das doch heißen: Einmal mehr mit den Rad fahren als mit dem Auto, einmal mehr mit dem Zug in den Urlaub als mit dem Flieger. Auf der Autobahn eher 120 als 170. Licht aus, wenn gerade niemand im Raum Erleuchtung braucht. Und noch die zwei Schritte zum Fernseher gehen, um ihn ganz aus und nicht nur in Standby zu schalten. Recyclingpapier statt weiß und Hochglanz. Keine Billig-T-Shirts aus dem Discounter, Kaffee aus fairem Handel und Lebensmittel wo es geht aus der Region. Denn alles hängt mit allem zusammen. Unser hoher Papierverbrauch mit der Rodung von Regenwäldern, unser Einkauf von Billig-Kleidung mit den miserablen Lebensbedingungen der Textilarbeiterinnen in Bangladesh. Wir wissen doch was zu tun ist. Unsere Erde ist eine Leihgabe unserer Kinder. Sie ist nicht rückversichert. Gehen wir endlich sorgsam mit ihr um! Zeigen wir, wie Albert Schweizer es gesagt hat, "Ehrfurcht vor dem Leben"!
Ich bin überzeugt davon: Wirtschaftkrise und Klimakrise müssen keine Sinnkrise zur Folge haben. Wenn wir es schaffen, umzudenken, werden wir sogar zu einem Leben mit mehr Sinn kommen. Im besten Fall entsteht aus diesem neuen Bewusstsein eine neue globale Klimabewegung – und hier ist genau der richtige Ort, um darüber zu sprechen: die Kirchen könnte, ja sollte Vorreiterin sein dabei.
„So lange die Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht." (Gen 8,21) Mit dieser Zusage endet die biblische Geschichte von der Sintflut, Gott will nie wieder mit Vernichtung begegnen, er schenkt Zukunft. Darauf können wir Menschen uns verlassen und haben zugleich den Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren.
Für den Impuls und den Willen, uns für den Klimaschutz zu engagieren, brauchen wir Christinnen und Christen gar nicht erst Horrorszenarien oder CO2-Reduktionsvorgaben. Die Schöpfung ist das Geschenk Gottes an uns. Sie zu bewahren ist uns Wert an sich, ist bleibender Auftrag des Schöpfers an uns. So ist Nachhaltigkeit zentraler Grundzug biblischer Theologie – bei der es um beides geht: um die Verantwortung für Gottes Schöpfung und um das Leben aller Menschen in Würde und Gerechtigkeit.
Die Kirchen sind sich ihrer Verantwortung bewusst, aber wie immer: es geht auch noch ein bisschen mehr. Und zu handeln ist gar nicht nur abstrakt und irgendwie weit weg. Natürlich sind alle Projekte in Asien und Afrika unverzichtbar und es ist großartig, wenn Sie dort ein kirchliches Entwicklungsprojekt Asien unterstützen. Darüber hinaus geht auch hier vor Ort, ganz konkret.
Zum Beispiel Energie: Kirchengemeinden, Tagungshäuser, Verwaltungen und die diakonischen Einrichtungen der evangelischen Kirche verbrauchen so viel Energie wie die Stadt Hannover. Dabei ist der CO2-Ausstoß so hoch, wie der von Sudan und Kenia zusammen. Aber: durch anderes Verhalten und kleine technische Veränderungen, so die Schätzung 2007, können 37% der gesamten Emissionen vermieden werden. Außer prima Klima spart das auch noch Energiekosten allein in den Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen von jährlich 40 Mio Euro.
Dieses Einsparpotential, in doppelter Hinsicht, nutzen deutschlandweit über 400 Kirchgemeinden und Einrichtungen und beteiligen sich am Projekt "Grüner Hahn", im Süden: "Grüner Gockel". Mit diesem zertifizierten Umweltmanagementsystem betreiben Gemeinden Schritt für Schritt Klimaschutz und senken ihren Energieverbrauch. Das fängt damit an, Glühbirnen durch Energiesparlampen zu ersetzen, den alten Boiler in der Gemeindeküche nicht mehr durchlaufen zu lassen, die Heizung im Gemeindesaal nur bei Bedarf anzustellen und endet im besten Fall mit neuer Isolierung des Pfarrhauses und Solaranlage auf dem Kirchendach.
