"Theologie und Kirchenleitung" - Vortrag zu Ehren von Eberhard Jüngel, Tübingen

Wolfgang Huber

I.

Man kann in der Universität zu Hause sein und zugleich in der Kirche seine Heimat haben. Es ist möglich, die höchsten akademischen Reputationen zu erlangen und zugleich wichtige kirchliche Ämter wahrzunehmen. Dass jemand dem Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste angehört, schließt nicht aus, dass er beinahe dreißig Jahre lang Synodaler der Evangelischen Kirche in Deutschland ist. Bester Redner des Jahres zu sein, steht nicht im Widerspruch dazu, als Prediger geehrt zu werden; vielmehr kann ein Ehrendomprediger des Berliner Doms sogar einen Rhetorikpreis erhalten. Wenn die Schärfe des Verstandes dem Verstehen des Evangeliums dient, dann tut dies beiden gut: der universitas litterarum und der ecclesia universalis.

Eberhard Jüngels akademische Verdienste sind durch Ehrendoktorwürden wie durch die Mitgliedschaft in in- wie ausländischen Akademien der Wissenschaften gewürdigt worden. Die Art und Weise, in welcher er sein theologisches Vermögen in den Dienst seiner Kirche stellt, wurde unter anderem dadurch ausgezeichnet, dass ihm als erstem im Jahr 1986 der Karl-Barth-Preis verliehen wurde – also der nach einem Theologen benannte Preis, der sein systematisches Hauptwerk bewusst und pointiert „Kirchliche Dogmatik“ genannt hat. 1986 – das war gerade ein Jahr, bevor Eberhard Jüngel seine Bereitschaft zur Übernahme kirchlicher Aufgaben dadurch erneut unter Beweis stellte, dass er Ephorus des traditionsreichen Tübinger Stifts wurde. Glücklicherweise verzichtete er darauf, unter Berufung auf diese zusätzliche Beanspruchung auch nur eines seiner damaligen Ämter im Bereich der EKD aufzugeben. Er blieb Vorsitzender der Kammer für Theologie, wie er zugleich Vorsitzender des Theologischen Ausschusses der EKU war; er blieb Mitglied der Kammer für öffentliche Verantwortung, wie er sein Synodalamt weiterführte. Er blieb Ephorus auch über die akademische Emeritierung hinaus und fügte dem sogar noch ein anderes Ehrenamt hinzu, um dessen Wahrnehmung unsere Kirche ihn gebeten hat: die Leitung der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg.

Akademische Wirksamkeit und kirchliche Verantwortung mussten sich offenbar zusammenfügen, damit diese theologische Existenz „ganz werden“ konnte, um einen von Eberhard Jüngel selbst gewählten Buchtitel zu zitieren – übrigens nach Auffassung der Internet-Adresse „Perlentaucher.de“ eine besondere Perle unter den Neuerscheinungen keineswegs nur in der Theologie.

Eberhard Jüngel ließ es sich nie nehmen, an markanten Wendepunkten über wichtige Themen im Rat der EKD vorzutragen – wann immer es geschah, war es eine Sternstunde des Rats – oder seine Stimme öffentlich zu erheben. Die Predigt ist für ihn die Krone der Theologie; die Fähigkeit zur pointierten Formulierung kommt keineswegs nur dem akademischen Disput, sondern auch der Auslegung der Heiligen Schrift zu Gute. Blickt man auf Eberhard Jüngel, erscheint der Titel meiner heutigen Überlegungen wie ein Hendiadyoin, ist man doch schier versucht, am Beispiel dieses Theologen Kirchenleitung und Theologie als Synonyme anzusehen. Ganz so einfach ist es freilich nicht, wie sich noch zeigen wird.

