„In deinem Lichte schauen wir das Licht“ - Quellen und Perspektiven christlicher Spiritualität, Festvortrag zum 25jährigen Jubiläum des Stifts Urach
Wolfgang Huber
I. Die Wiederkehr der Spiritualität
Spiritualität ist ein Wort mit wachsender Resonanz, ein aufsteigender Stern. Es hat eine Aura, an die sich Hoffnung knüpft. Die Aufmerksamkeit für Spiritualität bildet ein wichtiges Gegengewicht gegen den verbreiteten Materialismus unserer Zeit. Sie ist Ausdruck des Protests gegen die Kommerzialisierung von allem und jedem, die uns zugemessene Lebenszeit eingeschlossen. In ihr meldet sich der Widerspruch gegen einen umfassenden Herrschaftsanspruch der Ökonomie, der auch vor der Ökonomisierung der Seele nicht Halt macht – es sei denn, wir gebieten ihm Einhalt.
Deshalb besteht Grund zur Dankbarkeit dafür, dass es Orte der Spiritualität gibt, Orte, an denen wir uns der Wurzeln unserer Spiritualität vergewissern und ihre Formen üben können. Denn zur Spiritualität gehört beides, dass wir über ihre Wurzeln Klarheit gewinnen und in ihren Formen geübt sind. Deshalb bin ich gern zu diesem Jubiläumsfest gekommen und beglückwünsche das „Stift Urach“ dazu, dass es seit 25 Jahren als Einkehrhaus der Württembergischen Landeskirche seine Aufgabe wahrnimmt, viele Menschen erreicht und manche Anfechtungen überstanden hat. Seine Wurzeln reichen ja viel tiefer, bis in das 15. Jahrhundert hinein, als der vor 560 Jahren hier in Urach geborene Graf Eberhard im Bart die Amanduskirche und den Mönchshof bauen ließ und die Brüder vom gemeinsamen Leben in die Stadt rief. Ich wünsche dem Haus sehr, dass es auf seinem derzeitigen Weg immer wieder neu Klarheit über seine Aufgaben gewinnt, Menschen erreicht und dabei – dem Thema dieses Nachmittags gemäß – ein Ort evangelischer Spiritualität ist.
Denn evangelische Spiritualität wird gebraucht. Sie gehört zu den wichtigen Quellen, aus denen heraus wir Antworten finden können auf die Wiederkehr der Religionen, die unsere Zeit bestimmt. Denn zu den Kräften, die wir in dieser Zeit brauchen, gehört ein starker, persönlicher, inniger Glaube.
Manche von uns haben diese Dimension lange vernachlässigt, weil wir den Glauben so stark mit dem Handeln verknüpft haben. Die öffentliche Meinung hat uns darin bestärkt: Diakonische Werke finden mehr Anklang als Gottesdienste, soziales Engagement ist beliebter als Beten. Aber diese Verengung haben wir verinnerlicht und angenommen, dass sich am Handeln die „Glaubwürdigkeit“ unserer Gottesbeziehung ablesen lasse. Darüber haben wir bisweilen verlernt, in Gott zu ruhen, in seiner Liebe einzukehren und seine Gegenwart zu erahnen. Nun aber fangen viele wieder an, dem Einkehren in Gottes Licht, dem Heimkehren in seinen Geist, dem Staunen vor seinem Geheimnis Raum zu geben. Bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte schauen wir das Licht (Psalm 36,10). Die neue Zuwendung zu einer biblisch orientierten Spiritualität gehört zu den Kostbarkeiten in der derzeitigen Entwicklung unserer evangelischen Kirche. Freilich kommt es darauf an, dass die neue Spiritualität eine klare biblische Orientierung behält und dass christliche Existenz in ihrer Gänze gesehen wird: in der Einheit von Beten und Tun des Gerechten, wie Dietrich Bonhoeffer auf unüberholte Weise gesagt hat.
Er hat damit an eine alte Tradition angeknüpft: an die Einheit von Aktion und Kontemplation, von Beten und Arbeiten. Diese Tradition hat – bis hin zu kommunitären Lebensformen – auch in der evangelischen Kirche Heimatrecht. Die reformatorische Frage nach dem guten Baum, der allein gute Früchte bringt, gewinnt neue Aktualität. Die Väter und Mütter im Glauben haben immer wieder daran erinnert, dass bei einem guten Baum nicht zuerst die Früchte des Handelns und Tuns gefragt sind, sondern die Wurzeln des Hörens, des Einfindens, des Schweigens, Betens, Staunens und Singens. Nach meiner Überzeugung sollte es nicht länger als typisch protestantisch gelten, dass wir das Innenleben des Glaubens, die spirituelle Landschaft im Herzen, die geistige Tiefe in der Seele vernachlässigen. Vielmehr werden wir gerade aus solcher geistigen Tiefe und theologischen Klarheit, aus dem Miteinander von theologischem Profil und spiritueller Dichte heraus auch in unseren Taten, in unserem Sagen und in unserem Trösten zu Tiefe und Klarheit kommen.