Das Projekt "Zukunft einkaufen", initiiert von den Umweltbeauftragten der evangelischen und katholischen Kirche, setzt genau da an. Es will sensibilisieren und mobilisieren und unterstützen beim Einkauf von öko-fairen Produkten. Denn Kirche ist sich ihrer Marktmacht noch längst nicht bewusst. Doch versuchen sie sich einmal vorzustellen, was für 12.000 Gemeindezentren, 5000 Kindergärten, 2200 Pflegeheimen, 1000 Schulen, 800 Verwaltungen und 350 Krankenhäuser so alles angeschafft wird. Wer einkauft, entscheidet. Der Geldbeutel bestimmt die Welt. Und wir können die Richtung vorgeben! Zum Beispiel: allein die Küchen in Tagungsstätten, Heimen, Krankenhäusern haben ein jährliches Einkaufsvolumen von heute fast einer halben Milliarde Euro. Was wird da gekocht und zubereitet? Sind die Zutaten biologisch angebaut, fair gehandelt? Nach diesen Kriterien einzukaufen, wäre ein riesiger Schub für eine zukunftsfähige Landwirtschaft und für mehr globale wie nationale Gerechtigkeit. Und der wäre nicht symbolisch, sondern schon einmal echte Veränderung. Schritt für Schritt aber eben mit einem festen Ziel vor Augen, sollten wir Geld nur noch für Dinge ausgeben, die ökologisch und nachhaltig produziert, verantwortlich transportiert und fair gehandelt sind. Geiz ist eben nicht geil. Klimagerechtigkeit darf uns auch teuer sein.
Denn Christ-Sein darf nicht stehen bleiben beim Beten im stillen Kämmerlein, beim Feiern kirchlicher Feste, weil das Heiraten in der Kirche doch schöner ist als im Rathaus mit dem leiernden Tonfall der Beamtin, oder bei einer vertröstenden Hoffnung auf das Jenseits. Christin-Sein setzt Maßstäbe des eigenen Handelns voraus.
Was heißt das nun für mich in "politischer Verantwortung"? Was heißt "Christin sein" in der Politik? Bedeutet das nicht einen ständigen Spagat zwischen christlicher Überzeugung und politischer Realität? Schließlich kann man den Glauben nicht zwischendurch mal eben ablegen, um eine Entscheidung sozusagen "wertfrei" zu treffen. Der Glaube gehört zu meiner Person dazu, als ehemalige Theologiestudentin, als Mutter und auch als Bundestagsvizepräsidentin im Bundestag. Für mich bedeutet das in erster Linie, dass ich Politik bewusst von meinem Standpunkt als Christin aus mache und dass ich meinen Standpunkt auch nicht verleugne. Nicht Politik mit aufgeschlagener Bibel, aber auch in der Politik nicht ohne Orientierung anhand der Geschichten und Gleichnisse von Jesus.
Es gibt jedenfalls keine Schablone, nach der man sich richten kann, man kann ja leider nicht die Bibel aufschlagen und darin finden, wie stimme ich zum Beispiel beim Verkehrswegeplan ab. Man wird natürlich als Christin immer eine Leitschnur haben, und trotzdem entscheiden Christinnen und Christen auch bei ethischen Fragen mitunter unterschiedlich. Selbst bei so existenziellen Fragen wie beim Stammzellgesetz oder der Präambel stimmen Christinnen und Christen im Bundestag unterschiedlich. Es ist offensichtlich nicht so, dass es einen Königsweg gibt. Es ist nicht so, dass es eine vorgestanzte Antwort gibt, sondern es ist eigentlich das, was uns als Christinnen und Christen immer umtreibt: Dass wir fragen, dass wir zweifeln und dass wir glauben. Und mit diesen drei Werten kann man eigentlich auch den Prozess beschreiben, mit dem man in ethischen Fragen dann zu Entscheidungen und Ergebnissen kommt. Vor allem wissen wir: es gibt etwas, das ist größer als wir. Wir können auch irren.
