Religionsfreiheit und Toleranz - Wie aktuell ist der Augsburger Religionsfriede?, Berlin
Wolfgang Huber
I.
In einer Zeit verfassungsmäßiger und religionspolitischer Zerrissenheit sollte der Augsburger Religionsfrieden von 1555 die Voraussetzungen des Friedens erneuern. Dazu sah er eine politische Koexistenzordnung vor, in der den Anhängern der "Augsburgischen Konfession" und der "alten Religion" die äußere rechtliche Existenzsicherung und zugleich die Freiheit der geistlichen Entfaltung garantiert wurden. Eine Lösung der Konflikte durch ein Religionsverbot oder durch ein Verdrängen von Religion aus der Öffentlichkeit kam nicht in Betracht. Verankert wurde vielmehr der Anspruch beider religiöser Lager, sich im öffentlichen Leben entfalten zu können. Das Reich ließ beiden Seiten diese Freiheit und gewährleistete den äußeren Frieden. Zugleich wurden die Beteiligten verpflichtet, "durch christliche, freundliche und friedliche Mittel und Wege zu einhelligem, christlichem Verständnis und Vergleich" zu kommen. Durch die §§ 14 und 15 des Augsburger Religionsfriedens, nämlich durch "Landfriedensformel" und "Religionsformel", wurde der allgemeine politische Friede im Reich mit dem Frieden zwischen den Religionen verbunden. Durch seine eigene Einbeziehung in diese Vereinbarung unterwarf sich der König zugleich dem Gebot der Neutralität bei der Behandlung der Konfessionen. So war der Augsburger Religionsfrieden eine erste verfassungsmäßige Sicherung von Frieden und Freiheit in einer Gesellschaft, deren religiöse Zusammensetzung sich nachhaltig änderte.
Zwar wurde mit diesem Vertragswerk dem Einzelnen bei weitem nicht das Maß an Religionsfreiheit gewährt, das wir heute gewohnt sind und erwarten müssen. Die Formel „cuius regio eius religio“, mit welcher der Augsburger Religionsfriede ein knappes halbes Jahrhundert später zusammengefasst wurde, erinnert ja eher an eine säkularisierte Variante der Vorstellung vom „kanonischen Territorium“, auf das (mitsamt seinen Bewohnern) eine bestimmte Kirche sozusagen ein garantiertes Zugriffsrecht habe, und weit weniger an die Vorstellung von Religionsfreiheit im Sinne einer individuellen religiösen Selbstbestimmung. Der Augsburger Religionsfrieden hat dennoch im Bemühen um die friedliche Koexistenz verschiedener Konfessionen in einem politischen Gemeinwesen die Entwicklung zu einer allmählichen konfessionellen Neutralisierung des Rechts eingeleitet und damit auch den Weg zur Berücksichtigung des persönlichen Gewissens und der individuellen Religionsfreiheit geebnet.
Welche Aktualität hat dieses Friedenskonzept heute? Wie stellen sich Religionsfreiheit und Toleranz aus unserer heutigen Sicht dar? Wie verhalten sich staatliche Religionsneutralität und individuelle religiöse Überzeugung zueinander? Gibt es für diese Frage eine Antwort, die nicht auf der Grundlage beruht, die Religion in den Bereich des Privaten zu verweisen? Und gibt es einen Umgang mit religiöser Pluralität, der zugleich der besonderen religiösen Prägung Europas gerecht wird, in der die jüdisch-christliche Tradition eine besondere Bedeutung hat? Solche Fragen drängen sich im Jubiläumsjahr des Augsburger Religionsfriedens unabweisbar auf.
II.
Derzeit gewinnt die Überzeugung an Gewicht, dass Begriffe wie Freiheitlichkeit, Toleranz und Pluralität ein anspruchsvolles Lebens- und Gesellschaftskonzept beschreiben, das einer tragfähigen Begründung bedarf. Das gilt für jeden einzelnen, es gilt aber auch für die Gemeinschaft. Wir fragen nicht mehr nur nach der Vielfalt der uns offen stehenden Optionen. Wir fragen auch neu nach den Ligaturen, den Kohäsionskräften unserer Gesellschaft. Die Frage nach Religion gewinnt im Zusammenleben in einer Gesellschaft wieder an Bedeutung. Bedrückende Ereignisse tragen auf ihre Weise dazu bei.