Solche Tiefe und Klarheit gewinnen wir nämlich gerade dann, wenn wir erkennen, dass unser eigenes, vermeintlich großes oder kleines Ich nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Wir können dann all den bedrängten, weinenden, verzweifelten Menschen, die unsere Welt trotz aller sozialen und diakonischen Anstrengung weiter kennen wird, zusagen und verheißen, dass der Glanz Gottes dem Kummer, dem Dunkeln, dem Abgründigen und Bösen nicht das letzte Wort lässt. Sollen denn die Bedrängten, Vernachlässigten, Einsamen und Gequälten nicht nur in dieser Welt verlieren, wie es ja leider oft genug geschieht, sondern auch noch in jener Welt, aus der wir kommen, zu der wir gehen, und deren Frieden die Herzen trösten kann?
Ich bin davon überzeugt, dass neben kritischer Aufklärung und dialogischer Toleranz, neben sozialem Engagement und diakonischem Tun auch eine gereifte Innerlichkeit, auch eine an Bibel und Bekenntnis orientierte Sehnsucht nach einem Ankommen bei Gott eines der kräftigsten Widerstandsnester ist gegen allen religiösen Terrorismus und Fundamentalismus. Deshalb freue ich mich über die Wiederkehr der Spiritualität und will gern an ihr Anteil haben.
II. Vagabundierende Spiritualität
Doch es besteht kein Zweifel. Bei der Suche nach Spiritualität beobachten wir mancherlei Vagabundieren. Kritische Beobachter machen darauf aufmerksam. So schreibt Joachim Galuska: In unserer Gesellschaft besteht ein spirituelles Defizit und viele Menschen sind auf der Suche. Die klassischen Wege der Kirche sind aber für viele nicht gangbar, da sucht man sich dann seine eigenen – mit den entsprechenden Um- und Irrwegen. Joachim Galuska ist ärztlicher Direktor der Fachklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Heiligenfeld. Er hat es unter anderem mit Menschen zu tun, die bei dieser Suche psychisch auf der Strecke bleiben.
Die neue Spiritualität, von der Widerstandskraft gegen die Verzweckung unseres Lebens und die Instrumentalisierung unserer Seele erhofft wird, gerät selbst in den Sog des Konsumismus. Kritisch notiert beispielsweise Markus Brauck: Welcher Gott der richtige ist, wann das Ende der Welt kommt – das interessiert immer weniger. Gefragt ist, was nutzt. ... Der spirituelle Mensch als Konsument. Das Angebot entspricht der Nachfrage. Nichts führt religiösen, pseudoreligiösen und spirituellen Gruppen so sehr Menschen zu wie das Gefühl, dass die Welt mehr zu bieten haben müsste, als sie es tut. ... Die Schulmedizin genügt nicht. Die Wissenschaft genügt nicht. Psychologie genügt nicht. Kirchen genügen nicht.
Es werden Tropfen heiligen Wassers aus der Quelle zu Lourdes verschickt, eingetrocknet auf Postkarten, damit man sich Flaschen davon bestellen möge, es werden spirituelle Haarschnitte angeboten, vermeintliche Experten bestimmen in Kirchen die Punkte, an denen sich Energieströme verstärken, Spiritualität vermischt sich mit Wellness und Kommerz. Eine vagabundierende Spiritualität verbreitet sich über das Land, verspricht berufliche Erfolge, Gesundheit, Kräfte zur Lebensbewältigung und Gotteserfahrungen unterschiedlichster Art.
Aber auch noch diese vagabundierende Spiritualität enthält Hinweise auf eine Sehnsucht, die Menschen ohne kirchliche Bindung mit solchen verbindet, die kirchlich engagiert sind. Sie suchen nach Erfahrungen, die stärker sind als die verwirrenden und kräftezehrenden Eindrücke des Alltags, sie suchen nach einer Mitte ihrer Lebenspraxis, die Orientierung gibt und wenigstens den Hinweis darauf, dass das Leben mehr als alles ist. Jede Spiritualität bezieht sich auf einen Höchstwert (so die Handreichung der EKD Evangelische Spiritualität von 1979), auf etwas Absolutes, auf die Gottheit oder ihre Offenbarung, auf das Nichts oder die Leere, auf das, was die Welt im Innersten zusammenhält.
III. Christliche Spiritualität
Spiritualität ist kein spezifisch christliches Phänomen. Es gibt selbstverständlich eine muslimische Spiritualität, es gibt die Spiritualität buddhistischer Mönche oder indianischer Riten und vieles andere mehr.