Doch vorher sei gefragt: Woher kommt es, dass bei Eberhard Jüngel Kirchenleitung und Theologie so nahe benachbart sind, dass man sie schier für Synonyme halten kann? Er ist ein Theologe, dessen theologische Ursprungserfahrung eine Erfahrung mit der Kirche war. Denn unter den Bedingungen der frühen, stalinistisch geprägten DDR erfuhr er die Kirche als einen Ort, an dem die Wahrheit Raum hatte und unbeschadet von staatlicher Zensur gehört und gesagt werden konnte. Unter solchen Bedingungen war die These, die Kirche sei eine Institution befreiender Wahrheit, mehr als eine dogmatische Richtigkeit, nämlich eine erfahrungsgesättigte Realität. In dieser Wirklichkeit verwurzelte sich Eberhard Jüngel; diese Verwurzelung ist ein Kennzeichen seiner Theologie und seines Wirkens geblieben.

Sein erstes theologisches Lehramt – am Sprachenkonvikt in der Ost-Berliner Borsigstraße – war besonders durch die Beheimatung in der Kirche geprägt. Es war die Zeit, in welcher die evangelischen Kirchen in der DDR eigene Ausbildungsstätten errichten und erhalten mussten, weil sie nur so der Freiheit der Theologie den nötigen Dienst leisten konnten. Denn um die Freiheit der Theologie stand es an den staatlichen Universitäten in der DDR genauso schlecht wie um die Freiheit der Wissenschaft überhaupt. An der Stelle der Universität musste die Kirche damals die Verantwortung für die Theologie als eine freie Wissenschaft selbst übernehmen. Sie stand, wie Wolf Krötke, ein Weggefährte aus jener Zeit, erläutert hat, „vor der Aufgabe, die Ausbildung so zu gestalten, als vollzöge sie sich an der Universität, wenn denn die Theologie eine kritische Instanz der kirchlichen Praxis bleiben sollte.“ Und an anderer Stelle hat Krötke pointiert formuliert: „In den 40 Jahren DDR war die Theologie in der Kirche die Platzhalterin der freien Wissenschaft.“

II.

Platzhalterin der freien Wissenschaft musste die Theologie in der Kirche unter Umständen sein, unter denen freie Wissenschaft an der Universität nicht oder nur eingeschränkt möglich war. Anwältin der freien Wissenschaft bleibt die Theologie im evangelischen Verständnis auch dort, wo die äußeren Bedingungen der Freiheit für alle Wissenschaft gegeben sind. Freiheit braucht die Theologie aber nicht nur deshalb, weil diese zum Ethos jeder Wissenschaft gehört. Freiheit braucht die Theologie vielmehr auch, damit sie ihre kirchliche Aufgabe wahrnehmen kann. Doch worin besteht diese Aufgabe?

Der Titel „Kirchenleitung und Theologie“ ist kein Hendiadyoin; die beiden Begriffe sind keine Synonyme. Kirchenleitung und Theologie gehören zwar untrennbar zusammen; sie sind aber zugleich voneinander unterschieden. Kirchenleitung ist die praktische Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, dass die Kirche im Ganzen ihren Auftrag wahrnimmt – nämlich Gott zu loben und den Glauben an ihn zu wecken. Theologie ist, wie Schleiermachers unüberholte Definition heißt, „der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist.“  Theologie ist auf Kirchenleitung ausgerichtet, nämlich darauf, dass ihre Kenntnisse und Kunstregeln angeeignet und gebraucht werden. Kirchenleitung ist auf Theologie angewiesen, nämlich darauf, dass ihr praktisches Handeln kritisch auf sein Zusammenstimmen mit jenen Kenntnissen und Kunstregeln überprüft wird. Theologie und Kirchenleitung sind gerade darin konstruktiv miteinander verbunden, dass sie kritisch aufeinander bezogen sind. Diese kritische Beziehung trägt zuallererst den Charakter der Selbstkritik. Wer immer kirchenleitende Verantwortung wahrnimmt, prüft sich selbst kritisch mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden theologischen Mittel – keineswegs nur Theologen im kirchenleitenden Amt tun dies. Und wer immer Theologie treibt, nimmt damit kirchenleitende Verantwortung wahr – keineswegs nur dann geschieht dies, wenn es auch durch die Übernahme kirchlicher Leitungsämter äußerlich erkennbar wird.

