„Evangelisch im 21. Jahrhundert“ - Hauptvortrag beim Zukunftskongress in Wittenberg
Wolfgang Huber
Hinweis: Es gilt das gesprochene Wort!
„Unsre Seele ist entronnen
wie ein Vogel dem Netze des Vogelfängers;
das Netz ist zerrissen, und wir sind frei!“
(Psalm 124, 7)
„Die Zeit des Schweigens ist vergangen, und die Zeit des Redens ist gekommen.“ Hier in Wittenberg wurde dieser Satz geprägt. Martin Luther richtete ihn im Jahr 1520 „an den christlichen Adel deutscher Nation“ und forderte diesen dazu auf, das Seine für „des christlichen Standes Besserung“ zu tun.
Nun ist die Zeit christlicher Adelsherrschaft vorbei. Zum „christlichen Adel“ gehören alle Getauften; sie alle sind aufgefordert, das Ihre zu „des christlichen Standes Besserung“ zu tun. Sie alle sind zur Antwort auf den Ruf des Evangeliums berufen. Wir kommen deshalb in diesen Tagen in Wittenberg zusammen, weil wir das Gespräch über die Zukunft unserer Kirche stellvertretend voranbringen wollen.
Als durch die allen christlichen Kirchen gemeinsame Taufe „Geadelte“ fragen wir in diesen Tagen und über sie hinaus nach dem Weg unserer Kirche. Wir fragen danach, wie unsere Kirche das Evangelium von der Rettung des gottlosen Menschen durch Gottes Gnade so zu Gehör bringen kann, dass es die Menschen erreicht. Wir fragen deshalb nach der evangelischen Gestalt des christlichen Glaubens im 21. Jahrhundert – „Evangelisch im 21. Jahrhundert“. Christliche Freiheit ist dafür das Losungswort. Als Kirche der Freiheit wollen wir wirken und wahrgenommen werden. „Unsre Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Netze des Vogelfängers; das Netz ist zerrissen, und wir sind frei.“ Dieser Vers aus dem 124. Psalm bildet das biblische Motto für die Überlegungen, die ich an den Anfang unseres Zukunftskongresses stellen möchte.
Ich werde zunächst danach fragen, um welche Freiheit es denn geht, wenn wir von der christlichen Freiheit sprechen. Hier in Wittenberg soll unsere Aufmerksamkeit sodann der Neuentdeckung dieser Freiheit in der Reformation gelten. Wie wir diese Neuentdeckung im 21. Jahrhundert wahrnehmen und bewähren können, ist anschließend zu bedenken. Schließlich wenden wir uns der Frage zu, was sich aus dieser Konzentration auf die christliche Freiheit für das Verständnis der Kirche ergibt. Dabei will ich ausdrücklich auf die aktuelle Bedeutung eingehen, die in der Forderung nach einer „Kirche für andere“ enthalten ist. Das alles wollen wir in einer Weise bedenken, die zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln der Menschen, zwischen der Zukunft Gottes und der von uns zu gestaltenden Zukunft unterscheidet.
I.
Freiheit ist die Verheißung des Projekts Moderne; sie ist das Versprechen der Neuzeit. Mehr Hoffnungen und Erwartungen, mehr Zuversicht und Veränderungen hat kein anderer Begriff freigesetzt; zugleich hat kein Begriff so viele Ängste und Anmaßungen, so viele Zerstörungen und Überforderungen ausgelöst wie dieser. Das Ansehen der Freiheit ist schillernd: Sie wird heute zwar oft in kleinen Münzen, in kommerzieller Verpackung und in täuschender Verkleidung ausgezahlt, doch sie hat gleichwohl einen guten Ruf.
Unter den drei Leitbegriffen der neuzeitlichen Revolutionen – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ist vor allem die Freiheit zu einem Schlüsselwort für das Selbstverständnis des modernen Menschen geworden. Seine Berufung zum aufrechten Gang, die ihm anvertraute Fähigkeit, Subjekt des eigenen Handelns, ja der eigenen Lebensgeschichte zu sein, der ihm zugetraute Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, die Erfahrung mit sich selbst in der Erschließung der Welt: all das gibt dem Begriff der Freiheit einen unvergleichlichen Klang. Er ist voller Verheißungen.
Immer wieder jedoch wurde die Freiheitseuphorie mit Enttäuschungen konfrontiert. Aber endgültig beugen ließ sich das Freiheitsbewusstsein dadurch nicht. Empirisch lässt es sich nicht beweisen; vielmehr ist es dem Menschen mit seinem Menschsein zugesprochen ist, zu dem die Möglichkeit gehört, Handlungen von sich aus anzufangen. Doch woher wissen wir, dass unsere Handlungen aus Freiheit geschehen, dass wir selbst ihre Urheber sind? Wir wissen es jedenfalls nicht einfach durch die Beobachtung des Menschen selbst. Aber wir wissen, dass wir den Begriff des Menschen selbst preisgeben würden, rechneten wir ihm seine Handlungen nicht mehr zu.
Freiheit ist ein Schlüsselbegriff schon des biblischen Zeugnisses. Diesem Zeugnis gemäß ist Freiheit die große Gabe Gottes an die Menschen. Ihr wohnt die Verheißung des Gelingens ebenso inne wie die Verführung zum Misslingen. Die ihm als Geschenk anvertraute Freiheit zu bewahren, die in der Befreiung aus der Sünde erneuerte Freiheit verantwortlich zu gebrauchen, ist Gottes Auftrag an den Menschen. In allen großen Traditionsströmen des christlichen Glaubens hat diese Freiheitszusage ihren Ort, weitergegeben von Generation zu Generation.
Dabei waren die christlichen Kirchen keineswegs immer Vertreter und Förderer der Freiheit. Sie haben immer wieder vor den Folgen der Freiheit gewarnt und den Missbrauch der Freiheit beklagt; sie haben die vom christlichen Glauben selbst ausgelösten Freiheitsprozesse auch negiert und problematisiert. Es geht also nicht einfach darum, eine Erfolgsgeschichte zu erzählen. Wohl aber gilt es zu würdigen, dass in allen diesen verschiedenen Haltungen der Mütter und Väter im Glauben immer wieder der Versuch zu erkennen war, das besondere Freiheitsverständnis des christlichen Glaubens zu dem jeweils dominanten weltlichen Freiheitsverständnis als Quelle und kritisches Gegenüber ins Verhältnis zu setzen; es hat dadurch immer wieder zur Präzisierung und zum tieferen Verständnis der Freiheit beigetragen.