Die erschütternden religiös motivierten Gewaltakte der letzten Jahre werfen düstere Schatten auf das friedliche Miteinander von Menschen und Religionen. Die Terroranschläge in New York am 11. September 2001, in Madrid am 11. März 2004, in Beslan am 1. September 2004, in Amsterdam am 10. November 2004 und in London am 7. Juli 2005 haben Vorbehalte und Spannungen zwischen Christen und Muslimen entstehen lassen. Beide großen Weltreligionen müssen daran arbeiten, der Gewalt entschlossen entgegen zu treten und alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um einen Beitrag zur Stabilisierung des inneren Friedens in der Gesellschaft zu leisten. Dies schließt den Dialog unter ihnen und den Diskurs mit der Politik darüber ein, was Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit in der offenen Gesellschaft sind, in der wir leben und leben wollen. Dem dienen die folgenden Überlegungen.
Es gibt keine Religion, die ohne Konsequenzen für die Lebensführung wahrhaftig gelebt werden kann. Insofern hat jede Religion zugleich mit ihrer höchst individuellen Dimension auch eine öffentliche, politische Dimension. Sie betrifft nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben. Die offene Gesellschaft westlicher Prägung lebt von der Vielfalt von Basisorientierungen, Meinungen, Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Religionen, deren Beziehungen zueinander im Prozess der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz gestaltet werden müssen. Toleranz ist dabei nicht gleichzusetzen mit: alles für richtig halten und jedem Recht geben. Wer nach allen Seiten offen ist, ist nicht mehr ganz dicht, sagt ein Wort, das gute Chancen dazu hat, ein Sprichwort zu werden. Wenn alles gleich gültig ist, wird alles gleichgültig. Es wird beliebig und verliert an Bindungskraft und Überzeugung. Im Umgang der Religionen miteinander ist etwas anderes gefordert, nämlich das Aushalten und Austragen von Differenzen in wechselseitigem Respekt. Die freiheitliche offene Gesellschaft lebt dabei nicht von einem sich gegenseitig in Ruhe lassen; sie braucht eine Haltung wechselseitigen Respekts, die den Dialog einfordert und dem Streit um die Wahrheit nicht ausweicht.
Ob diese Haltung mit dem Begriff der Toleranz glücklich bezeichnet ist, kann man mit guten Gründen bezweifeln. Die herrscherliche Toleranz, die den Begriff lange bestimmte, liegt hinter uns – und zwar hoffentlich für immer. Denn gemessen an wirklicher Religionsfreiheit muss einem solche Toleranz, um Jan Philipp Reemtsma zu zitieren, schier tyrannisch vorkommen. Die „Herzenstoleranz“ dagegen, die bisweilen an ihre Stelle getreten ist, hat ihre Schwäche darin, dass die Wahrheitsfrage sich verflüchtigt.
Wann immer von Toleranz die Rede ist, wird die Aufmerksamkeit auf den Beitrag gelenkt, den Lessing mit seinem „Nathan“ zu diesem Thema geleistet hat. Doch die Frage muss erlaubt sein, ob Lessing wirklich einen weiterführenden oder gar für die Gegenwart tragfähigen Beitrag zum Toleranzproblem geleistet hat. Ist denn - so will ich entgegen der weitverbreiteten Meinung fragen - das Bild der drei Ringe, unter denen der wahre Ring sich nicht mehr finden lässt, wirklich ein überzeugendes Modell von Toleranz? Die drei Söhne, die von ihrem Vater drei gleich aussehende Ringe erhalten, ziehen vor den Richter, um feststellen zu lassen, wer den echten Ring und mit ihm auch die Herrschaft erhalten hat. Da jedoch nach der Auffassung des Richters die Wahrheitsfrage nicht entschieden werden kann, macht er stattdessen die Frage zum Prüfstein, wer von den dreien der beliebteste sei, welchen also zwei der drei Brüder besonders lieben. Dieser Test geht negativ aus, weil ja die erklärte Liebe zu einem Bruder das Eingeständnis impliziert hätte, dass er über den echten Ring verfügt. Das veranlasst den Richter zu der Einschätzung, dass es diesen gar nicht mehr gibt; er ging vielmehr, so vermutet er, verloren. An die drei Brüder appelliert er, trotzdem an die Echtheit ihres Rings zu glauben und dies durch ein Verhalten unter Beweis zu stellen, das durch vorurteilsfreie Liebe und Verträglichkeit geprägt ist.
