Gerecht aus Glauben - die Gegenwartsbedeutung des christlichen Menschenbilds
Wolfgang Huber
Bremer Tabakskollegium, Augsburg
I.
Wie aktuell die Frage nach dem christlichen Menschenbild ist, war noch vor wenigen Monaten schwer zu ahnen. Vor fünfzehn Tagen hat alle Welt miterlebt, wie von unbekannten Tätern ein Angriff auf das „symbolische Nervenzentrum des Westens“ durchgeführt wurde, der zugleich ein fundamentaler Angriff auf all unsere Vorstellungen von Humanität gewesen ist. Die Terroranschläge von New York und Washington haben unsere Trauer um die Opfer und unser Mitgefühl mit den Hinterbliebenen wachgerufen; sie haben unsere Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika und unsere Mitverantwortung für das jetzt notwendige Handeln geweckt; sie haben Sorgen um Sicherheit und Frieden, um die Bewahrung der Freiheit und die Gewährleistung wirtschaftlicher Stabilität ausgelöst. Aber die entführten und mitsamt ihren Passagieren in Projektile verwandelten Flugzeuge haben auch in unser aller moralisches Nervenzentrum getroffen.
Wenn uns im Handeln anderer Menschen das abgrundtief Böse so unmittelbar entgegentritt, hat das Folgen für unser Bild vom Menschen. Wenn dabei die fundamentalistische Ausprägung des Islam als Rechtfertigung und als moralische Antriebskraft in Anspruch genommen wird, fragen wir erschrocken, wie Religion sich so in eine Kraft zum Bösen verkehren kann. Wenn andere die gleiche Würde jeder menschlichen Person so elementar missachten, stellt sich für uns die Frage, ob wir denn selbst noch bereit und imstande sind, diese gleiche Würde auch dann noch zu respektieren, wenn Menschen sich derart würdelos verhalten. Ist es uns möglich, angesichts von tausendfachem Mord die Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten durchzuhalten?
Die westliche Demokratie bildet, so hat der Philosoph Peter Sloterdijk dieser Tage geschrieben, eine Lebensform, in der man auch noch für seinen Feind verantwortlich ist – weil sich in ihm ein Stück der eigenen Praxis spiegelt. In dieser Form hat die westliche Demokratie Jesu kühnes Gebot der Feindesliebe in sich aufgenommen. Lässt sich dieses Merkmal der westlichen Demokratie aufrechterhalten? Gewiss sind alle Versuche zurückzuweisen, die Terroranschläge von New York und Washington als Reaktionen auf die politische und wirtschaftliche Vorrangstellung der USA zu erklären und ihnen damit auch nur einen Anschein des Verständnisses entgegenzubringen. Aber wahr ist auch, was eineinhalbtausend Leiter religiöser Gemeinschaften in den USA dieser Tage in einem eindrucksvollen Manifest ausgesprochen haben: Auch in der Reaktion dürfen wir uns nicht dem Geist der Rache ausliefern, der in den Terrorakten des 11. September zum Ausdruck kam. Vielmehr bleibt es, so die religiösen Verantwortungsträger in den USA, eine unabweisbare Pflicht, an der Überwindung von Ungerechtigkeit zu arbeiten, die ihrerseits „Raserei und Rache nährt“.
Verfehlt wäre es auch, in den Terrorakten einfach den Ausdruck einer atavistischen Haltung zu sehen und dabei zu verkennen, dass diese Handlungen sich entscheidender Instrumente der Moderne bedient haben: Hochtechnologie, weltweit funktionierende Information, Geld. Diese hochmodernen Mittel freilich wurden in den Dienst eines Hasses gestellt, der sogar vor der Preisgabe des eigenen Lebens nicht zurückschreckt. Haben wir auf diesen Hass auch mit Hass zu antworten? Dürfen, ja müssen wir sogar der Rache und der Vergeltung in unserem Fühlen, Denken und Handeln Raum geben? Oder sind wir gut beraten, uns jenem großen Vorbehalt zu unterwerfen, den die biblischen Worte zum Ausdruck bringen: „Mein ist die Rache, spricht der Herr.“
Wenn wir diesen Vorbehalt gelten lassen, werden wir uns auch angesichts dieses Geschehens nicht an die Stelle des himmlischen Richters setzen, sondern uns um irdische Gerechtigkeit bemühen. Nicht die Vernichtung von Personen, sondern die Bestrafung von Taten ist dann unser Ziel. Von der Reaktion der USA wie der Völkergemeinschaft auf die Verbrechen des 11. September ist deshalb zu erhoffen, dass sie von Weisheit bestimmt ist – gemäß der Aussage, die das zentrale Deckengemälde hier im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses bestimmt: „Durch mich herrschen die Könige“ („per me reges regnant“), sagt die Weisheit (sapientia).