Die christliche Theologie hat um das rechte Verständnis der Freiheit gerungen. Sie hat in allen ihren Phasen, Ausgestaltungen, Richtungen und Verästelungen festgehalten, dass das christliche Freiheitsverständnis einen unaufgebbaren Beitrag zum Verständnis und zur Gestaltung der Freiheit leistet. Diese christliche Freiheit wird auch die alleinige und entscheidende Basis sein, die uns als Kirche der Freiheit evangelisch im 21. Jahrhundert sein lässt. Bei aller Ungewissheit über die Wege, die vor uns liegen, werden wir den nötigen Mentalitätswandel nur in der Freiheit finden, die Gott uns in Jesus Christus schenkt und die wir im Glauben für uns gelten lassen. Orientierung finden wir in der Freiheit durch Gott, zu uns selbst und für unsere Nächsten.
Auch eingedenk des 400. Geburtstages Paul Gerhardts, den unsere Kirche in diesem Jahr besonders feiert, will ich an dieser Stelle in das Lied eines anderen, großen Liederdichters einstimmen. Der Erfurter Professor und Mühlhausener Pfarrer Ludwig Helmbold hat eines der schönsten Danklieder unserer evangelischen Tradition gedichtet; Johann Crüger hat ihm wie auch vielen Liedern Paul Gerhardts eine musikalische Gestalt gegeben, durch die es über die Jahrhunderte hin vertraut blieb. Ich meine das Lied „Nun lasst uns Gott dem Herren Dank sagen und ihn ehren“. Das Lied endet mit einem großen Ausblick; als Gebet singen evangelische Gemeinden seit Jahrhunderten diesen Vers: „Erhalt uns in der Wahrheit, gib ewigliche Freiheit, zu preisen deinen Namen durch Jesus Christus. Amen“ (EG 320, 8).
In wenigen Worten wird sie vor uns gestellt: die in der Wahrheit gründende „ewigliche Freiheit“ eines Christenmenschen. Diese Freiheit erhält ihre Bestimmtheit durch den Namen Jesu Christi. Und sie kommt zu ihrer höchsten Erfüllung, wenn sie sich aufschwingt zum Lob Gottes, der in Jesus Christus uns zu Gute menschliche Gestalt annimmt. Eine in Gottes Menschwerdung begründete Freiheit, die im Lob Gottes ihre Erfüllung findet – das ist in der Tat eine Freiheit, die der Mensch sich nicht dadurch plausibel machen muss, dass er sie an sich selbst und seinen Taten aufweist. Dies ist keine Freiheit, die dadurch geprägt ist, dass sie alles Mögliche für gleich gültig erklärt. Sondern es ist eine Freiheit, die sich ein Mensch von Gott schenken lässt, um sie im Verhältnis zu sich selbst wie im Eintreten für seinen Nächsten zu bewähren. Sie erhebt sich aus der Gefangenschaft allen Machens und Schaffens. Sie lässt sich nicht durch uns selbst verbürgen, durch unsere Fähigkeiten, Finanzen oder Freunde; sondern sie verdankt sich der Güte Gottes. „Erhalt uns in der Wahrheit, gib ewigliche Freiheit, zu preisen deinen Namen durch Jesus Christus. Amen.“
„Evangelisch im 21. Jahrhundert“ wird diese Erkennungsmelodie auf den Lippen tragen. Diese Melodie wird zum Mitsingen einladen; denn nur in diesem Gesang der Befreiten ist unsere Kirche auch in Zukunft eine Kirche der Freiheit.
II.
Wer im Jahre 2007 zu einem Zukunftskongress nach Wittenberg einlädt, der will mit den Vätern und Müttern der Reformation in die Zukunft gehen; er will erneut in die Schule der Anfänge gehen; er will sich unter die Kanzel Martin Luthers setzen, der hier in der Stadtkirche über die Freiheit eines Christenmenschen predigte und ihren Grund freilegte, indem er, die eine Hand auf dem Bibelbuch, mit der anderen von sich weg auf den Gekreuzigten wies. Worum es in der ewiglichen Freiheit geht, die in der Wahrheit gründet, stand damals auch jedem Einwohner Wittenbergs sehr konkret vor Augen.
Das Jenseits des Diesseits, das Leben vor und bei Gott, war sehr real, ja erschreckend nah. Jeder Mensch, so hieß die Vorstellung, – ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, ob arm oder reich – wird sich vor Gott zu verantworten haben für sein Tun und Lassen, für sein Dichten und Trachten, minutiös aufgezeichnet im Buch des Lebens. Auch die Innenwelt der Seele wird notiert, jeder Traum, jede Begierde, jeder dunkle Gedanke wird festgehalten, es gibt kein Täuschen oder Verstecken, das ganze Leben – innen und außen – ist transparent für diese letzte Urteilsinstanz.
„Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne“, heißt es im 139. Psalm, der keineswegs immer als Ausdruck des Vertrauens auf Gott, sondern oft auch als Anleitung zur Selbsterforschung und Selbstprüfung verstanden worden ist. „Was ihr getan habt“ – oder eben: „nicht getan habt“ – „einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir getan“ – oder eben: „nicht getan.“ So heißt es im Gleichnis vom Weltgericht (Matthäus 25, 40.45). Es lässt keinen Zweifel daran, dass dem endzeitlichen Richter all unser Tun in einer vollständigen Transparenz vor Augen steht. „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse“ – so fasst der Apostel Paulus (2. Korinther 5, 10) das Motiv in Worte, das in vielen christlichen Kirchen an den prominentesten Stellen ins Bild gefasst wurde, die dafür überhaupt nur gewählt werden konnten: im nach Osten ausgerichteten Chor, wo der Blick des Beters auf die Maiestas Domini, die Majestät des Weltenherrschers und Weltenrichters Christus fiel, oder an der gegenüberliegenden Westwand, wo in detailfreudigen Gerichtsszenen geschildert wurde, wie alle mit ihren Taten vor dem Richter stehen und ihr Urteil entgegennehmen müssen.