Mit diesem Ausgang der berühmten Ringparabel wird die Frage nach dem Verhältnis von Toleranz und Wahrheit geradezu suspendiert. Das Ertragen einer fremden Wahrheitsüberzeugung wird nicht mehr gefordert; denn nach der Wahrheit der Religion wird überhaupt gar nicht mehr gefragt. Die Wahrheitsgewissheit wird aus einer Überzeugung zu einer Hypothese in praktischer Absicht. Religion wird auf Moralität reduziert.
Der Respekt vor den Glaubensüberzeugungen anderer muss dagegen in einer christlichen Perspektive geradezu in einer Glaubensgewissheit gründen, um deretwillen der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Reformatorisch geprägter Glaube stützt sich dafür auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Denn diese göttliche Anerkennung beruht gerade nicht auf den von Menschen erbrachten Leistungen, sondern auf einer göttlichen Toleranz, die den gottlosen Menschen „erträgt“ und als von Gott geliebtes Geschöpf annimmt.
Wenn wechselseitige Achtung demzufolge nicht in einer religiösen Indifferenz, sondern in einer bestimmten und bestimmbaren Glaubensgewissheit gründet, dann hat das freilich Folgen für die Art und Weise, in welcher sie praktiziert wird. Wenn die Achtung vor dem Anderen auf eine bestimmte und bestimmbare Wahrheitsgewissheit angewiesen ist, dann kann sie sich gerade nicht in einer Suspendierung der Wahrheitsfrage Ausdruck verschaffen, sondern sie muss sich auch im Streit um die Wahrheit bewähren. Wenn diese Achtung eine im Leben bewährte Folge des Gottesverhältnisses ist, dann kann Religion auch um der Toleranz willen nicht auf Moralität reduziert werden; vielmehr muss gerade im Verhältnis zwischen den Religionen die Gottesfrage in ihrer konstitutiven Bedeutung zur Sprache kommen. Deshalb ist die Frage nach Frieden und Toleranz zwischen den Religionen auch noch nicht mit der Ausrufung eines „Projekts Weltethos“ beantwortet; die Antwort kündigt sich vielmehr erst dann an, wenn die Religionen ihre Differenzen im Glaubensverständnis in einer Weise austragen können, die den Frieden nicht gefährdet, sondern stärkt.
Spätestens die Terrorakte unserer Zeit mitsamt ihren pseudoreligiösen Deutungen haben deutlich gemacht, wie unausweichlich der Dialog ist, wenn Frieden zwischen den Religionen erreicht und die Friedensverantwortung der Religionen verwirklicht werden sollen. Die Gewalttaten in Amerika und Europa, deren Zeugen wir geworden sind, müssen aber auch den politisch Verantwortlichen klarmachen, dass die tatenlose Hinnahme der Entwicklung einer islamischen Parallelgesellschaft zu einem Nährboden des Fundamentalismus geführt hat. Niemand, so muss man deutlich sagen, kann das Recht haben, unter Berufung auf religiöse Regeln oder auf kulturelle Traditionen aus dem jeweiligen Herkunftsland andere Menschen zu etwas zu zwingen, sie zu töten oder zu verletzen.
