„Der Beruf zur Politik“ - Zwanzig Jahre Demokratiedenkschrift der EKD, Vortrag beim Johannisempfang, Berlin
Wolfgang Huber
I.
„Die politische Verantwortung ist im Sinne Luthers ‚Beruf’ aller Bürger in der Demokratie.“ So heißt der Schlüsselsatz einer Denkschrift der Evangelischen Kirche, deren Veröffentlichung sich in diesem Jahr zum zwanzigsten Mal jährt. Die politische Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Textes. Der „Beruf zur Politik“ wird deshalb nicht nur denen zugesprochen, die „Politik als Beruf“ haben, wie es ein berühmter Vortrag des Soziologen Max Weber in seinem Titel sagt. Die Rolle der „Berufspolitiker“ erfährt durch diese evangelische Wendung keine Geringschätzung; aber besonderer Nachdruck gilt dem Gedanken, dass die Bürgerinnen und Bürger sich nicht ihrer eigenen Verantwortung entledigen können, indem sie auf die von ihnen Gewählten verweisen. Die evangelische Kirche bekennt sich auf diesem Hintergrund zu einem Verständnis politischer Verantwortung, das den Respekt denen gegenüber ins Zentrum rückt, denen auf der Basis des allen gemeinsamen „Berufs zur Politik“ stellvertretend Verantwortung auf Zeit übertragen wird und die diese besondere Verantwortung zu ihrem Beruf machen.
Heute über die Demokratie-Denkschrift von 1985 zu sprechen, hatte ich mir vorgenommen, als ich noch nicht ahnen konnte, welche Frage der Bundeskanzler morgen dem Bundestag stellen wird und welche weitreichenden Folgerungen der Bundespräsident möglicherweise aus der Antwort des Parlaments ziehen wird. Aber es fügt sich gut, dass am Vorabend so gewichtiger Entscheidungen zur Sprache kommt, was uns alle verbindet: Die Zustimmung zur Demokratie als Lebensform und der Dank an diejenigen, die bereit sind, Ämter in der Demokratie zu übernehmen.
II.
Wenige hundert Meter von hier entfernt befand sich im Jahre 1985 noch die Machtzentrale der DDR, das Zentralkomitee der SED. Zu jener Zeit wäre es undenkbar gewesen, dass ein EKD-Ratsvorsitzender am Gendarmenmark – damals hieß er „Platz der Akademie“ – zu dem Thema „Der Beruf zur Politik“ öffentlich hätte reden können. Auch die Denkschrift selbst zeugt von dieser Zeit. Mit Rücksicht auf die politischen Verhältnisse in diesem Teil Deutschlands bot das Vorwort zur Denkschrift eine Lesart an, die ihre Aussagen allein auf das Staatsgebilde der damaligen Bundesrepublik bezog.
Die Denkschrift liest sich jedoch anders, wenn es in ihr heißt: „Nur eine demokratische Verfassung kann heute der Menschenwürde entsprechen.“ Deshalb waren aus der DDR damals Stimmen zu hören, denen die Verpflichtung der Christen auf die demokratische Verfassung erheblich zu weit ging.
Dass der Wunsch nach Freiheit und Menschenwürde die kommunistischen Systeme in Osteuropa schon wenige Jahre später hinwegfegen würde, erwarteten die Verfasser der Denkschrift freilich nicht. Dass die Zustimmung zur Demokratie schon so bald in ganz Deutschland von Christen zur Grundlage ihres politischen Handelns gemacht werden konnte, ohne dass sie dabei mit persönlichen Schwierigkeiten rechnen mussten, ging über die gängigen Erwartungen auch in den Kirchen weit hinaus. Der Dank für diesen geschichtlichen Wandel – über alles Bitten und Verstehen hinaus – ist Grund genug dafür, sich der Zustimmung zur Demokratie immer wieder neu zu vergewissern.
III.