Man geht auf die Suche in fernöstlichen Traditionen, in esoterischen Praktiken, aber durchaus auch in christlichen Kirchen. Manchmal hat die Spiritualität unserer Tage weniger ein spirituelles Gegenüber im Auge als vielmehr die Methoden, die Zugang zu einem Absoluten versprechen. Atemübungen oder Phantasiereisen, Kerzen oder Klangschalen, Steinmeditationen oder Stilleübungen mögen Hilfen auf einem Wege sein, aber nicht das Ziel. Andererseits transportieren die Methoden auch unerkannte Inhalte, die dem Suchenden verborgen bleiben und ihn, weil nicht reflektiert, ungeprüft besetzen können.
Trotz dieser vielfältigen Gestalten ist festzuhalten: Der Begriff Spiritualität ist christlichen Ursprungs. Er leitet sich vom Spiritus Sanctus, dem Heiligen Geist, her. Wo der Heilige Geist Fühlen, Denken und Handeln eines Menschen bestimmt, ist sein Leben spirituell. Frömmigkeitspraxis, Lebensgestaltung und Glaube sind in diesem Wort zusammengefasst. Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten, schreibt Luther in seiner Erklärung zum Dritten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses.
Nehmen wir die Herkunft des Wortes ernst, dann bezeichnet Spiritualität ein Beziehungsgeschehen. Gottes Geist wirkt auf den Menschen ein, und der Mensch nimmt diese Wirkung wahr, er nimmt sie auf und setzt sie in sein Leben um. Das Gegenüber, auf das Christinnen und Christen sich beziehen, ist nicht die Leere oder ein anonymes Absolutes, sondern der Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt und auf den hin er gelebt hat. Insofern ist christliche Spiritualität exklusiv. Aber weil dieser Gott lebendig und unverfügbar ist, ist sie nicht eng. Wie jede Beziehung gestaltet sie sich gemäß der persönlichen Lebenssituation der Beteiligten, sie bleibt ein Prozess.
Christliche Spiritualität meint also nicht nur einen Sektor des Lebens, sondern das Leben im Ganzen. Sie ist eine Frömmigkeitskultur, die authentisch gelebt wird; sie kennzeichnet den Lebensstil des Christenmenschen. Sie ist, wie Fulbert Steffensky sagt, geformte Aufmerksamkeit. Sie ist Wahrnehmung Gottes im Glück der Menschen, in der Schönheit der Natur und im Gelingen des Lebens. Sie ist aber ebenso die Wahrnehmung der Augen Christi in den Augen eines hungernden Kindes (Elisabeth von Thüringen), die Erfahrung seiner Nacktheit in einem nackten Bettler (Martin von Tours). Christliche Spiritualität ist eine Spiritualität der Umkehr. Sie folgt dem großen Finger Johannes des Täufers auf Grünewalds Isenheimer Altar: Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen. In der Spiritualität geht es nicht um meinen Geist, sondern um den Geist Gottes. Christliche Spiritualität ist deshalb nicht Vergeistigung, sondern Verleiblichung des Glaubens im gelebten Leben.
Spiritualität ist, wie Karl-Friedrich Wiggermann zusammenfassend gesagt hat, Entfaltung des gelebten christlichen Glaubens ... Christen brauchen spirituelle Glaubenszugänge, die lebensgeschichtliche Tiefe erreichen. Sie sind wahrnehmbar in Gottesdienst, Frömmigkeit, Übung, Lebensgestaltung und elementarisierter Theologie. ... Spirituelle Glaubenszugänge zielen ... auf die verbindliche Zusage des Heiligen Geistes; sie verharmlosen nicht Anfechtungen und Zweifel, sondern nehmen sie als Phänomene ihrer Zeit ernst. ... Spiritualität schafft religiöse Beheimatung. Diese wiederum setzt einen weltoffenen und weitherzigen Glauben frei, der sich in einem scheinbar alles zersetzenden Agnostizismus und Relativismus nicht auflöst, sondern auch in solchen Bedrohungen spirituelle Glaubenszugänge schafft.
IV. Die persönliche und die öffentliche Dimension der Spiritualität
Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts stand im Mittelpunkt der Wahrnehmung zumindest in der Evangelischen Kirche die politische und soziale Verantwortung. Auch empirische Umfragen bestätigten: Das Soll der Kirche ist: Seelsorge, Diakonie und Verkündigung, in dieser Reihenfolge. Seelsorge firmierte dabei bezeichnender Weise unter der Feststellung: Die Evangelische Kirche kümmert sich um die Sorgen und Probleme der Einzelnen.