Fragen und zweifeln entbindet aber nicht von einer Antwort. Man kann sicherlich eine Zeit lang sagen, darüber denke ich noch nach. Das ist nicht unbedingt üblich in der Politik, dass man nicht sofort eine Antwort hat, wenn irgendein Mikrofon vor der Nase steht. Das machen nur ganz wenige, aber irgendwann muss man eine Antwort geben, im Zweifelsfall heißt das: Abstimmen im Deutschen Bundestag. Doch gerade ethisch wichtige Abstimmungen heißen auch, dass ich Antworten und Beratung nie alleine in der Politik suche, sondern immer auch noch mit anderen rede, übrigens auch manchmal über Fraktionsgrenzen hinweg, mit Leuten, die ich aus meiner Kirche kenne oder eben Menschen von außerhalb. Mir persönlich ist das sehr wichtig, denn natürlich finden manche Diskussionen auch oft ein bisschen unter der eigenen Käseglocke statt.
Es gibt keine "christliche Politik" in einem engen Sinne. Wenn das so wäre, dann hätten sich alle Christen längst zu einer Partei zusammengeschlossen. In der Bergpredigt steht keine Anleitung für den Umgang mit der Gesundheitsreform. Wichtig ist, dass jede Christin und jeder Christ, egal in welcher Partei, den eigenen Standpunkt, das eigene Sein, das christliche Bekenntnis nicht verleugnet. Wir alle wissen, ein Christ kann nie vollkommen handeln, er ist sich seiner Grenzen bewusst. Das ist es vielleicht, was uns ganz besonders stark von anderen unterscheidet. Gerade wir als Christen sind davor gefeit, zu behaupten, die eine, die beste Lösung parat zu halten. Das ist nicht immer einfach, denn einfache Antworten haben immer einen höheren Marktwert.
Politikern und Politikerinnen wird oft unterstellt, es gehe allein um Macht. Das – und das wird den einen oder die andere hier vielleicht überraschen – ist per se nichts Verwerfliches. Denn wenn es um Macht nicht um ihrer selbst willen geht, wenn es nicht um Selbstbestätigung geht, sondern um Gestaltungsmacht, dann ist das völlig legitim, auch für mich als Christin. Denn wer Dinge verändern will, der braucht dazu die Möglichkeiten. Gleichwohl müssen gerade wir uns die Frage gefallen lassen, wie wir mit dieser Gestaltungsmacht umgehen. Demut vor dem eigenen Handeln, vor der Verantwortung, ist dabei ein Wort, was immer noch zu selten fällt.
Dabei mag man bedauern, dass der Einfluss der Kirche, der Einfluss des Christentums auf die Politik geringer geworden ist. Sicher kann sich manches als gut Erkanntes nicht immer durchsetzen. Doch die Trennung von Staat und Kirche, hinter die sollten wir nicht mehr zurückfallen. Denn eine übergroße Nähe von Kirche und Staat hat in der Vergangenheit nur allzu oft dazu geführt, dass Kirche ihre Kernaufgaben vernachlässigt hat. Heute kann Kirche Kirche sein – das ist gut so und richtig. Denn allzu groß ist dabei die Gefahr des Missbrauchs und sie ist real. Politiker dürfen sich nicht über Kirchenvertreter legitimieren. Das übersteigerte Sendungsbewusstsein der religiösen Rechten in den USA ist eine deutliche Warnung. Religion wird instrumentalisiert, wenn sie lediglich dazu dient, eine Nation als "auserwählt" zu deuten. Wenn politische Auseinandersetzungen religiös aufgeladen werden, braucht es Widerspruch.
Anrede,
vieles von dem, was unsere Demokratie heute trägt, ist ohne seine christlichen Wurzeln nicht zu verstehen, auch wenn es manchmal gegen die Kirche errungen wurde. Heute sind unsere Spielregeln säkular formuliert, doch Menschenwürde – zum Beispiel – ist kaum zu verstehen ohne das biblische Bild, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist. Unsere politischen Freiheitsrechte knüpfen an das Verständnis von Freiheit und Gleichheit der Reformation an. Die "protestantische Ethik" Max Webers bildet immer noch ein Fundament unserer heutigen Wirtschaftsordnung, trotz mancher Unbill.