Religionsfreiheit als universales, jedem Einzelnen zukommendes Menschenrecht fordert von allen Religionsgemeinschaften die Bereitschaft zu Achtung und Respekt gegenüber anderen Religionsgemeinschaften. Wie sich die Religionen zueinander verhalten und ihre Dialoge gestalten, entscheidet mit darüber, ob unsere Welt ihre Probleme und Ungerechtigkeiten in Frieden angehen kann oder ob Gewalt sie ins Chaos stürzt. Deshalb hat man seit Anbeginn der Neuzeit gewusst, dass Religionsfreiheit den Kern der Menschenrechte ausmacht.
Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit gehören eng zusammen. Wenn Menschen ihre Religion nicht frei ausüben können, sind sie in ihrer innersten Freiheit betroffen. Die seit dem Entstehen der Menschheit gestellte Frage nach dem Sinn des Lebens, dem Woher und Wohin erfährt gerade durch Religion eine Antwort. Ob der Einzelne sie als für sein Leben bestimmend anerkennt und sein Leben daran ausrichtet, kann nur er in eigener Selbstbestimmung für sich entscheiden. Glaube - das haben wir in der Geschichte des Christentums gegen manche Widerstände gelernt - setzt diese freie Entscheidung voraus. Die Achtung der Menschenwürde erfordert nun aber auch die Gewährleistung der Religionsfreiheit durch den Staat. Sie gibt dem Einzelnen positiv das Recht, sein gesamtes Verhalten an seiner religiösen Überzeugung auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln. Sie schließt negativ ein, religiöse Überzeugungen abzulehnen und damit auch, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören oder aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten. Aber die Religionsfreiheit wäre verkannt, wenn man diesen negativen Aspekt der Freiheit von Religion den Vorrang vor der positiven Religionsfreiheit - der Freiheit zur Religion - geben würde. Es ist ein Missverständnis, wenn man Religionsfreiheit vorrangig als Freiheit von der Religion begreift. Sie ist vielmehr zuallererst Freiheit zur Religion; zu ihr gehört allerdings auch das Recht, sich von der Religion abzuwenden.
Neben der individuellen hat die Religionsfreiheit auch eine korporative Seite. Religionsausübung ist darauf angelegt, dass sie in Gemeinschaft mit anderen geschieht. Wirkliche Religionsfreiheit herrscht in einem Gemeinwesen nur dann, wenn nicht nur der Einzelne für sich seine Religion frei wählen und ausüben kann, sondern wenn auch den Religionsgemeinschaften eine von staatlichen Behinderungen freie Ausübung gewährleistet ist. Diese korporative Religionsfreiheit darf sich nicht auf die herrschende Mehrheitsreligion beschränken, sondern muss auch für religiöse Minderheiten gelten. Sie waren es, für die in der frühen Neuzeit die Religionsfreiheit zuallererst erfochten wurde. Die Religionsfreiheit gilt in diesem Sinn vorbehaltlos, aber sie gilt nicht grenzen- oder schrankenlos. Grenzen muss die Freiheit der Religionsausübung durch die Religionsgemeinschaften wie die individuelle Religionsfreiheit dort finden, wo sie den inneren Frieden der Gesellschaft gefährdet, d.h. mit den Menschenrechten anderer oder mit verfassungsrechtlichen Grundlagen eines freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaates kollidiert.
Nur der religiös neutrale Staat kann die volle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich sichern. Ein religiös einseitig gebundener Staat, der sich einer Religion gegenüber in besonderer Weise verpflichtet weiß, läuft Gefahr, diese gegenüber anderen Religionen in seinem Staatsgebiet zu privilegieren. Aber es ist ein Missverständnis dieser staatlichen Religionsneutralität, wenn der Staat meint, er sei dadurch zur Ignoranz gegenüber der Religion, zur Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Wirken, infolgedessen vielleicht auch zur Untätigkeit gegenüber ihrem möglichen Missbrauch verpflichtet. Vielmehr gibt es eine Pflicht des Staates, die Religion als Lebensmacht wahrzunehmen und sie ohne falsche Parteinahme zu fördern. „Fördernde Neutralität“ hat das deutsche Bundesverfassungsgericht diese Haltung mit einem, wie ich finde, glücklichen Ausdruck genannt.