Aber so sehr sich das konstruktiv-kritische Miteinander von Theologie und Kirchenleitung in jeder einzelnen Person abbildet, die als Theologin oder Theologe kirchenleitend tätig wird oder sich in kirchenleitender Verantwortung theologisch prüft, so sehr treten diese beiden Seiten doch auch institutionell auseinander, um sich gerade so miteinander zu verbinden. Die Theologie in ihrer akademischen Gestalt – sei es in der Gestalt eigenständiger Fakultäten an staatlichen Universitäten oder in der Gestalt akademisch eigenverantwortlicher Kirchlicher Hochschulen – und die Kirchenleitung in ihrer evangelischen Gestalt des gegliederten kirchenleitenden Amtes sind voneinander unterschieden, um miteinander in einen Dialog eintreten zu können. Gerade so kann die Theologie zur kritischen Instanz der kirchlichen Praxis werden – und es hoffentlich bleiben. Gerade so kann aber auch die Kirchenleitung zur kritischen Instanz der Theologie werden – und es hoffentlich bleiben. Während die eine über das Ergebnis ihrer theologischen Prüfung kirchlichen Handelns Auskunft gibt, gibt die andere zu erkennen, inwieweit jene theologische Prüfung das kirchliche Handeln tatsächlich trifft und vielleicht sogar fördert. So wie die Theologie die Freiheit hat, ein anderes kirchliches Handeln in Vorschlag zu bringen, so hat die Kirchenleitung die Freiheit, eine andere Theologie für wünschenswert zu halten. So frei muss dieses Verhältnis sein, damit die unlösliche Verbundenheit von Theologie und Kirchenleitung wirklich fruchtbar werden kann.

Damit Theologie ihre kirchenleitende Aufgabe wahrnehmen und Kirchenleitung ihre theologische Qualität wahren kann, müssen Kirchenleitung und Theologie in ihrer institutionellen Unterschiedenheit einander in Freiheit begegnen. Deswegen werde ich immer dafür fechten – gerade in Tübingen sage ich dies – , dass das Verhältnis von Theologie und Kirchenleitung im evangelischen Verständnis anders geregelt ist als im römisch-katholischen. Mein eigener Wechsel vom theologischen Lehramt ins Bischofsamt hat mich in dieser  Überzeugung keineswegs ins Wanken gebracht – im Gegenteil. So wie es die Aufgabe der Theologie ist, für die Freiheit des Glaubens so zu fechten, dass die Gabe der Vernunft beim Verstehen dieses Glaubens keinerlei ideologischer Herrschaft unterworfen wird, so ist es die Aufgabe der Kirchenleitung, für die Freiheit der Theologie so einzutreten, dass dies auch der Freiheit des Glaubens zu Gute kommt.

Den guten Rat der Theologen im akademischen Lehramt werden wir Kirchenleitenden immer wieder in Anspruch nehmen – insbesondere in der schlichtesten Form, die sich dafür anbietet, nämlich durch Lesen und Hören. Aber wir tun dies in eigener theologischer Kompetenz und somit in Befolgung des biblischen Rates, alles zu prüfen und das Gute zu behalten. Aber in keiner Richtung gibt es im Verhältnis zwischen Kirchenleitung und Theologie nach evangelischem Verständnis ein dezisives Votum. Weder kann die Kirchenleitung einseitig darüber verfügen, welche Theologie als kirchlich approbiert gelten kann; noch kann die Theologie einseitig darüber verfügen, welches kirchenleitende Handeln als theologisch akzeptabel zu gelten vermag. So wenig es deshalb nach evangelischem Verständnis ein dezisives Votum von Kirchenleitungen im Blick auf die Besetzung theologischer Professuren gibt – vielmehr muss es bei einem konsultativen Votum sein Bewenden haben – , so wenig gibt es ein dezisives Votum von Inhabern des theologischen Lehramts gegenüber kirchenleitenden Entscheidungen – vielmehr hat man sich auch hier mit einem konsultativen Votum zu begnügen. Sollte es bei einer solchen wechselseitigen Beratung in Freiheit einmal zu deutlich unterschiedlichen Akzenten kommen – die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre oder die Frage nach dem moralischen Status von Embryonen gelten als markante Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit – , so ist es klüger, nach dem inhaltlichen Kern solcher Kontroversen zu fragen, als die Lösung von einem dezisiven Votum auf der einen oder auf der anderen Seite zu erhoffen.