Die Demokratie ist ebenso wenig eine „christliche Staatsform“ wie jede andere Staatsform auch. Gleichwohl ist, wie die Denkschrift festhält, die positive Beziehung von Christen zum demokratischen Staat des Grundgesetzes nicht nur äußerlich. Sie hat mit grundlegenden Überzeugungen und Werthaltungen des christlichen Glaubens zu tun. Die unantastbare Würde jedes Menschen, die Anerkennung von Freiheit und Gleichheit, der nüchterne Blick auf die Irrtumsanfälligkeit und Schuldhaftigkeit der menschlichen Natur und der Respekt vor der Verschiedenheit der Menschen stehen beispielhaft für Gesichtspunkte, in denen Christentum und Demokratie sich treffen.
Der staatlichen Ordnungsaufgabe muss jedes Gemeinwesen nachkommen, unabhängig davon, wie es verfasst ist. Der demokratische Staat tut dies in einer Form, in der die Ausübung von Macht der Kontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger unterworfen ist. Deshalb haben alle politisch Handelnden an der Verantwortung dafür Anteil, dass die institutionellen Vertrauensgrundlagen der Demokratie bewahrt und gepflegt werden. Aus diesem Grund wird in der aktuellen Lage auf beides zu achten sein: auf das Votum der Bürgerinnen und Bürger, die politische Macht auf Zeit anvertrauen, aber ebenso auf die Regelungen der Verfassung, die kein Selbstauflösungsrecht des Parlaments kennt, sondern genau in dieser Frage den Bundespräsidenten mit einer besonderen Zuständigkeit ausstattet.
Die Demokratie beruht auf einer institutionellen Vertrauensbasis, die von Personen unabhängig ist. Aber das Vertrauen in die Institutionen der Demokratie hängt zugleich vom Vertrauen in die handelnden Personen ab. Wie auch immer die Entscheidungen der nächsten Tage und Wochen sich entwickeln: uns sollte die Hoffnung verbinden, dass Vertrauen in die Politik auch dadurch wächst, dass die Grundfragen unseres Zusammenlebens fair diskutiert und über die besten Lösungswege offen gestritten wird.
Vielen Menschen sind wichtige Stücke ihrer Zukunftsgewissheit abhanden gekommen; darunter leidet auch das Zutrauen zur Demokratie. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kann diese Zukunftsgewissheit nicht aus dem Versprechen erwachsen, es werde für alle materiell immer aufwärts gehen. Wer in einer solchen Lage Einschränkungen verlangt, muss deutlich machen, dass auf diese Weise der Weg in die Zukunft gelingt. Er muss auch glaubhaft machen, dass solche Einschränkungen allen in fairer Weise abverlangt werden. Heute brauchen wir eine Diskussion nicht nur über die Maßnahmen, die ergriffen werden sollen, sondern auch über die Ziele, auf die wir zugehen wollen. Dabei ist wieder und wieder daran zu erinnern, dass eine lebendige Gesellschaft auf ein lebendiges Miteinander der Generationen angewiesen ist.
IV.
Die Rede vom „Beruf zur Politik“ ist im Neuen Testament und in der Reformation verwurzelt. Im ersten Korintherbrief des Apostels Paulus heißt es: „Nur soll jeder so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gott einen jeden berufen hat ... Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde“ (1. Kor. 7, 17.20). Aus diesem Bibelabschnitt entwickelte Martin Luther seine Vorstellung von Beruf und Berufung. Der Beruf eines Menschen ist nicht nur ein Job, sondern er beruht auf einer Berufung. Berufung aber heißt für Luther, dem Ruf Gottes zu folgen und zu entsprechen – und zwar auch in der alltäglichen weltlichen Arbeit. Auch in einem solchen äußeren Beruf liegt eine innere Berufung: die Berufung nämlich zum Dienst am Nächsten. Kein Beruf ist davon ausgenommen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Stallmagd – so heißt eines von Luthers Lieblingsbeispielen – dem Fürsten absolut gleich.