Um den Anspruch seiner Bürger und Bürgerinnen auf positive Religionsfreiheit gerecht werden zu können, ist der Staat in seinen Einrichtungen auf ein Zusammenwirken mit den Religionsgemeinschaften angewiesen: sei es in Fragen des Religionsunterrichts in der Schule, sei es in der Seelsorge in Krankenanstalten, an Soldaten der Bundeswehr, in Polizei und Grenzschutz, in Haftanstalten und Landeskrankenhäusern, sei es mit Blick auf theologische Fakultäten oder auch im Friedhofswesen.
Diese positive Förderung der Religionsausübung durch den Staat verstößt nicht gegen das Prinzip der religiösen Neutralität des Staates, solange der Grundsatz der Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften gewahrt bleibt. Und auch die Förderung diakonischen Handelns in freier Trägerschaft durch Diakonie oder Caritas verstößt nicht dagegen.
Die deutschen Kirchen treten dafür ein, dass diese Neutralität gewahrt bleibt. Sie tun dies unabhängig davon, ob Christen in anderen Staaten keine oder nur eine sehr eingeschränkte Religionsfreiheit eingeräumt wird oder Staaten tatenlos zusehen, wie Christen von Angehörigen anderer Religionen bedrängt und unterdrückt werden. Doch das Bekenntnis zur umfassenden Religionsfreiheit im eigenen Land nötigt zum Eintreten für die Religionsfreiheit weltweit – und ganz besonders in Ländern, die eine Zugehörigkeit nicht nur zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, sondern damit auch zur europäischen Wertegemeinschaft erreichen wollen. Zudem würden, worauf Altbundespräsident Rau in einer Rede am 22. Januar 2004 zum Geburtstag Lessings, die im Kern eine Rede zur Religionsfreiheit war, zu Recht mit Nachdruck hingewiesen hat, sich „viele Menschen bei uns leichter an den Anblick von Moscheen gewöhnen können, wenn Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht hätten, ihren Glauben zu leben und auch Kirchen zu bauen.“
Obwohl die Religionsfreiheit zum Kernbestand der Menschenrechte zählt, gehört die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat in einer Studie zur Lage der Religionsfreiheit diese Unterdrückung im Einzelnen dargelegt. An den zum Teil bedrückenden Beispielen zeigt sich: Die Religionsfreiheit wird zur Nagelprobe für die Einstellung des Staates zur menschlichen Freiheit überhaupt.
Um der Religionsfreiheit willen erkennen christliche Kirchen zugleich das Existenzrecht anderer Religionen an, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.
Das ist nicht schon immer so gewesen. Und es ist keineswegs überall gewährleistet, wo christliche Kirchen die Mehrheitsreligion stellen. Es ist auch im Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander nicht überall gewährleistet – zum Beispiel dort nicht, wo die Vorstellung vom „kanonischen Territorium“ die Religionsfreiheit christlicher Minderheitskirchen erheblichen Einschränkungen unterwirft. Die Kirchen sind keineswegs die Avantgarde politischer Freiheit und erst recht nicht der individuellen Religionsfreiheit gewesen. Die uns heute so selbstverständlich erscheinende Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist in den christlichen Kirchen das Ergebnis eines langen historischen und theologischen, bisweilen recht schmerzhaften, und wie gesagt: keineswegs überall gesicherten Entwicklungs- und Lernprozesses.
III.
Deshalb gibt es keinen Grund dazu, aus einer Haltung christlicher Überlegenheit oder gar christlicher Überheblichkeit die Lage der Religionsfreiheit weltweit zu betrachten. Aber unzweideutige Klarheit ist erforderlich - im Blick auf Situationen, in denen im christlichen Namen die Religionsfreiheit eingeschränkt wird, ebenso wie im Blick auf Situationen, in denen es im Namen anderer religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen geschieht. Dabei verdient in der aktuellen Lage die Situation im Islam besondere Aufmerksamkeit.