Im Übrigen wird in solchen Fällen im evangelischen Raum die Freiheit kirchenleitenden Urteilens schon dadurch gesichert, ja geradezu herausgefordert, dass die Theologen im akademischen Lehramt sich selbst nicht einig sind. Flugs neigen sie in solchen Fällen sogar dazu, ihre dissonante Pluralität mit dem Wesen der Wissenschaftsfreiheit wie mit dem Wesen des Protestantismus zugleich in eine unauflösbare Verbindung zu bringen. Dabei ist positionelle Pluralität zwar häufig ein Ausgangspunkt, aber keineswegs das Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis. Und der protestantische Zugang zur Wahrheit des Glaubens ist zwar pluralismusfähig, weiß aber doch die Wahrheit selbst von der Pluralität der Perspektiven auf diese Wahrheit zu unterscheiden. Kirchenleitende Verantwortung kommt nicht daran vorbei zu klären, welche Sichtweise auf die Wahrheit des Glaubens unter gegebenen Bedingungen aus guten Gründen mit einem Vorrang auszustatten ist. Nicht immer erhält sie dafür die erhoffte theologische Unterstützung; oft aber gelingt das.

III.

Dem Thema, das uns heute Abend beschäftigt, hat Eberhard Jüngel vor einem guten Jahrzehnt selbst einen Vortrag gewidmet. „Was ist die theologische Aufgabe evangelischer Kirchenleitung?“ So heißt der Titel dieses 1993 gehaltenen und 1994 veröffentlichten Vortrags. Was meine eigene Biographie betrifft, war dies genau die Zeit, in der ich vom akademischen Lehramt ins Amt evangelischer Kirchenleitung berufen wurde. Jüngels Vortrag war deshalb, wie Sie sich denken können, für mich eine Herausforderung zur Selbstprüfung, eine Art Beichtspiegel, der mich immer wieder fragen ließ, wie es denn mit der Theologie im kirchenleitenden Amt tatsächlich stehe.

Lassen Sie mich aus der Erfahrung von mehr als zehn Jahren eine sehr persönliche Auskunft geben: Hinsichtlich der „theologischen Aufgabe evangelischer Kirchenleitung“ sind wir gegenwärtig zugleich viel weniger und viel mehr gefordert, als gemeinhin angenommen wird.

Viel weniger: Auch geistliche Leitung in der evangelischen Kirche hat mit Haushaltsplänen und Gesetzen, mit Zahlen und Stellenplänen, mit außertheologischen Faktoren noch und noch zu tun. Kirchenleitende Gremien arbeiten lange Tagesordnungen ab, deren Zusammenhang mit der die Sitzung einleitenden Andacht nicht jederzeit und nicht für jedermann erkennbar ist. Das Ausmaß, in dem unsere evangelischen Landeskirchen noch immer staatsanalog strukturiert sind, erschwert es zusätzlich, in jedem Einzelfall die Orientierung am Auftrag der Kirche als den entscheidenden Gesichtspunkt für kirchenleitende Entscheidungen zu erkennen.

Und zugleich viel mehr: Evangelische Landeskirchen in Deutschland wie die Gemeinschaft der Evangelischen Kirche in Deutschland sehen sich einer Fülle von Herausforderungen ausgesetzt, die ohne profunde theologische Klärung gar nicht angegangen werden können. Die Wende zur Religion, das Verhältnis der Religionen zueinander, das Aufbrechen der Theodizee-Frage, das Menschenbild in einer Zeit der Ökonomisierung des Denkens, die Würde des Menschen am Beginn wie am Ende seines Lebens, der Bildungsauftrag der Kirche, christlich verantwortete Formen von Spiritualität, die missionarische Neuausrichtung unserer Kirche oder auch: ihr eigener Gestaltwandel im gesellschaftlichen Wandel – wie soll man auf solche Herausforderungen überhaupt Antworten finden wenn nicht durch gute Theologie?