Damit ist jeder Vorrang einer religiösen Berufung vor weltlichen Tätigkeiten ausgeräumt. Aber auch politische Tätigkeiten haben aus dieser Perspektive keinen höheren Rang als andere Aufgaben. Man muss jedoch hinzufügen: Die politische Tätigkeit hat auch keinen geringeren Rang als jeder andere Beruf. Der Einsatz der Eltern für ihre Kinder ist aus einer solchen Warte ebenso ein „Beruf“ wie das ehrenamtliche Wirken für den Nächsten. Jegliche Berufserfüllung im engeren wie in diesem weiteren Sinn wird von Luther als Gottesdienst verstanden. So gewaltig die historischen Auswirkungen dieser Auffassung auch waren, so leicht wird sie doch auch immer wieder verdrängt. Das geschieht beispielsweise durch die Meinung, nur die bezahlte Arbeit sei ein Beruf, oder durch den Gedanken, es handle sich in Wahrheit nur um einen Job, für den allein der Eigennutz oder – vornehmer – die Eigenverantwortung als Maßstab gilt.
V.
Gegenüber solchen Verflachungen ist die Erinnerung an die ursprüngliche Kraft des Berufsbegriffs ein hilfreiches Gegenmittel. Auch der Politik tut es gut, wieder in diesem ernsthaften und handfesten Sinn als „Beruf“ begriffen zu werden – und zwar in beiden Richtungen. Ein Beruf ist die Politik für die, die ihr auf Zeit oder Dauer ihre ganze Arbeitskraft widmen. Deshalb sind übrigens auch die Empfindungen und Sorgen derer ernstzunehmen, deren politisches Amt im Zusammenhang mit Wahlen zu Ende geht. Den Beruf zur Politik im weiteren Sinn aber hat jede Bürgerin und jeder Bürger. Die Demokratie beruht deshalb auf einem wechselseitigen Vertrauensverhältnis zwischen Wählenden und Gewählten. Wie bereits John Locke erläutert hat, ist es für den demokratischen Staat einerseits notwendig, dass die Bürger der legitimen Regierung vertrauen; andererseits aber muss auch die Regierung sich auf das rechtskonforme Verhalten der Bürger verlassen. Man muss jedoch weitergehen; und die Demokratiedenkschrift von 1985 hat das getan. Der Staat ist darauf angewiesen, dass die Bürger den institutionellen Rahmen mit Leben füllen, also am politischen Prozess teilnehmen und sich in die politische Meinungsbildung einbringen. Und die Bürger können erwarten, dass diejenigen, die von ihnen gewählt werden oder gewählt werden wollen, Rechenschaft über ihr Tun wie über ihre Vorhaben ablegen. Transparenz und Beteiligung sind unerlässliche Bedingungen für das Funktionieren der Demokratie. Dass es daran so oft fehlt, ist beunruhigend.
Max Weber bezeichnet die Staatsbürger in seinem Vortrag über „Politik als Beruf“ als „Gelegenheitspolitiker“. Gelegenheiten, in denen sich jedermann als Politiker betätigt, sind nach Weber beispielsweise Willensbekundungen während des Wahlaktes oder Diskussionen über politische Themen. Auch der Protest gegen eine bestimmte Politik oder gegen die Politik überhaupt zählt hierzu. Gelegenheitspolitiker unterscheiden sich von Berufspolitikern in erster Linie dadurch, dass sie von der Politik nicht im materiellen Sinne leben. Den Bürger trennt in der Form des Weberschen Gelegenheitspolitikers somit weniger vom Berufspolitiker, als gemeinhin angenommen wird. Verächtliche Überheblichkeit gegenüber der „politischen Klasse“ verbietet sich daher von selbst.
Doch der Begriff des Gelegenheitspolitikers hat etwas Zufällig-Beliebiges. Deshalb ziehe ich die Rede vom Beruf zur Politik, der uns alle miteinander verbindet, vor. Ich halte ihn gerade heute für angebracht. Denn die tiefgreifenden Veränderungen, die in Angriff genommen wurden und weiter gestaltet werden müssen, können nur gelingen, wenn unter aktiver Beteiligung vieler Menschen der relativ beste Weg gesucht und die Notwendigkeit dieser Veränderungen einsichtig gemacht wird.