Luther stellte sich – wie die meisten Menschen damals – jene himmlische Beurteilung wie eine weltliche Gerichtsverhandlung vor: mit einem gestrengen Richter, der sich nur an Recht und Gesetz hält; mit einem Ankläger, der alle Taten vorträgt; und mit einem Delinquenten, der schon bald nichts mehr zu seiner Verteidigung vorzubringen vermag. Denn seine guten Taten wirken nur kläglich gegen alle Schuld und Sünde, die der Ankläger vorzubringen weiß; der Weg in die ewige Hölle ist unabwendbar. Aber gerade da, als alles verloren scheint, tritt dieser Eine auf, Jesus Christus. Er stellt sich zwischen den Delinquenten und den Richter, er nimmt dem Richter gleichsam die Sicht auf die arme Kreatur und sagt: ‚Vater, schau nicht auf ihn, schau auf mich, und dann urteile’. Angesichts dieses seines Sohnes wird der Mensch „ewiglich frei“ gesprochen, er ist dem Tod entkommen und kann – um Paul Gerhardt doch noch zu Ehren kommen zu lassen - fröhlich singen: „Die Höll und ihre Rotten, die krümmen mir kein Haar; der Sünden kann ich spotten, bleib allzeit ohn Gefahr“ (EG 112, 4).
Durch diesen einen Mittler ist der Mensch von der Sünde kraft der Gerechtigkeit Gottes selbst frei gesprochen. Er ist befreit für ein Leben aus Glauben, in dem er dem Nächsten gute Werke tun kann, ohne der Frage ausgesetzt zu sein, ob diese dazu reichen, vor Gott bestehen zu können. Der Mensch ist frei, ewiglich frei, ganz ohne sein Verdienst, ganz ohne seine Werke, allein durch Christus, allein aus Gnade. Und Christus hilft diesem wunderbar Befreiten auf die Beine und führt ihn dorthin, wo er mit allen anderen gemeinsam in „ewiglicher Freiheit“ Gott loben und preisen kann. Weil der Mensch diesen wunderbaren Ausgang im lebendigen Wort Gottes zugesagt erhält und mit ganzem Herzen, ganzer Seele und all seiner Kraft glaubt, mit einem Glauben, „der durch die Liebe tätig ist“ (Galater 5, 6), hat er schon in seinem diesseitigen Leben Teil an jener „ewiglichen Freiheit“, allein aus Glauben, allein durch das Wort. Er kann nun schon in dieser Welt singen und sagen: „Meine Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Netze des Vogelfängers; das Netz ist zerrissen, und ich bin frei“.
Dies ist der Kern aller christlichen Glaubensfreiheit: Sie ist Freiheit von der Sünde und Freiheit zum Gotteslob; sie ist in Gottes Gnade und Barmherzigkeit gegründet, in Christi Sterben und Auferstehen offenbar, in der Heiligen Schrift bezeugt und im Glauben ergriffen. Diese Befreiung von Furcht und Zittern enthält eine existentielle Kraft in sich. Durch sie wird der christliche Glaube zu einer Lebenshaltung, die von Gottvertrauen und Zuversicht geprägt ist und sich deshalb an die Aufforderung des Apostels hält: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! “ (Galater 5, 1).
Aus dieser existentiellen Kraft erklärt sich auch die Wirkungsgeschichte der von Wittenberg ausgehenden Reformation. Wie eine Druckwelle breitet sich die wieder entdeckte „Freiheit eines Christenmenschen“ in Europa aus, sie wird weitererzählt, weitergepredigt, weiterbeschrieben in immer neuen Bildern, in immer neuen Anläufen. Sie wird aufgenommen und abgewandelt, auch missdeutet und missbraucht, sie wird veredelt und verdichtet, auch verhärtet und dogmatisiert, aber sie bleibt der Gründungsakt und die Verfassungsurkunde aller reformatorischen Kirchen. Der in Gottes Barmherzigkeit und ihrer Offenbarung in Christus gegründete freie Blick des Menschen auf Gott und der aufrechte Gang im Glauben machen aus den Kirchen der Reformation „Kirchen der Freiheit“. Aus diesem Impuls entsteht das Beharren auf einer Gewissensfreiheit, die gegenüber den Ansprüchen der Mächtigen eine unantastbare Instanz der Verantwortung vor Gott und der aus ihr folgenden Selbstbestimmung bildet.
Aus diesem Impuls entsteht die Kraft zu einer kulturellen Gestaltung, für die sich die Bezeichnung des Protestantismus eingebürgert hat. Bis zum heutigen Tag ist deutlich, dass der reformatorische Impuls mit diesen kulturellen Wirkungen zusammengehört. Deshalb achten wir auch wieder neu auf lebendige, sich immer wieder erneuernde kulturelle Gestaltungsformen evangelisch geprägter Kultur. Es ist bekannt, in welch vielfältigen Formen sich die reformatorische Tradition, auch in Gestalt des evangelischen Pfarrhauses, insbesondere auf Literatur und Musik ausgewirkt hat. Die Erneuerung dieses konstruktiven Verhältnisses zwischen Glaube und Kultur gehört zu den Hoffnungszeichen unserer Gegenwart.
Zugleich kann der reformatorische Impuls so wenig auf einen Kulturprotestantismus reduziert werden, wie es angeht, das Christentum auf ein bloßes Kulturchristentum zu verengen. Ein Kulturchristentum bezieht sich auf die Prägungen, die unsere Lebenswelt bestimmen. Der christliche Glaube aber ist eine Haltung, die unser Leben bestimmt. Ein Kulturprotestantismus beruft sich auf die gesellschaftlichen Folgen, die aus der Wiederentdeckung der christlichen Freiheit erwachsen sind. Evangelischer Glaube aber bekennt sich zu ihrer Quelle: zu der Freiheit, zu der uns Christus befreit. Kulturelle Bedeutung und gesellschaftliche Folgen sind gewiss von großem Gewicht; aber sie sind nicht alles. Wer das Christentum nur als Kultur versteht, sieht seine Aufgabe vor allem darin, eine „Tradition“ zu bewahren und ein „Erbe“ zu verwalten. Wer sich auf die Quelle dieser kulturellen Wirkungen besinnt, fragt nach der lebendigen Kraft, die das eigene Leben ergreift und deren kulturelle Folgen sich deshalb auch zu erneuern vermögen.