An der Art von theologischer Erfahrung und Einsicht, die ich selbst in der Zeit vor dem Übergang in kirchenleitende Verantwortung gesammelt hatte, gibt es nach meinem subjektiven Eindruck keine Facette, die nicht in der kirchenleitenden Verantwortung in Anspruch genommen würde. Am elementarsten zeigt sich diese Verbindung darin, dass geistliche Kirchenleitung nach evangelischem Verständnis vor allem anderen durch die Predigt geschieht und das Bischofsamt deshalb vor allem anderen Leiten ein Predigtamt ist. Also hat es selbst Anteil an der Arbeit, in der sich alle theologische Anstrengung wie in einem Brennglas sammelt: der verkündigenden Auslegung der Heiligen Schrift.

Deshalb gewinnt in der Summe das viel mehr das Übergewicht gegenüber dem viel weniger. Und daraus wächst schließlich der Impuls, dass es bei dem Nebeneinander zwischen beidem sein Bewenden nicht haben kann. Auch die Alltagsentscheidungen kirchenleitenden Handelns müssen – und können – transparent gemacht werden für die theologischen Gesichtspunkte, unter denen sie allein in ihrer kirchlichen Bedeutung wirklich zu ermessen sind. 

IV.

Eberhard Jüngels Vortrag über „die theologische Aufgabe evangelischer Kirchenleitung“ von 1993 ist von dem Grundgedanken geprägt, dass evangelische Kirchenleitung die Selbstprüfung und Selbstkorrektur der Kirche ist, in welcher die kirchliche Lehre auf ihre Konsensfähigkeit geprüft wird. Diese These unterstreicht auf ihre Weise den unlöslichen Zusammenhang von Kirchenleitung und Theologie. Ausgehend von dieser These will ich drei Dimensionen der damit gestellten Aufgabe genauer beleuchten.

1. Nicht die Bestandserhaltung der Kirche, sondern der ihr gegebene Auftrag bestimmt die theologische Selbstprüfung und Selbstkorrektur der evangelischen Kirche. Eine Gegenüberstellung prägt die evangelische Auffassung, die durch ein berühmtes Zitat Martin Luthers vorgegeben ist: „Denn wir sind es doch nicht, die da kündten die Kirche erhalten, unser Vorfarn sind es auch nicht gewesen, Unser nachkomen werdens auch nicht sein, Sondern der ists gewest, Ists noch, wirds sein, der da spricht: Ich bin bey euch bis zur welt ende, wie Ebre. am 13. stehet: Jhesus Christus heri et hodie et in secula, Und Apocalyp.: der es war, der es ist, der es sein wird, Ja so heist der Man, und so heist kein ander man, und sol auch keiner so heissen.“

Kirchenleitendes Handeln ist am Auftrag der Kirche orientiert und nicht an ihrer Selbsterhaltung. Die Aufgabe evangelischer Kirchenleitung beschränkt sich deshalb nicht auf die Verwaltung des Bestehenden, sondern gilt der Gestaltung des Bevorstehenden.

So eindeutig und unumkehrbar dieses Gefälle vom Auftrag zur jeweiligen Form der Kirche auch ist, so sehr muss man doch zugleich vor einer ideologischen Trennung dieser beiden Aspekte warnen. Ihren Auftrag erfüllt die Kirche immer in einer konkreten institutionellen Gestalt. Um die Erhaltung, Verbesserung und Weiterentwicklung dieser Gestalt bemüht sie sich gerade, weil sie sich als Verantwortungsgemeinschaft zur Weitergabe des Evangeliums an die nächste Generation versteht. In der äußersten Not bleibt von dieser Gestalt nicht viel mehr übrig, als ein in aller Stille und ohne alles Aufheben gefeierter Gottesdienst – ohne Glocken und Gesang, ohne Kirchenraum und vielleicht sogar ohne Heilige Schrift, wie das in China während der Kulturrevolution der Fall war. In einer solchen Situation kann man spüren, was damit gemeint ist, dass Gott selbst seine Kirche erhält, über alle Zerstörung ihrer institutionellen Formen hinweg.