Dreißig Jahre später aber heißt es als Ergebnis einer vergleichbaren Untersuchung: Dies sind die drei Aufgaben, die man der Kirche zuweist: Sie soll durch die Verkündigung ihrer Botschaft, durch Gottesdienste und Seelsorge geistliche Kommunikationsmöglichkeiten bereithalten, den Menschen durch Übergangsrituale in biographischen Umbruchssituationen helfend zur Seite stehen und sich für Notleidende einsetzen. Jetzt taucht aber auch die Erwartung auf, die Kirche sollte Raum für Gebet, Stille und innere Zwiesprache geben.
Die Verschiebung ist evident. Die politisch-soziale Aktion ist nicht in den Hintergrund getreten; aber es ist sichtbar geworden, dass sie eine Basis braucht. Und die ist vernachlässigt worden, man lebte von der Substanz.
Die Verschiebung der Wahrnehmung und der Bedürfnisse spiegelt sich nicht nur in der Suche von Menschen, denen die gewohnte kirchliche Frömmigkeit unvertraut ist. Sondern neue Suchbewegungen zeigen sich auch im Kernbereich der christlichen Gemeinden und in der kirchlichen Mitarbeiterschaft. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der wachsende Wunsch der Pfarrerschaft, sich mit Fragen der persönlichen Frömmigkeit zu beschäftigen. Man sucht nach Gestaltungsmöglichkeiten im zerrissenen, oft fremdbestimmten Tageslauf, man meldet sich in den entsprechenden Häusern zu Zeiten der Meditation und Stille an, vor allem aber erhofft man eine heilende Wirkung der persönlichen Spiritualität auf das berufliche und private Leben. Ich bin politisch, weil ich fromm bin, sagt ein Pfarrer und erntet den Widerspruch einer Kollegin: Ich bin fromm, weil ich politisch bin! Man kann darüber reden, mit einer erstaunlichen Offenheit.
Pfarrerinnen und Pfarrern geht es darum, die Grundlagen ihrer Existenz nachhaltig zu vergegenwärtigen, und zwar nicht verwertungsorientiert, also nicht im Zuge der Vorbereitung auf Predigt oder Unterricht. Ein Bibeltext, eine Liedstrophe sollen wirksam werden, ein Gebet soll die ganze Person mitnehmen, eine Eingebung sich entwickeln. Es geht um Futter für die Seele, um die Zufuhr geistlicher Energie, die ebenso nötig ist wie die täglichen Mahlzeiten.
Was Pfarrerinnen und Pfarrer neu entdecken und für sich entwickeln, hat in anderen Milieus die Zeiten des Traditionsabbruchs überdauert. Gott, lass uns dein Heil schauen, auf nichts Vergänglichs trauen, nicht Eitelkeit uns freun; lass uns einfältig werden und vor die hier auf Erden wie Kinder fromm und fröhlich sein. Matthias Claudius hat Quelle und Perspektive der Spiritualität unnachahmlich beschrieben. Maria Jepsen zitiert diese Strophe in ihrer Einleitung zu Sammelband Evangelische Spiritualität heute. Mehr als ein Gefühl und erinnert, gut protestantisch, daran, dass die Sorge für den kranken Nachbarn zur christlichen Spiritualität dazugehöre.
Bei den Neuanfängen christlicher Spiritualität geht es auch darum, von denen zu lernen, die in den Formen christlicher Frömmigkeit zu Hause sind. Das einfache Alphabet der Frömmigkeit lernen wir am leichtesten, indem wir uns den Erfahrungen derer anschließen, die in diesem Alphabet geübt sind. Fulbert Steffensky sagt dazu: Es ist tröstlich zu wissen, dass das eigene Haus Schätze der Weisheit birgt und dass wir nicht völlig angewiesen sind auf die Spiritualitätskonzeptionen aus anderen religiösen Gegenden. Es ist schön, wenn man über den eigenen Tellerrand schauen kann und die Schätze der anderen nicht verachten und sich selber als einzigartig erklären muss. Komisch aber wirkt man, wenn man nur in den Vorgärten der Fremden grast und der eigenen Tradition nichts zutraut. Wenn man weiß, was die eigenen Schätze sind, dann kann man sich in Freiheit und Gelassenheit den fremden zuwenden.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese Sätze von einem evangelischen Theologen stammen, der über eine lange Erfahrung und eine tiefe Übung in katholischer Spiritualität verfügt – nämlich dort, wo die vita spiritualis in der katholischen Kirche vor allem beheimatet ist: im klösterlichen Leben. Damit hängt es zusammen, dass gegenwärtig viele Menschen ein wachsendes Interesse an den Ritualen der katholischen Kirche entwickeln. Die öffentliche Wahrnehmung beim Wechsel im Papstamt hat das gezeigt. Die evangelische Kirche wird die reichen Formen der Schwesterkirche nicht imitieren. Wohl aber erwacht eine Sensibilität für eine Übereinstimmung von Formen und Inhalten. Es hatte sich mancherorts in den Gottesdiensten unter dem Anspruch, Zugewandtheit und Nähe zu demonstrieren, eine saloppe Vertraulichkeit breit gemacht. Der Umgang mit den überlieferten Formen wurde zuweilen mit ironischem Unterton praktiziert. Diese Tendenz klingt ab. Man lernt: Nähe und Feierlichkeit passen zueinander, und eine Wiederkehr geprägter Formen ist kein Schade.