Es ist dieses weithin leuchtende Feuer der „ewiglichen Freiheit“, diese Freiheitsglut des christlichen Glaubens, die uns auch im 21. Jahrhundert zu tragen vermag. Alle Veränderungen und Neugestaltungen, die wir uns vornehmen, alle Zielverabredungen und Qualitätsanstrengungen, alle Strukturverbesserungen und Fortbildungsanstrengungen müssen sich als Dienst an dieser Freiheit verstehen lassen, sonst taugen sie nicht. Soweit die evangelische Kirche die von Gott geschenkte Freiheit des Glaubens als ihre Quelle bekennt, aus ihr lebt und sie durch Wort und Tat weitervermittelt, soweit kann und darf sie sich auch in Zukunft eine „Kirche der Freiheit“ nennen.
III.
Wie aber lässt sich dieser Glutkern der christlichen Freiheit für das 21. Jahrhundert beschreiben? Wie lässt sich die Rechtfertigung des Sünders als Wurzelgrund für die Würde des Menschen heute erzählen?
Natürlich haben sich die Konstitutionsbedingungen der Freiheit so dramatisch verändert, dass wir heute neu und anders von der Freiheit erzählen müssen, als es Luther hier in Wittenberg vor bald fünfhundert Jahren tat. „Der Horizont ist weggewischt“, lässt Nietzsche seinen Zarathustra sagen. Richtig ist daran, dass mit der Aufklärung und der Neuzeit das Jenseits jenseitiger und das Diesseits diesseitiger geworden sind. Eine Zeit lang verbreitete sich die Meinung, es könnten rein diesseitige Verheißungen der Freiheit als endgültige Zukunft ausgegeben werden. Daraus gespeiste Utopien haben manche Aufbrüche ausgelöst, aber zugleich Zerrüttungen und Zerstörungen bewirkt.
Heute spüren wir, dass reine Diesseitigkeit ein Verhängnis ohne Ausweg ist. Wer sich ihr unterwirft, lebt unter dem Verhängnis einer doppelten Verschattung. Der Aufblick zu Gott ist ebenso verdunkelt wie der Ausblick auf die Zukunft. Blickt der Mensch über sich selbst hinaus, so stößt er doch nur auf sich selbst; er trifft beim Überschreiten der eigenen Gegenwart nur noch auf die Zukunft, die er selbst machen kann. Weil es dabei nicht bleiben kann, ist ein neues Nachdenken über die christliche Freiheit nötig; weil es dabei aber so oft bleibt, muss dieses neue Nachdenken über die christliche Freiheit wieder (mit Karl Barth zu sprechen) mit dem Anfang anfangen.
Für das reformatorische Denken ist der entscheidende Grundsatz für die „ewigliche Freiheit“ in einem Satz eingefangen, den Martin Luther 1530 an Spalatin schrieb: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die Summa!“ In die Wahrheit gelangt der Mensch, wenn er nicht sich selbst definiert, sondern sich von Gott definieren lässt – als der Mensch nämlich, der durch Gottes Gnade und durch sie allein zu sich selbst kommt.
Es wäre ein Missverständnis, diese klare Unterscheidung von Mensch und Gott dahingehend aufzulösen, als sei der Mensch von Gott frei geworden und bräuchte ihn nicht mehr. Im Gegenteil: Die Unterscheidung macht bewusst, dass ein Mensch zu sich selbst in ein Verhältnis treten kann, weil ihm dies durch Gott möglich wird. Die Reformation beschrieb das in dem Bild, dass innerer und äußerer Mensch einander gegenüber stehen. Das Selbstsein des Menschen wird unterscheidbar von der Summe seiner Tätigkeiten. Der Mensch, der vor Gott gerecht gesprochen ist, wird dadurch frei von der Knechtschaft des Äußerlichen. Indem er sich durch Gottes Gnade neu wahrnimmt, findet er zu sich selbst. Er hat nun den Rücken frei vom Ballast der Selbstbestätigung. Das selbstgesponnene „Netz ist zerrissen, und wir sind frei.“ Der Mensch kann frei und aufrecht gehen. Er macht die Erfahrung, dass die verheißene „ewigliche Freiheit“ etwas anderes ist als die äußere Freiheit. Ohne diese Erfahrung hätten all die Zufälligkeiten unserer äußeren Freiheit gerade zu stehen für die ungeheure Behauptung, dass sich in ihnen bereits erfüllt, wozu uns Gott berufen hat – nämlich zur Freiheit. Das aber wäre ohne Zweifel, um Eberhard Jüngel zu zitieren, eine „maßlose Behauptung und hypertrophe Versicherung“.
Gewiss hat man bisweilen die Zuwendung zum inwendigen Menschen als Lob einer gemütvollen, ja gemütlichen Innerlichkeit missverstanden, die sich gegebenenfalls sogar mit äußerer Unfreiheit zu arrangieren weiß, weil sie sich auf einen behaglichen Seelenfrieden zurückzieht. Doch es geht bei dieser Unterscheidung um etwas ganz anderes. Es geht darum, wie sich ein Mensch auf das eine, befreiende Wort Gottes stützen kann, das in Jesus Christus Person ist. Das kann nur in einem radikalen Freiheitsbewusstsein geschehen, das sich von allen selbst gemachten Bedingungen und Folgen ebenso unabhängig weiß wie von allen äußeren Bedingtheiten und Bestimmtheiten.