Doch eine ignorante Gleichgültigkeit gegenüber den institutionellen Formen, in denen die Kirche Gestalt gewinnt, lässt sich aus dem geschilderten Lutherschen Gefälle nicht ableiten. Vielmehr gilt – und zwar im Zusammenklang zwischen den Erkenntnissen der Reformation und den Einsichten des Kirchenkampfs –, dass die Kirche „mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung“ die Zugehörigkeit zu Christus als ihrem Herrn und die Treue zu ihrem Auftrag bezeugt. Deshalb verdient auch die institutionelle Gestalt der Kirche die aufmerksame Selbstprüfung und Selbstkorrektur, die auf einen Konsens über die kirchliche Lehre – in diesem Fall über die kirchliche Lehre von der Kirche – gerichtet ist. Gerade weil dem Auftrag der Kirche der Vorrang gebührt, brauchen wir im evangelischen Bereich eine Theologie der Kirche als Institution.

2. Eine solche Lehre gibt es freilich nicht in konfessioneller Selbstgenügsamkeit, sondern nur im ökumenischen Horizont. Dass wir eine evangelische Selbstverständigung in kirchenleitender Absicht nur im ökumenischen Horizont zureichend vollziehen können, zeigt sich derzeit nicht nur in der Auseinandersetzung mit dem römisch-katholischen Amtsverständnis, wie es uns zuletzt in der Verweigerung wechselseitiger eucharistischer Gastbereitschaft in einer Weise entgegengetreten ist, die ich selbst nach wie vor als theologisch enttäuschend empfinde. Dieser Klärungsbedarf zeigt sich vielmehr auch in der aktuellen innerevangelischen Debatte über das Wesen des kirchlichen Amtes und die Reichweite der Ordination. In dieser Debatte zeigen sich die einen von der römisch-katholischen Forderung beeindruckt, auch die Kirchen der Reformation müssten sich auf ein sakramentales Verständnis des kirchlichen Amts zubewegen. Die anderen halten sich an die normative Kraft des Faktischen und wollen die teilweise ziemlich ungeordnete Vielfalt der Beteiligungen am Auftrag der Kirche zur öffentlichen Verkündigung des Evangeliums durch eine möglichst weit gespannte Praxis der Ordination einfangen.

Nach der einen dieser beiden Seiten hin ist geltend zu machen, dass die ökumenische Bestimmung evangelischer Theologie nicht darin besteht, das reformatorische Glaubensverständnis einfach an vermeintlich vorgegebene römisch-katholische Standards anzupassen. Vielmehr geht es darum,  dem reformatorischen Kirchentypus auch im Blick auf das Amtsverständnis einen klaren und in sich stimmigen, d.h. eigenständigen und – ich sage - selbstbewussten Ausdruck zu verleihen.

Nach der anderen Seite hin ist daran zu erinnern, dass die Reformation gerade um des allgemeinen Priestertums der Glaubenden und um der Vielfalt der Gaben in der christlichen Gemeinde willen eine klare Ordnung des Amts zur öffentlichen Verkündigung des Evangeliums und zur Verwaltung der Sakramente anstrebte. Im Blick auf das römisch-katholische Amtsverständnis ist mit Eberhard Jüngel geltend zu machen, dass es auch in der evangelischen Theologie eine klare Konzeption der „apostolischen Sukzession“ gibt, die eben nicht an den Weihestatus eines Amtes, sondern an die Treue zur apostolischen Botschaft selbst gebunden ist. Aber im Blick auf evangelische Tendenzen zur Auflösung des ordinierten Amtes ist daran zu erinnern, dass dieses ordinierte Amt als Gegenüber das Priestertum aller Glaubenden gerade nicht schwächt, sondern stärkt.