V. Erwachsen werden und Kind bleiben
Spiritualität ist nicht handlungsorientiert. Doch, mit Ernst gelebt, bestimmt sie menschliches Handeln zutiefst.
Besorgte Kultursoziologen stellen fest: Es gibt in unserer Gesellschaft eine Weigerung, erwachsen zu werden. Das zeigt sich im Wunsch, so lange wie möglich in der elterlichen Wohnung zu bleiben, an sehr langen Ausbildungszeiten, an der Ausweitung der Jugendkultur bis in das dritte Lebensjahrzehnt und an der späten, oft zu späten Bereitschaft, sich auf eigene Kinder einzulassen. Oder auch lebenslang in der Erwartung, andere hätten für das Gelingen des Lebens zu sorgen, vor allem der Staat; der Staat als Vater oder Mutter, die man gelegentlich hintergeht, gegen die man pubertär rebelliert und von denen man doch alles erwartet. Erfüllt der Staat diese Erwartungen nicht, wendet man sich enttäuscht ab und resigniert.
Ein Beobachter in Ostdeutschland kennzeichnet die Situation so: Angesichts von Arbeitslosigkeit und Verödung gibt es drei mögliche Reaktionen: man beginnt zu saufen, man bringt sich um oder man unternimmt was. Das Letzte tun vor allem die Christen. Ihre Entschlossenheit, etwas zu tun, bedeutet zumeist den Umzug in den Westen und damit schmerzliche Verluste für die östliche Region und für die dortigen Kirchengemeinden. Aber es macht deutlich: Christenmenschen nehmen ihre Sache in die Hand. Sie handeln als Erwachsene.
Aber Kind zu sein, sich anzuvertrauen, sich fallen zu lassen, andere in der Verantwortung zu wissen, bleibt eine tiefe Sehnsucht auch im Leben von Erwachsenen. Sie hat ihr Recht. Sie ist ein Kontrapunkt zu den Herausforderungen des Lebens, auf die man mit selbständigen Entscheidungen und der Übernahme von Verantwortung für sich und für andere reagieren muss.
Die Frage ist: Wo bin ich Kind, wo Erwachsener? Christliche Spiritualität ist eine Antwort: Versteh dich als Kind Gottes. Lass ihm die letzte Verantwortung. Versteh dich ihm gegenüber als der Nehmende. Von ihm empfängst du Impulse und Kraft für die andere Seite deines Seins, für das Erwachsensein.
Ein vergleichbares Phänomen wie die Flucht aus dem Erwachsensein ist die verbreitete Neigung, Öffentlichkeit zu suchen, nach Möglichkeit Fernsehöffentlichkeit. Man will gesehen werden. Manche sind süchtig danach.
Dass jemand mich wahrnimmt, sich zu mir verhält, sei es anerkennend, sei es kritisch, ist wichtig für mein Selbstverständnis und für mein Selbstbewusstsein. Wenn niemand mich sieht, wer bin ich dann? Das galt immer schon, das ist ein Aspekt des Menschen als politisches Tier, als soziales Wesen. Doch was schützt mich davor, von dieser Sehnsucht nach Anerkennung und deshalb auch von der Öffentlichkeit abhängig zu werden? Es gibt einen solchen Schutz: das Bewusstsein, dass Gott mich sieht, mich ernst nimmt, sich zu mir verhält. Deshalb ist die Geborgenheit in Gott eine Bedingung gelebter Freiheit. Wer diesen Zusammenhang in sein Innerstes aufgenommen hat, für den wird der Glaube zum Teil der eigenen Vernunft, der eigenen Sinne, der eigenen Leiblichkeit, des eigenen Verhaltens. Er hat eine spirituelle Heimat gefunden.
Demgegenüber ist die Verweigerung des Erwachsenseins Ausdruck einer spirituellen Heimatlosigkeit. In der Sucht nach Öffentlichkeit drückt sich das Fehlen einer Anerkennungserfahrung in der Tiefe aus. Spiritualität dagegen ist zugelassenes Kindsein, das aus der Quelle des Lebens schöpft. Weil sie erwachsen werden lässt, kann sie das gesellschaftliche Leben prägen und öffentliche Bedeutung erhalten. Sie kann dabei helfen, in Gesellschaft und Öffentlichkeit Verantwortung zu übernehmen, ohne sich dabei von der Frage beherrschen zu lassen, ob man dabei selbst gut zur Geltung kommt.