Doch die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen nötigt zugleich dazu, deren Zusammengehörigkeit zu bedenken. Wer sich einer Freiheit verdankt, die unverfügbar ist, weiß sich für die Gestaltung von Räumen verantwortlich, in denen diese Freiheit zur Erfahrung kommt. Deshalb interessiert sich der christliche Glaube für die Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen im eigenen Handeln ebenso wie für die Bedingtheiten und Bestimmtheiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Er setzt sich leidenschaftlich für Lebensverhältnisse ein, in denen Freiheit erfahrbar wird. Deshalb ist er als Religion der Freiheit eine Religion der Aufklärung und der Vernunft, des freien Dienstes am Nächsten und der politischen Mitverantwortung.
Aus der Erfahrung des inwendigen, also im Innern durch den Glauben vergewisserten Menschen heraus sprechen die Lieder Martin Luthers wie Paul Gerhardts, erklingen die Melodien Johann Crügers wie Johann Sebastian Bachs, speisen sich die Aufbrüche vom Pietismus bis zur Bekennenden Kirche, leben neue geistliche Impulse vom Gemeinsamen Leben Dietrich Bonhoeffers bis zur fröhlichen Auftragsgewissheit von Klaus Peter Hertzsch, nähren sich die Formen geistlichen Lebens von den Bruder- und Schwesternschaften der Diakonie bis zu den evangelischen und ökumenischen Kommunitäten.
Wenn wir heute mit neuem Nachdruck vom inneren Menschen und davon sprechen, dass die Freiheit des Glaubens den einzelnen ergreift und verwandelt, wenn wir von daher in der so begründeten Freiheit der Person und ihres Gewissens den entscheidenden Beitrag der evangelischen Christenheit zum christlichen Zeugnis in unserer Zeit sehen, dann geschieht das keineswegs, wie auch von katholischen Gesprächspartnern vermutet wird, in einer schlichten Anknüpfung an einen neuprotestantischen Kulturprotestantismus. Vielmehr muss man auch Friedrich Schleiermacher und Adolf von Harnack, die in solchen Zusammenhängen immer wieder genannt werden, zutrauen, dass sie genau an dieser Stelle einen urreformatorischen Impuls aufgenommen haben – einen Impuls also, der nicht erst im Berlin des 19., sondern schon im Wittenberg des 16. Jahrhunderts laut geworden ist. Dieser Impuls liegt eben in der Unterscheidung zwischen dem inneren und dem äußeren Menschen. An ihr wird anschaulich, was es bedeutet, dass der Mensch durch das Geschenk des Glaubens zu sich selbst kommt.
Wo diese Dimension evangelischer Freiheit verkümmert, hat der Baum unserer Kirche zu flache Wurzeln. Tiefe Wurzeln aber braucht dieser Baum auch für alle gesellschaftliche Verantwortung und diakonische Aktivität, für alle Verpflichtung zur weltweiten Ökumene und zum missionarischen Aufbruch.
IV.
Die Reformation hat deshalb bei aller Weite der christlichen Freiheit den Begriff der Kirche ganz konsequent vom Gottesdienst her bestimmt. Denn im gefeierten Gottesdienst vergewissert sich die christliche Gemeinde ihres Grundes: der Erlösung in Jesus Christus. Und im gefeierten Gottesdienst kommt sie ihrer allerersten Pflicht nach: dem Lob Gottes.
Deshalb ist die christliche Kirche nach der Aussage des Augsburgischen Bekenntnisses von 1530 die „Versammlung aller Gläubigen ..., bei denen das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden“. Weil der Gottesdienst Grund und Gestalt der Kirche miteinander verbindet, bezeichnet die Barmer Theologische Erklärung von 1934 die christliche Kirche als eine geschwisterliche Gemeinschaft, „in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“, nämlich als der eine Herr dieser Gemeinschaft von Gleichen. Weil die Feier des Gottesdienstes die Kirche Jesu Christi konstituiert, bindet die Leuenberger Konkordie von 1973 die Möglichkeit der Kirchengemeinschaft an die „gewonnene Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums“; sie ermöglicht es, „einander Gemeinschaft an Wort und Sakrament (zu) gewähren und eine möglichst große Gemeinsamkeit in Zeugnis und Dienst an der Welt (zu) erstreben“. Aber weder die schon erreichte Einheit in Zeugnis und Dienst noch die bereits verwirklichte Einheit in der Gestalt der kirchlichen Ämter wird zur Voraussetzung dafür erklärt, einander Gemeinschaft an Wort und Sakrament zu gewähren. Denn diese Gemeinschaft gründet allein im übereinstimmenden Verständnis des Evangeliums.
Diese Konzentration auf das Evangelium, das uns im Gottesdienst in Wort und Sakrament begegnet, ist das entscheidende Charakteristikum des evangelischen Kirchenbegriffs. Darin liegt zugleich seine ökumenische Weite begründet. Er achtet das Amt in der Kirche hoch; aber er bindet die Möglichkeit der Kirchengemeinschaft nicht exklusiv an eine bestimmte Gestalt dieses Amtes. Er weiß um die Aufgaben geistlicher Leitung und Aufsicht in der Kirche; aber er beschränkt die Episkope nicht auf die eine Form des historischen und hierarchischen Bischofsamtes. Er ist keineswegs gleichgültig gegenüber den Fragen der sichtbaren Gestalt der Kirche; denn ihn prägt die Überzeugung, dass die Kirche auch mit ihrer Gestalt und der sie prägenden Ordnung zu bezeugen hat, dass sie zu Christus gehört und in seinem Dienst steht. Aber dieses evangelische Kirchenverständnis sieht in Ordnung und Gestalt der Kirche menschliche Antworten auf das Evangelium, also Ausdrucksformen verantwortlichen menschlichen Handelns. Es ist gerade diese Unterscheidung und Verbindung zwischen Grund und Gestalt der Kirche, zwischen Konzentration und Weite, zwischen göttlichem Wirken und menschlicher Verantwortung, welche die evangelische Kirche in einem spezifischen Sinn zu einer Kirche der Freiheit macht.
Denn auch im Blick auf die Kirche kann der Glaube an Gott vor der Versuchung bewahren, die Dinge des Diesseits jenseitig aufzuladen. Die Achtung des Ersten Gebots hat unmittelbare Folgen für das Verständnis der Kirche. Als Gemeinschaft der Glaubenden hat sie allein Gott die Ehre zu geben. Sie hat in gemeinsamer Verantwortung Sorge dafür zu tragen, dass sie „mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder“ Kirche Jesu Christi ist, wie dies die Barmer Theologische Erklärung formuliert.