Der Islam im Ganzen hat die Religionsfreiheit als individuelles Menschenrecht bisher nicht anerkannt. Zwar gibt es durchaus differenzierte Zugänge zu den Menschenrechten im Islam, die Religionsfreiheit eingeschlossen. Doch Grundlage ihrer Gewährleistung ist, wie wir sahen, die Trennung von Religion und staatlicher Rechtsordnung, zu deren Bestandteilen die Menschenrechte gehören. Diese Trennung von Religion und staatlicher Rechtsordnung vollzieht der Islam aufs Ganze gesehen nicht. Vielmehr gilt: Der Staat ist organisierte Religion. Sein Recht ist religiöses Recht. Seine Quellen findet das Recht in der Religion. Das in der göttlichen Offenbarung gegebene Gesetz ist für Muslime abschließend und verbindlich. Es gilt als ein Ideal, das alle Aspekte der Lebenspraxis umgreift: das Bekenntnis des Glaubens, die gottesdienstliche Ordnung und rituelle Gebote ebenso wie Grundsätze für das Familien- und Strafrecht, schließlich für das Leben in der Gemeinschaft schlechthin. Zwar haben auch islamische Länder traditionelle Elemente des europäischen Rechtsdenkens in ihre Verfassungsordnungen aufgenommen; die Türkei hat die Scharia sogar ausdrücklich als Rechtgrundlage der staatlichen Ordnung außer Geltung gesetzt. Dennoch lebt in der Vorstellung vieler Muslime das Bewusstsein, dass ihr gesamtes Leben und das der staatlichen Gemeinschaft nach Gottes „Rechtleitung“ und damit nach den Vorschriften der Scharia geordnet sein müsse, wie es in der islamischen Urgemeinschaft der Fall gewesen sein mag. Die Einheit der Gesellschaft in der islamischen Umma umfasst die politische und religiöse Gemeinschaft.
Zwar hat sich der Islam seit 1970 zunehmend auf die Diskussion um die Menschenrechte eingelassen. 1990 verabschiedete die Organisation der Islamischen Konferenz, ein Zusammenschluss islamischer Staaten, in Kairo die „Erklärung der Menschenrechte im Islam“. Allerdings wird die Religionsfreiheit in diesem Dokument nur in einem negativen Sinne berührt, insofern ein Verbot ausgesprochen wird, sich zu einer anderen Religion als dem Islam zu bekehren oder sich dem Atheismus zuzuwenden. Im Übrigen ordnet diese Erklärung die Menschenrechte der Scharia unter.
Der hier deutlich werdende Unterschied im Verständnis der Religionsfreiheit muss im Blick behalten werden. Im Blick auf die weitere europäische Entwicklung sind hier Klärungsprozesse dringend vonnöten. Der Islam in Europa muss in der öffentlichen Debatte um Menschenrechte und Gewalt Position beziehen und die Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaftsordnung seinem eigenen Handeln verbindlich zugrunde legen.
Auch die Türkei erkennt nach wie vor die Religionsfreiheit nur sehr eingeschränkt an. Die türkische Republik hat zwar die Vorstellungen eines säkularen laizistischen Staates von Frankreich übernommen. Um das Ziel einer türkischen Nation zu erreichen, setzt die Türkei aber auf das verbindende Band des Islam. Er soll der Türkisierung in der Türkei und auch der im europäischen Ausland lebenden Türken dienen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten errichtet. Damit steht die herrschende, sunnitische Form des Islam unter staatlicher Kontrolle. Über das laizistische Staatsverständnis soll die Religionsbehörde verhindern, dass Religion genutzt wird, um politisch gegen den Staat zu mobilisieren. Vom Beginn der Republik an hatte das Religionsrecht einen türkischen Islam im Auge. Andere Religionen werden unter Berufung auf die Laizität ausgegrenzt oder in Grauzonen gedrängt. Schon den Aleviten wird volle Gleichberechtigung verweigert. Die christlichen Kirchen werden nach wie vor massiv behindert, das Ö kumenische Patriarchat von Konstantinopel eingeschlossen. Ihnen wird die Anerkennung als juristische Person versagt, was u.a. den Erwerb von Eigentum unmöglich macht, Arbeitserlaubnisse werden verweigert, Ausbildung von Geistlichen wird untersagt.