Das ist auch unter einem anderen Aspekt der Fall: in der Entwicklung von Werten.
VI. Der spirituelle Hintergrund der Werte
Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben ... so beginnt die Präambel des – nun im Wartestand befindlichen – Europäischen Verfassungsvertrags.
Da werden die universellen Werte auf ihre Quelle zurückgeführt, diese Quelle wird als kulturelles, religiöses und humanistisches Erbe beschrieben, aus dem Europa schöpft. Ist das eine angemessene Metapher? Was sind Werte als Erbe? Ein Nachlass? Erinnerungsstücke?
Werte sind keine Bauwerke, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart herüberragen und an große Geschichte erinnern können. Das architektonische Erbe, etwa die Porta Nigra in Trier, steht und spricht für sich. Werte sind auch keine musikalischen, literarischen oder bildnerischen Kunstwerke. Ein Brandenburgisches Konzert von Bach, Dantes Göttliche Komödie oder ein Gemälde Rembrandts behalten ihre Lebendigkeit über Jahrhunderte hinweg. Werte vertrocknen, wenn man sie von ihren Quellen trennt. Sie verlieren ihre Überzeugungskraft, sie werden schlicht verlernt. Werte leben aus Erfahrungen, aus Bildern und Erzählungen, aus Mythen.
Gerald Hüther, Neurobiologe in Göttingen, beschreibt an einem Beispiel, wie kulturell erworbene Fähigkeiten und Werte in sich zusammenfallen können. Hüther geht es um einen Basiswert, um die Liebe. Wir laufen Gefahr, so Hüther, dass es unserer Gesellschaft mit der Erfahrung über die Liebe ähnlich geht wie den Südseeinsulanern mit ihrem Wissen über die Seefahrt. Deren Vorfahren hatten einst mit unglaublich geschickt gebauten Booten den gesamten Pazifik durchkreuzt. Dabei waren sie auf die noch heute so paradiesisch anmutenden Südseeinseln gestoßen. Sie ließen sich dort nieder und wurden in dieser neuen Welt heimisch. Innerhalb kurzer Zeit wussten nur noch wenige, und nach einigen Generationen hatten sie alle vergessen, wie man seetüchtige Boote baut und auf hoher See navigiert. Liebe ist nach Hüther evolutionär angelegt als Gegenkraft zur auseinandertreibenden Kraft der Konkurrenz. Sie ist in der Gegenwart gefährdet, weil sie faktisch kaum mehr als Lösungsweg für die Lebensbewältigung betrachtet wird. Vereinzelung und ein umfassendes Konkurrenzdenken führen zu einer gefährlichen Bindungslosigkeit. Liebe in diesem Sinn ist ein Basiswert, der sich in Respekt, Solidarität und sozialer Verantwortung äußert.
Es ist dem Hirnforscher wichtig zu betonen, dass es um Erfahrungen mit der Liebe geht; nur sie, nicht gut gemeinte Appelle, führen zu den erforderlichen Verschaltungen im Gehirn. Solche Erfahrungen machen Menschen im Miteinander. Sie erleben dort aber ebenso schmerzliche Defizite an Liebe. Verlässlich ist die große Erzählung von der Liebe Gottes, die das Neue Testament darstellt. Sich in diese Liebe zu versenken, ist deshalb ein wichtiger Teil spirituellen Lebens.
Auf ähnliche Zusammenhänge stößt man, wenn man fragt, was in unserer Gesellschaft eine Kultur der Barmherzigkeit gefährdet und wie sie bewahrt beziehungsweise erneuert werden kann. Denn auch dies ist eine Frage der Spiritualität. Spiritualität ist nötig, um Menschen davor zu bewahren, dass sie innere oder äußere Verunsicherung dadurch beantworten, dass sie Opfer suchen. René Girard hat diesen Mechanismus der Opfersuche immer wieder beschrieben. Es handelt sich um ein anthropologisches Grundmuster. Davon zeugen die antiken Mythen, die Sündenbockriten aller Zeiten, Hexenjagden und Judenpogrome bis hin zu Hitlers Holocaust; davon zeugen aber auch die Völkermorde, Terrorhandlungen und Menschenjagden unserer Gegenwart. Mit der Ausstoßung und Tötung eines Opfers reinigt und befriedet sich eine Gemeinschaft: sie ist heil, das Opfer nichtswürdig. Die Passion Jesu, so Girard, folgt genau diesem Muster. Mit der Hinrichtung Jesu wird der Friede zwischen Kaiphas und Pilatus hergestellt, das Volk findet seine Ruhe. Aber die Bewertung ist in den Evangelien diametral anders als in der antiken Welt: Die Täter werden verurteilt, das Opfer gerechtfertigt. Vorbereitet durch das Alte Testament mit der Josephsgeschichte oder mit den Berichten über Prophetenverfolgungen, bekräftigt durch die Praxis Jesu von Nazareth, erwächst aus dieser Erzählung die Kultur einer Sorge um das Opfer. Sie hat die Grenzen der christlichen Welt längst überschritten und ist weithin moralisches Allgemeingut geworden. Sie steht aber nach wie vor im Wettbewerb mit der archaischen Form der Selbsterlösung durch das Opfer – auch in unserem Land. Das zeigt sich, wenn unter jungen Leuten Loser! oder Du Opfer! gängige Schimpfworte sind, und wenn gerade Menschen, die bereits Opfer sind wie Asylsuchende, Behinderte oder Obdachlose noch einmal zu Opfern von Angriffen werden.