Eine in solcher Nüchternheit verstandene Kirche der Freiheit hat sich gemäß ihrem Auftrag und gemäß verantwortlicher Einsicht über ihre Gestalt Rechenschaft abzulegen und diese wo nötig umzugestalten. Sie befindet sich ständig im Prozess der Erneuerung. Damit sind nicht eine pauschale Kritik am Überkommenen und ein Zwang zur Veränderung um ihrer selbst willen gemeint. Gemeint ist die dieser Kirche von ihrem Grund her innewohnende Freiheit dazu, ihre Strukturen immer wieder neu auf ihre Auftragsgemäßheit hin zu prüfen, dasjenige zu bewahren, was der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat dient, und zugleich neue Wege dafür zu suchen. Auch in Zukunft wird dies nicht einfach ein Weg sein. Die Vielfalt protestantischer Gestaltungsformen bleibt auch im 21. Jahrhundert ein mit dem evangelischen Kirchenverständnis gegebener und geschenkter Reichtum und in sich selbst ein Ausdruck evangelischer Freiheit. Die Ermutigung zu unterschiedlichen Formen und Profilen von Gemeinden ist ein konkretes Beispiel dafür.
In der Konzentration des evangelischen Kirchenverständnisses auf den Gottesdienst als das Geschehen, in dem die Kirche ihres Grundes wie ihres Auftrags gewiss wird, liegt der entscheidende Grund dafür, dass alle Reformprozesse in unserer Kirche sich zuallererst auf die kirchlichen Kernaufgaben und auf eine Profilierung der geistlichen Grundlagen und Grundvollzüge kirchlichen Lebens richten und richten müssen. Aus dieser Konzentration ergibt sich auch die besondere Wertschätzung all der beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten, die der um Wort und Sakrament versammelten Gemeinde zu Gute kommen. Unser gemeinsames Ziel sollte es sein, dass dieser Einsatz wachsende Resonanz findet, ja dass von ihm eine missionarische Ausstrahlung ausgeht. Wir wollen den öffentlichen, nach außen gewandten Charakter des Gottesdienstes neu zur Geltung kommen lassen. Dafür wollen wir an seiner inneren Kraft und Qualität, an der Anmut und dem Glanz unserer Gottesdienste arbeiten. Dass Gottesdienste zum Lob Gottes gefeiert werden, dass sie Glauben wecken und im Glauben stärken, soll neu zum Bewusstsein kommen.
Deshalb sprechen wir von einem geistlichen Mentalitätswandel. Alle Rede von der Konzentration auf Kernaufgaben, von der Profilierung des Evangelischen, von der qualitätvollen Arbeit in der Vielfalt kirchlicher Handlungsfelder verweist auf diesen Grundgedanken. Zukunft hat die evangelische Kirche durch ihre geistliche Kraft. Alle äußeren Gestaltungen und Umgestaltungen unserer Kirche müssen hiervon ausgehen und darauf hinwirken.
Wenn in solchen Zusammenhängen von der Stärkung des evangelischen Profils die Rede ist, dann entspringt dies weder einer Lust an der Abgrenzung gegenüber anderen Kirchen und Konfessionen noch gar der Absicht, die Vielfalt und Pluralität in den Gestaltungsformen des Protestantischen einzugrenzen. Sondern es geht zentral darum, sich der eigenen Wurzeln neu bewusst zu werden und den spezifischen Glaubensschatz der evangelischen Kirchen aufs Neue zu heben. Es geht in diesem Sinn, wie Walter Kasper zu Recht hervorgehoben hat, um die Frage nach der eigenen Identität. Die reformatorische Orientierung an Gottes lebendigem Wort, die evangelische Treue zum Reichtum der biblischen Botschaft, die Konzentration auf eine gute Predigt in einem liturgisch bewusst und qualitätvoll gestalteten Gottesdienst, die Hochschätzung der Bildung und des persönlich angeeigneten Glaubens, die Betonung von kultureller Kraft und gesellschaftlicher Verantwortung, die möglichst breite Ausrichtung auf eine große Beteiligung von Frauen und Männern, von Jungen und Alten, Armen und Reichen – all das sind zugleich Konsequenzen reformatorischer Einsichten und Erkennungszeichen evangelischer Kirchen.
Die Erinnerung an dieses besondere reformatorische Profil unserer Kirche ist die wichtigste Begründung für den mit unserem Selbstverständnis unmittelbar verknüpften ökumenischen Geist. Gerade weil wir wissen, dass wir die Fülle der christlichen Wahrheit und den Kosmos der christlichen Einsichten nicht allein vertreten, sind wir von Haus aus ökumenisch ausgerichtet. Die besonderen reformatorischen Entdeckungen weiten unseren Blick für die Wahrheit, die sich in anderen christlichen Konfessionen und Kirchen findet. Wenn wir feststellen, dass sie sich dort besser findet, erkennen wir das an und geben dadurch Gott die Ehre. Deswegen meint die Rede von einer „Ökumene der Profile“ nicht nur die Stärkung der eigenen Identität. Sie richtet sich vielmehr zugleich auf die Stärkung der christlichen Gemeinschaft. Uns bestimmt die ökumenische Hoffnung, dass alle christlichen Kirchen sich berufen wissen, die Wahrheit des christlichen Geheimnisses zu bezeugen, das größer ist als die immer nur unvollkommene und fragmentarische Wahrheitserkenntnis jeder einzelnen Kirche. Uns bestimmt die ökumenische Hoffnung, dass alle christlichen Kirchen sich berufen wissen, den Frieden zu bezeugen, der höher ist als alles, was eine einzelne Kirche vermag, und zu dem wir doch unermüdlich beitragen wollen, auf dass die Welt glaube.
V.
Das Geschenk des Glaubens befreit uns von Gott her zu uns selbst; und es richtet unseren Blick von uns weg auf den Nächsten; denn ihm wendet sich der Glaube zu, der durch die Liebe tätig ist.