Wenn die Türkei zur Europäischen Union gehören will, unabhängig davon, ob als Vollmitglied oder durch eine privilegierte Partnerschaft, muss sie sich auf den gesellschaftlichen Grundkonsens der Mitgliedsstaaten einlassen, und dazu nachprüfbare Fakten schaffen. Hierzu muss die politische Elite bereit sein. Sie befürchtet, dass konservative islamische Kreise das Rad der Geschichte wieder zurück drehen und eine theokratische Ordnung errichten könnten. Diese Einschätzung teilt möglicherweise auch die Mehrheit der Bevölkerung. Die Ausrichtung der jetzigen türkischen Regierung auf Europa zwingt sie zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion und zu einem liberalen Umgang mit der religiösen Vielfalt in der Türkei. Diesen Reformansatz gilt es aufzunehmen und zu stützen.
IV.
Heute besteht mehr denn je auch eine Furcht vor Religion. Sekten jedweder Couleur, Spiritismus, Jugendreligionen und gewaltsamer religiöser Fundamentalismus haben die Menschen verunsichert. Dies ist eine Herausforderung sowohl an den Staat als auch an die Religionsgemeinschaften. Diese müssen nach ihrem Selbstverständnis als Kommunikations- und Zeugnisgemeinschaften in ihrem öffentlichen Auftreten dafür sorgen, dass Grundfragen des menschlichen Lebens und Handelns auf der Tagesordnung bleiben und dass ihre Stimme im Konzert der Meinungen und Anschauungen Gehör findet. Alle Religionsgemeinschaften – also nicht nur die Kirchen - sind aufgefordert, an der politischen Willensbildung teilzunehmen und ihre öffentliche Verantwortung für das Gemeinwesen insgesamt und nicht nur für ihre eigenen Mitglieder wahrzunehmen. Sie tragen eine politische Mitverantwortung.
Gesellschaft und Politik sind in vielfältiger Weise mit Fragen konfrontiert, die ohne eine moralisch-sittliche Verankerung nicht beantwortet werden können. Das Zusammenleben in der pluralen Gesellschaft, die Integration von Fremden, Gentechnik, Sterbehilfe, der Generationenvertrag in den sozialen Sicherungssystemen, Abwehr von Terror und Gewalt mögen als Bespiele genügen. Bei aller Anerkennung der pluralen gesellschaftlichen Kräfte, die nicht selten ihre Gruppeninteressen über das Gesamtinteresse stellen, ist es schwieriger geworden, zu vermitteln, dass jedermann für die Wahrung des Gemeinwohls verantwortlich ist. Den Religionsgemeinschaften kommt die Aufgabe eines öffentlichen Gewissens zu, indem sie in Lehre, Predigt und öffentlichen Erklärungen die persönliche Verantwortung zu wecken und zu fördern versuchen, also „der Stadt Bestes suchen“, wie es der Prophet Jeremia formuliert.
Um den inneren Zusammenhalt und Frieden zu erhalten, kommt der Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger eine große Bedeutung zu. Die in Deutschland auf Dauer lebenden Muslime müssen einen Weg der Integration und der positiven Mitgestaltung der deutschen Gesellschaft finden. Wer seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland oder in den anderen Ländern der Europäischen Union bejaht, die Rechts- und Gesellschaftsordnung anerkennt und sich hier mit seiner muslimischen Identität einbringt, leistet Wichtiges, um Abgrenzungstendenzen und Ghettobildung entgegen zu wirken. Jedoch wird sich muslimische Identität, gerade wenn sie sich einem offenen Dialog stellt und gesellschaftliche Integration anstrebt, auch selbst im historischen Prozess weiterentwickeln.
Die Herausbildung einer solchen europäisch orientierten muslimischen Identität kann nur mit einem ausreichenden Maß an Offenheit gelingen. In diesem Zusammenhang spielt neben der unverzichtbaren Spracherziehung der Religionsunterricht eine Schlüsselrolle.