Ob die Sorge um die Opfer, ob Barmherzigkeit in einer Gesellschaft lebendig ist, das hängt, so können wir folgern, davon ab, wie kraftvoll die Erzählung präsent ist, auf der die Bereitschaft zur Barmherzigkeit beruht. Die Vergegenwärtigung dieser Erzählung und ihrer Bilder – im Gottesdienst, in der Meditation, im betrachtenden Gebet – hat für die Erneuerung einer Kultur der Barmherzigkeit große Bedeutung.
Ein weiteres Beispiel kann zeigen, wie Werte, sind sie in einer Gesellschaft lebendig, zu unerwarteter Wirksamkeit kommen. Auf Betreiben von Bischof Tutu und Nelson Mandela ist nach 1994 in Südafrika die Kommission für Wahrheit und Versöhnung eingerichtet worden. Nicht die Verurteilung derer, die während des Apartheidregimes Menschenrechte verletzt haben, war deren Auftrag, sondern die Versöhnung von Tätern und Opfern. Das kann nur geschehen, wenn die Bereitschaft zur Vergebung da ist. Der christliche Impuls zu vergeben traf im schwarzafrikanischen Kontext auf die Vorstellung, dass ein Täter sein Verbrechen vollbringt, weil er seine Menschenwürde verloren hat. Die Vergebung gibt sie ihm zurück.
Hier geht es also darum, nicht nur das Verzeihen des Verzeihlichen zu erwarten, sondern Bedingungen zu schaffen, unter denen es möglich wird, das Unverzeihliche zu verzeihen. Dass das in Südafrika geschehen ist, kommt einem Wunder gleich. Man hat dafür sogar rechtliche Formen gefunden – wahrscheinlich zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte. Aber diese Atmosphäre von Wahrheit und Versöhnung hat auch eine spirituelle Entsprechung gefunden, wie sich für mich persönlich am intensivsten in dem Libertas-Chor aus Stellenbosch zeigt, einem Chor von Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Herkünften, höchst gegensätzlicher sozialer Stellung, vielfältigen religiösen Hintergründen, aber geeint durch eine Spiritualität der Vergebung und des Friedens, die ihre Konzerte in einer ungeheuren Intensität prägt. Noch mehr ist dies der Fall, wenn man das Glück hat, mit diesem Chor einen Gottesdienst zu gestalten.
Die Werte, die in der Präambel der Europäischen Verfassung aufgezählt werden, beruhen auf einem Basiswert, den Artikel 1 unseres Grundgesetzes nennt: auf der Achtung der Menschenwürde. Weil sie allen Menschen zueigen ist, begründet sie deren Gleichstellung vor dem Gesetz und im gesellschaftlichen Miteinander. Geschichte und Gegenwart zeigen, dass um die Evidenz und Anerkennung der menschlichen Würde ständig gerungen werden muss. Wenn der Terror islamistischer Gruppen die Würde des Gegners nicht akzeptiert, liegt die Versuchung nahe, solchen Leuten (etwa den Gefangenen in Guantanamo) ihre Würde abzusprechen – mit allen Folgen, die daraus entstehen. Dass in diesem Monat zum ersten Mal seit dem Fall der Mauer an einer Außengrenze der Europäischen Union auf unbewaffnete Menschen geschossen und diese so zu Tode gebracht wurden, gehört für mich in diesen Zusammenhang. Spaniens marokkanische Exklaven Ceuta und Melilla sind dadurch zu so etwas wie dem Guantanamo Europas geworden: Orte, an denen Menschen der Anspruch auf Würde und rechtliches Gehör verweigert wurden. Im wahrsten Sinn des Wortes wurden sie als Sündenböcke in die Wüste geschickt.