Eine Kirche, die im Gottesdienst ihres Grundes gewiss wird, ist deshalb in einem präzisen Sinn eine Kirche für andere. Dietrich Bonhoeffers Ortsbestimmung der Kirche Jesu Christi als einer „Kirche für andere“ ist für evangelisches Kirchenverständnis von unaufgebbarer Bedeutung. „Christus befreit – darum Kirche für andere“ – diese 1972 von Heino Falcke geprägte Formel behält auch unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts ihre Gültigkeit. Die Freiheit eines Christenmenschen kommt erst dann zu sich selbst, wenn sie in der Verantwortung für andere konkret wird. Dass der Christenmensch ein freier Herr aller Dinge ist, bewährt sich gerade darin, dass er aus freien Stücken allen ein Diener sein kann.
Wenn der christliche Glaube auch darin der Freiheit die Treue hält, dass er aufmerksam ist für die Bedingungen, unter denen diese Freiheit erfahren werden kann, und wachsam ist gegenüber Umständen, die dieser Freiheit den Entfaltungsraum verweigern, dann gilt dies keineswegs nur für die jeweils eigene Freiheit, sondern gerade auch für die Freiheit des andern. Dass die Freiheit eines Christenmenschen den vor Gott stehenden und durch ihn aufgerichteten Menschen meint, relativiert doch die gesellschaftliche, politische und kirchliche Verantwortung der Christen nicht, sondern präzisiert sie.
Ich halte es deshalb nicht für zutreffend, wenn die These, die Kernkompetenz der Kirche liege in ihrem gottesdienstlichen Handeln und geistlichen Leben, so verstanden wird, als werde diese Kernkompetenz damit „unpolitisch“ ausgelegt. Vielmehr ergibt sich doch die Verantwortung für Gerechtigkeit und Frieden, für die Würde des Menschen und die Bewahrung der Natur aus dem gottesdienstlichen Handeln und geistlichen Leben der Kirche selbst: aus dem Lob Gottes, der es gut mit seiner Welt meint und ihren Frieden will; aus der Perspektive Jesu, der auf die Seite der Leidenden tritt; aus der Hoffnung auf das Reich Gottes, in dem Friede und Gerechtigkeit sich küssen. Unser Eintreten für eine Reform unserer Kirche von innen heraus und unser Eintreten für gerechte Teilhabe in unserer Gesellschaft wie in der einen Welt gehören unmittelbar zusammen. Wir wollen das eine nicht ohne das andere. Eine „selbstgenügsame Kirche“ wäre ein Widerspruch in sich selbst.
Auch für das Evangelischsein im 21. Jahrhundert gilt, dass das Evangelium in Wort und Tat, in Verkündigung und Diakonie bezeugt wird. Die evangelische Kirche sieht in der Solidarität mit dem hilfsbedürftigen Nächsten eine zentrale Lebensäußerung der Kirche. Sie macht sich die Klage über Unfrieden und Ungerechtigkeit zu Eigen und sucht nach Wegen dazu, wie die vorrangige Option für die Armen und die vorrangige Option für gewaltfreies Handeln Gestalt gewinnen können. Deshalb bleibt es ihr wichtig, dass das Christentum nicht nur eine kirchliche und eine persönliche, sondern auch eine öffentliche Gestalt annimmt.
Wenn vom „öffentlichen Christentum“ die Rede ist, dann ist dabei nicht nur das Verhältnis von Kirche und Staat im Blick; gemeint ist damit vielmehr vor allem die Bedeutung von Glauben und Kirche für die Zivilgesellschaft. Der christliche Glaube, das Zeugnis der Freiheit, lässt sich nicht in die Mauern der Kirche einsperren. Dass sie in ihrer kritischen und orientierenden Bedeutung für die Gesellschaft zur Geltung kommen, ist für Zeugnis und Dienst der Kirche unentbehrlich. Wir wollen, dass die evangelische Stimme im kritischen Diskurs unserer Gesellschaft gehört wird.
Die evangelische Kirche will auch im 21. Jahrhundert eine gesellschaftlich engagierte und wache Kirche sein. Es bleibt ihre Aufgabe, die Freiheit zu stärken und Abhängigkeiten anzuklagen. Sie erhofft die nötige Kraft dafür, für die unantastbare Würde eines jeden Menschen einzutreten und die Gerechtigkeit zu fördern, die allen Menschen faire Beteiligungschancen eröffnet. Wir bitten Gott darum, dass er uns vor Trägheit bewahrt und uns dabei hilft, unsere gesellschaftliche Verantwortung auch künftig nachdrücklich und überzeugt wahrzunehmen.
„Kirche für andere“: diese Grundformel evangelischen Kirchenverständnisses ist mit dem gleichen Nachdruck auf unsere missionarische Situation anzuwenden. Der Auftrag, „die Botschaft von Gottes Gnade auszurichten an alles Volk“, von dem die sechste These der Barmer Theologischen Erklärung spricht, verlangt heute eine neue Orientierung hin zu den Menschen, denen diese Botschaft fremd und unbekannt ist. Sie erwarten ein klares Zeugnis des christlichen Glaubens in Wort und Tat. Für sie kann der christliche Glaube dann überzeugende Kraft gewinnen, wenn sie im Alltag ihres Lebens Menschen begegnen, die aus Glauben leben. Für sie ist es entscheidend, dass Christen darüber Auskunft geben können, was ihnen an ihrem Glauben wichtig ist. Außenorientierung des kirchlichen Handelns und Auskunftsfähigkeit der Christen im Alltag sind die beiden wichtigsten Grundelemente der missionarischen Ausrichtung, die heute an der Zeit ist. Auch in dieser Hinsicht gilt: Eine „selbstgenügsame Kirche“ wäre ein Widerspruch in sich selbst.
VI.
Zuletzt: Eine Kirche der Freiheit ist im Blick auf ihre eigene Zukunft in einem präzisen Sinn eine sorglose Kirche; sie macht sich nicht Sorgen um sich selbst. Denn eine Kirche, die sich in Gottes Wort gegründet und von der Barmherzigkeit Gottes gehalten weiß, muss sich nicht um ihre Existenz und ihre Zukunft sorgen.