Christliche Werte haben sich vom Christentum emanzipiert. Dass heißt nicht, dass Kirche und ihre Maßstäbe heute nicht mehr gebraucht werden. Gerade bei uns können die christlichen Kirchen vorbildhaft zeigen, wie es gelingen kann, getrennt vom Staat einen Platz zu finden und dennoch gehört zu werden und in die Gesellschaft hineinzuwirken. Denn wir leben in unruhigen Zeiten, in denen Wertevorstellungen und das Vorleben von Werten gefragt sind. In Zeiten der Verunsicherung und Beschleunigung, der zunehmend ungleichen Verteilung von Wohlstand, von Ressourcen, von Bildung. Der Staat steht vor immensen Herausforderungen und wird dabei nicht selten als schwach empfunden; Bürgerinnen und Bürger fühlen sich zu Zuschauern degradiert, zu Objekten von Prozessen, die sie weder steuern und manchmal nicht einmal verstehen können. Vielleicht orientieren sich manche deswegen zunehmend am eigenen Vorteil und am Nächstliegenden. Sie fragen: Was nützt dies mir? Was bringt mir das? - und nicht: Was bedeutet das für andere? Was wäre wichtig für die Gemeinschaft?
Die Ressourcen der Demokratie und der Zivilgesellschaft scheinen zu schwinden; umso wichtiger ist es zu fragen, wo diese Ressourcen noch vorhanden sind. In den christlichen Kirchen lagert einer der Vorräte, aus dem unser Gemeinwesen lebt. Kirche kann einen wesentlichen Beitrag leisten beim Formulieren ethischer Maßstäbe, sie ist meiner Meinung nach dafür sogar unverzichtbar. Auch wenn Erziehung zu verantworteter Freiheit zuvorderst Bildungsauftrag des Staates und der Schule ist, bleiben wir dabei auch auf das wichtige Wort der Kirchen und von Christinnen und Christen angewiesen. Kirche bietet Orientierungswissen. Sie stellt klar, dass der Mensch nicht durch Leistung gerechtfertigt ist, wie wir gestern am Reformationstag hoffentlich alle nachdrücklich noch einmal gehört haben. Sie stellt klar, dass Solidarität und Nächstenliebe nicht lästige Opfer sind, sondern den Menschen als ganzen Menschen ausmachen. Dies ist ein Beitrag, den niemand so authentisch wie die Kirche leisten kann.
Natürlich muss Kirche über Werte und Maßstäbe sprechen, das ist völlig richtig. Das darf aber nicht nach dem Motto geschehen: Dafür ist die Kirche mal zuständig, und für die harten gesellschaftlichen Fragen dann wieder andere. Sondern aus der Wertediskussion folgen natürlich Handlungen, daraus folgen Vorschläge, daraus folgen Papiere, wie sie zu Gerechtigkeitsfragen entstanden sind oder eben auch zur Bewahrung der Schöpfung. Insofern kann man nicht die Kirche dafür in Anspruch nehmen, dass sie bitte Sonntags über die Werte redet, aber sich dann Montags nicht darüber aufregen soll, dass es sehr viele Ungerechtigkeiten gibt, in unserem Land und weltweit. Und deswegen sage ich: Wertediskussion ja, aber eben in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität.
Was also ist Kirche, wie sieht Glauben und seinen Maßstäben heute aus? Kirche hält mitten in der Welt einen Platz frei für Gott, sie verkündet seine Maßstäbe, sein Wort. Auf Grundlage dieses Evangeliums sind wir in die Nachfolge gerufen, sind wir verantwortlich für den Nächsten und für die Welt. Das Evangelium leben heißt auch, die Christinnen und Christen urteils- und handlungsfähig machen.
Anrede,
ich hatte mit Dietrich Bonhoeffer begonnen. Bonhoeffer war radikal, in seinem Denken wie in seinem Handeln. Sein Leben muss uns Ansporn sein, wir sind gerufen, für Überzeugungen einzustehen, uns nicht entmutigen zu lassen von den Unzulänglichkeiten der Welt und von den eigenen, nicht von den Fehlern und den Kompromissen, die wir eingehen. Wir müssen wir die Welt immer wieder ein Stückchen besser machen wollen. Dabei „muss“, wie Bonhoeffer schreibt, „ in der gegebenen Situation beobachtet, abgewogen, gewertet, entschieden werden, alles in der Begrenzung menschlicher Erkenntnis überhaupt. Es muss der Blick in die nächste Zukunft gewagt, es müssen die Folgen des Handelns ernstlich bedacht werden, ebenso wie eine Prüfung der eigenen Motive, des eigenen Herzens versucht werden muss. Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das im Blick auf die Wirklichkeit Notwendige zu tun, kann die Aufgabe sein."
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.