Die Bibel leitet die besondere Würde des Menschen aus der Schöpfung her: Er ist zum Bilde Gottes geschaffen. Die Formulierung aus 1. Mose 1 ist selber ein Hinweis darauf, dass die Würde, die jedem menschlichen Wesen eignet, nichts Erworbenes, sondern etwas Zugesprochenes ist, zugesprochen von einer Instanz, die dem menschlichen Zugriff entzogen ist. Deshalb ist die Würde des Menschen unantastbar. Evolutionstheoretische oder humanistische Herleitungen tragen auf Dauer nicht.
Ist schließlich das Bezogensein auf ein Transzendentes selber ein Basiswert? Die Reduktion der Wirklichkeit auf das Messbare wird zwar von vielen Menschen in Frage gestellt. Andererseits lässt die Lebensgestaltung zwischen beruflichen Anforderungen und selbst erhobenen Ansprüchen im Freizeitbereich für ein Jenseits kaum Raum. Zudem gibt es manche Formen von Religiosität, die ohne den Bezug auf eine Transzendenz auskommen. Klaus Dörner spricht von der Diesseitsfalle, in der der Mensch vor lauter Entlastung vom Anderen, Fremden, Äußeren im Saft der reinen Immanenz schmort. Prägnant gibt Woody Allan die ambivalente Haltung vieler Zeitgenossen wieder: Natürlich gibt es eine jenseitige Welt. Die Frage ist nur: Wie weit ist sie von der Innenstadt entfernt, und wie lange hat sie geöffnet?
Ob die verfügbare Wirklichkeit als geschlossenes System verstanden wird oder ob sie in eine umfassendere Wirklichkeit eingebettet ist, der sie sich verdankt und vor der wir verantwortlich sind, ob die Welt ihrer eigenen Logik überlassen bleibt oder ob die Horizonte des Universums offen sind, das bestimmt das Lebensgefühl der Menschen grundlegend. Davon hängt ab, wie sie ihr Leben wahrnehmen und gestalten, wie sie ihren Ort im Kosmos finden, wie sie mit der Endlichkeit des eigenen Lebens umgehen.
Die Möglichkeit dazu, einen solchen Ort in der Wirklichkeit zu finden, wird in den Erzählungen des Glaubens erschlossen. Damit sie wirken können, müssen sie immer wieder erinnert, meditiert und neu gedeutet werden. Sie verbinden sich mit den Personen, mit denen zusammen wir uns an sie erinnern. Sie wollen nicht nur gewusst werden, sie wollen Teil der persönlichen Spiritualität werden. Der Zugang dazu, unseren Ort in dieser größeren, von Gott bestimmten Wirklichkeit zu finden, erschließt sich in der Feier des Glaubens. Aus ihr lebt auch die persönliche Spiritualität. Aber diese Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes will verleiblicht werden und in unserem Alltag einen festen Ort erhalten. Deshalb brauchen wir eine Übung der Spiritualität, feste Formen der Frömmigkeit, die uns in guten wie in schweren Tagen tragen und zum Schwarzbrot unseres Glaubens werden können. Dass biblische Texte – die Losungen zum Beispiel – in unserem Leben einen festen Ort haben, ist dafür genauso wichtig wie der Raum für Zeiten der Stille, die Praxis der Meditation und die Übung des Gebets.
Heute ist unser Nachdenken über Spiritualität vom Gedanken der Umkehr geprägt. Der fromme Württemberger Christoph Blumhardt d.Ä. sagte einmal: Der Mensch muss sich zweimal bekehren, einmal vom natürlichen zum geistlichen Menschen und dann vom geistlichen zum natürlichen Menschen. Evangelische Spiritualität hat es mit diesem Zweiertakt zu tun, mit diesem Einatmen und Ausatmen, mit dieser Zuwendung zur Mitte wie der Rückkehr zur Weite des Lebens, damit, dass wir Einkehr halten in der Wirklichkeit Gottes und dadurch ankommen können in der Wirklichkeit unserer Welt.
Diese Spiritualität findet ihre Genüge nicht darin, dass wir uns selbst wohlfühlen, indem wir unserer religiösen Wellness einen Dienst tun. Denn sie weiß, dass der Glaube, der uns mit Gott verbindet, uns auch aneinander weist. Sie sieht auch keinen Selbstzweck darin, sich fremde religiöse Formen auszuborgen. Sondern sie achtet die Schätze, die ihr im christlichen Glauben anvertraut sind, und gewinnt daraus die Weite, auch die Schätze anderer zu würdigen.
Worum es in evangelischer Spiritualität geht, lässt sich immer wieder an einer Aussage des Apostels Paulus buchstabieren, die das Verhältnis zwischen Gottes Geist und unserem Geist zum Thema hat. Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. ... Desgleichen hilft der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen (Römer 8, 14-16.26).
Nicht um unseren Geist geht es also in evangelischer Spiritualität, sondern um den Geist Gottes.