Die Freiheit des Glaubens bestimmt auch den Umgang mit der Sorge um unsere Kirche. Für uns gilt heute ebenso wie für alle anderen Generationen vor uns und nach uns die Feststellung Martin Luthers: „Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten, unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen, unsere Nachkommen werden’s auch nicht sein, sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da spricht: ‚Siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende.’“
Die Kirche Jesu Christi, die im Glaubensbekenntnis von allen Christen bezeugte und bekannte „eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche“, diese von Gottes heiligem Geist erhaltene und durch die Zeiten geführte Gemeinschaft der Glaubenden hängt nicht davon ab, ob wir eine große oder kleine, eine glanzvolle oder klägliche, ein mutige oder ängstliche, eine einladende oder verschlossene evangelische Kirche gestalten oder nicht. Aber gerade weil dies so ist, weil wir den Rücken frei haben und entlastet sind von falschen Sorgen, können und sollen wir mit all unserem theologischen Verstand, mit unseren intellektuellen Kräften, mit unserem nüchternen Weltwissen und einem emphatischen Hoffen unserem Auftrag folgen und ihn nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen. Befreit von der Sorge um uns selbst können wir auch heute und morgen einstimmen in den großen Gesang der Freiheit und rufen: „Unsere Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Netze des Vogelfängers; das Netz ist zerrissen, und wir sind frei“. In unserem Zusammenhang ist es nicht allein die Sorge um uns selbst, aus deren Netz wir befreit werden. Frei sollen wir auch werden von der Sorge um die Zukunft unserer Kirche, von jenem Sorgengeist, der mehr auf unsere schwachen Kräfte setzt als auf den Geist Gottes, von dem wir bekennen: „Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2. Korinther 3, 17).
Dass wir den Sorgengeist hinter uns lassen und uns dem Geist der Freiheit anvertrauen, ist das Wichtigste, was zu Beginn dieses Zukunftskongresses überhaupt geschehen kann. Dazu kann uns auch Martin Luther ermutigen, der am 27. Juni 1530 an Melanchthon schrieb: "Deine elenden Sorgen, von denen Du, wie Du schreibst, verzehrt wirst, hasse ich von Herzen. Dass sie in deinem Herzen regieren, ist nicht der großen Sache, sondern unseres großen Unglaubens Schuld. ... Was marterst Du Dich selbst so ohne Unterlass? ... Ich bete wahrlich mit Fleiß für Dich, und es tut mir weh, dass Du unverbesserlicher Sorgen-Blutegel meine Gebete so vergeblich machst. Ich bin wenigstens, was die Sache angeht – ob es Dummheit ist oder der Geist, mag Christus sehen – nicht sonderlich beunruhigt, vielmehr besserer Hoffnung, als ich zu sein gehofft hatte."
In dieser Freiheit von der Sorge wollen wir, wie Wolf Krötke unlängst formuliert hat, „der Zukunft das Wort geben“. Damit ist mehr gemeint, als dass wir uns dem Diktat zurückgehender Zahlen unterwerfen und, ihm Rechnung tragend, „der Vergangenheit durch Konzentration der Kräfte noch etwas abtrotzen“. Es ist damit auch mehr gemeint, als dass wir in kühler Rechenhaftigkeit die Kräfte abschätzen, die wir selbst in die Gestaltung der Zukunft einbringen können.
Gewiss. Die Zukunft kommt im Ablauf der Zeiten. Diese Zukunft erwarten wir, so gut wir das auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen können, und stellen uns planend auf sie ein. Doch für den Glauben ist die Zukunft mehr als das, was wir voraussagen können; sie ist der Raum des Unerwartbaren und Überraschenden. Gewiss kann sie auch an Schrecken mehr in sich bergen, als wir zu antizipieren vermögen. Aber ihre Überraschungen können auch in ihrer Güte über das hinausgehen, was wir für möglich hielten, und uns alle miteinander des Kleinglaubens überführen. Wer nur auf den möglichen Schrecken schaut, begegnet dieser Zukunft mit Furcht. Der christliche Glaube begegnet ihr mit der Hoffnung, dass „das Morgen sich zu unseren Gunsten ereignet“ (W. Krötke).
Wir sind gut beraten, wenn wir unser Nachdenken über die Zukunft von dem bestimmen lassen, was wir hoffen. Denn die Hoffnung ist ebenso ein Wesensmerkmal des Glaubens wie die Liebe. Ebenso wie vom Glauben zu sagen ist, dass er durch die Liebe tätig ist, so ist von ihm auch zu sagen, dass er an der Hoffnung nicht irre wird. Die Kirche ist eine Gemeinschaft leidenschaftlicher Hoffnung; im Auf und Ab der Geschichte hält sie Kurs auf das Reich Gottes, in dem Gottes Zukunft sich zu unser aller Gunsten ereignet.
Mit leidenschaftlicher Hoffnung auf Gottes Wirken richten wir den Blick auf den Weg unserer Kirche und auf ihr Tun. Deshalb sind wir zu diesem Kongress zusammengekommen. Es geht uns darum, gemeinsam einen Weg in die Zukunft zu finden und unsere Kirche so zu verändern, dass sie ihrem Auftrag besser gerecht wird. Dafür brauchen wir gute Ideen, einfallsreiche Anregungen, weiterführende Hinweise, ermutigende Ziele, gemeinsame Verabredungen, realistische Umsetzungen. Wenn wir dabei unseren Verstand nach Kräften anstrengen, tun wir es in der Hoffnung, der Heilige Geist möge sich, wie Karl Barth einmal sagte, als ein „Freund des gesunden Menschenverstandes“ erweisen; und wir tun es mit der Bitte Martin Luthers an den Heiligen Geist: „Zünd uns ein Licht an im Verstand“.
Wir wissen: Dieser Geist wirkt, wo und wann er will. Wir wollen ihn nicht auf das begrenzen, was uns in diesen Tagen durch den Sinn geht. Aber wir wollen ihm zutrauen, dass er uns beflügelt. Wir können ihn nicht herbeizwingen, wir können und wollen ihn aber erbitten: Veni Creator Spiritus – „Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist“.