Bei dieser in Deutschland und derzeit vor allem in Berlin hitzig geführten Diskussion mag ein Blick auf die internationale Diskussionslage hilfreich sein. In zunehmendem Maße erkennen inzwischen auch die Vereinten Nationen die Bedeutung von Bildung und Erziehung für ein religiös tolerantes, verständnisvolles und friedliches Zusammenleben an. Eine UN-Konferenz hat 2001 daher die Empfehlung ausgesprochen, im Schulunterricht das Verständnis für Religionsfreiheit zu stärken. Die Überzeugung gewinnt auch andernorts an Boden, dass religiöse Erziehung in der Schule für eine ganzheitliche Bildung unverzichtbar ist. Die Schule braucht Antworten auf die Frage, wie die Pluralität der Herkünfte, Positionen und Anschauungen in das gemeinsame Lernen integriert werden kann. Es geht um die Ausbildung einer gesprächsfähigen Identität, die Verständigung sucht.
Zu Recht hält die deutsche Verfassungsordnung fest: Die Schule ist dabei auf die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften angewiesen, da der Religionsunterricht inhaltlich nach den Grundsätzen der Glaubensgemeinschaften zu erteilen ist. Die verbindliche Festlegung ist für die islamische Religionsgemeinschaft auf Grund ihrer Organisationsstruktur schwierig, aber, wie ein Blick über die Grenzen zeigt, auch nicht unmöglich. Der Gedanke eines Werteunterrichts für alle, der unweigerlich zur Aushöhlung des Religionsunterrichts führen würde, sollte deswegen nicht mit dem Hinweis auf die Organisationsstruktur des Islam begründet werden. Unter Einschluss des Islam sollte vielmehr ein Weg beschritten werden, der dem Religionsunterricht nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften einen im wahrsten Sinn des Wortes ordentlichen Platz an der öffentlichen Schule einräumt.
V.
Wie aktuell ist der Augsburger Religionsfriede? Natürlich hat dieses Vertragswerk nicht die Religionsfreiheit in ihrer hier beschriebenen Ausprägung hervorgebracht, gerade auch nicht die individualrechtliche Komponente der Menschenrechte, die unserem Verständnis zugrunde liegt. Das Gleiche gilt für das Konzept wechselseitiger Achtung zwischen den Religionsgemeinschaften oder die Vorstellung von staatlicher Religionsneutralität.
Und doch steht der Augsburger Religionsfriede als grundlegendes Regelungswerk am Beginn der Entwicklung, die zu unserem Verständnis von Religionsfreiheit, Toleranz und Neutralität geführt hat. Daran hat auch der furchtbare Rückschlag des 30jährigen Krieges nichts geändert. Der Westfälische Frieden von 1648 knüpft nicht umsonst in der Sache an die Konstruktion des Augsburger Religionsfriedens an. Das seitdem bestehende gleichberechtigte Nebeneinander der christlichen Konfessionskirchen in Deutschland war prägend für die Entwicklung unseres heutigen freiheitlichen Religionsverfassungsrechts.
Die Herausforderungen erneuern sich heute in globalem Horizont. Grundlegend bleibt die Einsicht in die Bedeutung der Religionsfreiheit als eines fundamentalen Menschenrechts. Grundlegend bleibt die Pflicht der christlichen Kirchen zu gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Achtung, eine Pflicht, die heute auch das Verhältnis der Religionen zueinander prägen muss. Grundlegend bleibt deshalb auch die Pflicht zur Kritik überall dort, wo im Namen der Religion selbst die Religionsfreiheit verletzt und die wechselseitige Achtung ignoriert wird. Grundlegend bleibt ebenso die Einsicht, dass Religion sich frei in der Öffentlichkeit entfalten muss, ohne sich auf den Raum des Privaten zu beschränken oder in eine Grauzone der Undurchschaubarkeit zurückzuziehen. Solche Grundsätze sind verankert in der Entwicklung, die in Augsburg vor 450 Jahren eine erste rechtliche Ausprägung erfahren hat. In diesem Sinn ist der Augsburger Religionsfriede von bleibender Aktualität.