3. Die Wahrheit des christlichen Glaubens ist im kirchenleitenden Handeln nicht nur nach innen zu verdeutlichen, sondern auch nach außen zu vertreten. Denn es handelt sich bei dieser Wahrheit nicht um eine partikulare Erkenntnis zum innerkirchlichen Dienstgebrauch; sondern die Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens ist im Dialog mit anderen Glaubensgewissheiten wie auch mit nichtreligiösen Überzeugungen selbstkritisch zu prüfen und auftragsgewiss zu vertreten.

Die Hilfe der Theologie erhoffe ich mir in diesem Zusammenhang vor allem aus zwei Gründen. Die Theologie ist in ihrer Teilhabe an der besonderen Freiheit der Wissenschaft ständig dazu herausgefordert, die Wahrheit des Evangeliums in der Begegnung mit dem wissenschaftlichen Wahrheitsbewusstsein zu prüfen und zu vertreten; wenn sie dies mit Wahrnehmungsfähigkeit und Selbstbewusstsein tut, steht sie genau an der Schwelle zwischen Kirche und Welt, an der auch in kirchenleitender Verantwortung die Wahrheit des Evangeliums heute zu vertreten ist. Ich erinnere an die Nötigung zur klärenden Auskunft, vor die wir in den letzten Wochen durch die unfassbaren Todesopfer gestellt waren, die das Seebeben im Indischen Ozean forderte. Warum konnte Gott das zulassen? Nicht innerkirchlich wird so gefragt; vielmehr wird diese Frage im Horizont der Welterfahrung ausgesprochen.

Heute kann die Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens nur noch angesichts der Pluralität von religiösen wie nichtreligiösen Überzeugungen vertreten werden; diese Pluralität bestimmt unsere gesellschaftliche Wirklichkeit. Manche flüchten vor dieser Herausforderung in einen allgemeinen Relativismus, der im christlichen Glauben allenfalls noch ein auswechselbares Sprachspiel oder eine metaphorische Verschlüsselung für das Selbstbewusstsein des modernen Ich zu erkennen vermag. Andere ziehen sich aus den Anfechtungen dieser Pluralität in den – gerade dann vom Kleinerwerden bedroht – Binnenraum innerkirchlicher Verständigung zurück.

In die eine Richtung ist unzweideutig festzustellen: Eine Theologie, die sich auf einen solchen Binnenraum zurückzieht, ist nicht besser als eine Kirchenleitung, deren Tätigkeit sich in der Verwaltung des Bestehenden erschöpft.

In die andere Richtung aber ist ebenso unzweideutig zu erklären: Wer auf die Herausforderung einer religiös plural gewordenen Gesellschaft mit einem allgemeinen Relativismus antwortet, steht vor demselben Dilemma wie eine Kirchenleitung, die den Trend zur Selbstsäkularisierung der Kirche auch noch in einer Zeit fortsetzt, die bereits von einer Wiederkehr der Religion geprägt ist.

Das ist übrigens eine besondere Form von Ungleichzeitigkeit: wenn Theologie und Kirche nach wie vor gebannt auf die angebliche Säkularisierung schauen, während die Welt schon längst eine Wiederkehr der Religion erlebt. 

Dieser Wiederkehr der Religion kann die evangelische Kirche weder tatenlos zuschauen noch willenlos applaudieren. In dieser Wiederkehr der Religion liegt vielmehr eine Herausforderung zur kritischen Unterscheidung. In einer Zeit, in der Religion keineswegs nur gute Früchte bringt, müssen wir erklären, warum der christliche Glaube das Heil verbürgt und deshalb dem Leben dient.

In der religiös-weltanschaulichen Pluralität, die wir gegenwärtig erleben, liegt eine unvergleichliche Herausforderung zu beidem: zum Verstehen des Fremden wie zur Vergewisserung der eigenen Identität. Wer diese doppelte Herausforderung ernst nimmt, wird zugeben müssen, dass weder Theologie noch Kirche je für sich „ganz werden“ können. Nur miteinander kann das gelingen. Deshalb gehören gerade heute Kirchenleitung und Theologie zusammen.

Einem, der das schon lange wusste, lieber Eberhard Jüngel, wird es gut tun, wenn auch andere das merken.