Zu den Pflichten eines Christenmenschen gehört es, an dieser Aufgabe mitzuwirken. In der Denkschrift von 1985 heißt es: „Im Gehorsam gegen Gottes Gebot sollen Christen aus der Freiheit des christlichen Glaubens heraus dazu beitragen, dass der Staat als Demokratie seinem Auftrag gerecht werden kann. ... Der Ruf zur Nächstenliebe fordert also sehr nüchtern auch die Bereitschaft zur Übernahme politischer Verantwortung.“
Wahlen sind ein erster und wichtiger Ort solcher Verantwortung. Der politische Beruf hat aber auch viele andere Seiten und ist auf die klassische Politik nicht begrenzt. Ob „große“ oder „kleine“ Politik auf kommunaler oder auf nachbarschaftlicher Ebene – entscheidend ist, dass wir fragen, was dem Nächsten, was der Gemeinschaft dient. Auch der Einsatz für die Grundlagen unseres demokratischen Gemeinwesens, insbesondere für die Grundrechte folgt dem Ruf zur Nächstenliebe.
Für Menschen, die in gesicherten und auskömmlichen Verhältnissen leben, ist es vergleichsweise leicht, solchen Aussagen zuzustimmen. Für diejenigen, deren Arbeitsplätze in Gefahr sind oder die sich aus anderen Gründen Sorgen um die persönliche Zukunft machen, ist es ungleich schwerer, sich politischen Aufgaben und Nöten zu widmen. Das institutionelle Vertrauen in die Demokratie liegt ihnen oft ebenso fern wie das persönliche Vertrauen in die Politiker. Vertrauen wächst nur dort, wo Hoffnung auf Besserung besteht. Diese Hoffnung gedeiht umso eher, wenn Menschen erleben, dass sie sich an der Gestaltung einer besseren Zukunft beteiligen können.
VI.
Im Sinn Martin Luthers ist die Berufung in ein politisches Amt nicht allein durch einen Wahlakt legitimiert. Die wahre Legitimation liegt darin, dass der Berufene nicht die Macht an sich, sondern den Dienst für das Gemeinwohl in den Mittelpunkt seines politischen Handelns stellt.
Legitimerweise ist die Politik ein Kampf um die Macht. Das wird die nächsten Monate prägen. Aber es kommt eben darauf an, dass die Art dieses Kampfes die Ziele nicht desavouiert, um deretwillen Macht übertragen wird. Politik sichert die Ordnung um der Freiheit willen. Sie legitimiert die Durchsetzung von Interessen unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls. Sie gestaltet die Gesellschaft wie auch den Umgang mit der Natur unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit. Eben deshalb darf sie sich nicht allein an Wahlterminen orientieren; und wenn durch die Einleitung eines Reformprozesses die Unterstützung durch die Wählermehrheit in Frage gestellt ist, verdient die Bereitschaft, sich dem Wählervotum neu zu stellen, nach meiner Einschätzung Anerkennung und Respekt.
Politik kann auf die Bindung an moralische Maßstäbe nicht verzichten. Auch das gehört zu den Gründen, deretwegen Max Weber die Politik als das Bohren von harten Brettern bezeichnet hat. In diesen Tagen sehen wir beispielhaft, dass sich die europäischen Bretter als ebenso hart erweisen wie die nationalstaatlichen. Auch die Schwierigkeiten im Prozess der europäischen Integration haben damit zu tun, dass Vertrauen neu erworben werden muss, auch in diesem Fall in die Institutionen genauso wie in die Personen.
In welchem Zusammenhang auch immer das Bohren harter Bretter nötig ist, es bedarf dafür besonderer Qualitäten. Schon Max Weber hat sie beschrieben: Leidenschaft, Augenmaß, Verantwortungsbewusstsein. Diese Qualitäten wünsche ich uns allen.