Wenn wir diesen Vorbehalt gelten lassen, werden wir auch nicht auf den 11. September den Beginn eines Kampfes der Kulturen datieren, sondern gemäß einer von Bundeskanzler Gerhard Schröder verwandten klugen Formulierung den Kampf um Kultur als die Aufgabe der Stunde ansehen. Kultur aber herrscht nur dort, wo Menschen sich als Personen anerkennen und sich in ihrer Verschiedenheit als Personen achten. Kultur hat ihre Grundlage stets in Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung und Achtung. Der Prüfstein dafür, ob solche Verhältnisse herrschen, war stets der Umgang mit dem Fremden, auch der Umgang mit dem Feind.
Heute müssen wir zu beidem bereit sein, zur Verteidigung wie zur Erneuerung unserer Werte. Zur Verteidigung unserer Werte gehört die kritische und gegebenenfalls auch kämpferische Auseinandersetzung mit denen, die eine solche Kultur der Anerkennung zum Einsturz bringen wollen; zu ihr gehört deshalb auch die kritische und gegebenenfalls auch kämpferische Auseinandersetzung mit einem Islamismus, den wir nicht aus einem Geist multikultureller Schönfärberei verharmlosen dürfen. Zur Erneuerung unserer Werte aber gehört, dass wir gerade heute bewusst eine Kultur der Anerkennung stärken, die auch den anderen, den Fremden einschließt. Deshalb sollten wir uns auch durch die Erschütterung dieser Wochen nicht dazu hinreißen lassen, dem Islam schlechterdings und im Ganzen die Teilhabe an Kultur und Zivilisation abzusprechen. Denn ein solches Urteil wäre weder historisch noch aktuell zu rechtfertigen. Es wäre kein Ausdruck der Stärke, sondern ein Akt der Kapitulation – eine Unterwerfung unter den Geist des Hasses, dessen Opfer wir beklagen. Deshalb geht es gerade heute darum, an einer Kultur der Anerkennung zu arbeiten, die auch den Fremden einbezieht.
II.
Noch in einer anderen Hinsicht hat die Frage nach dem christlichen Menschenbild eine Aktualität angenommen, die noch vor wenigen Monaten allenfalls zu ahnen war. Am 3. Mai dieses Jahres hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft in einer Revision ihrer bisherigen Position vorgeschlagen, in Deutschland die Forschung an embryonalen Stammzellen nicht nur freizugeben, sondern auch zu fördern. Damit steht die Frage im Raum, ob verbrauchende Forschung an und mit Embryonen mit dem uns bestimmenden Bild vom Menschen zu vereinbaren ist. Von wann an ist der Mensch ein Mensch? So wird gefragt, um zu klären, ob auch der menschliche Embryo in den frühen Stufen seiner Entwicklung am Schutz von Würde und Leben des Menschen teilhat. Wer darauf eine Antwort finden will, kommt nicht darum herum, tiefer zu bohren und auch zu fragen: „Was ist der Mensch?“ Schon der Psalmist hat so gefragt: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ Was ist der Mensch, den Gott sogar würdigt, sein Ansprechpartner, sein Gegenüber, sein Ebenbild zu sein? Wie wahren wir die Würde des Menschen auch im Fortschritt der Wissenschaften? Wie lösen wir den Konflikt zwischen Menschenwürde und Forschungsfreiheit? Bei dem Versuch, ihn zu lösen, darf man im übrigen nicht vergessen, dass sich auch in der Forschungsfreiheit ein Aspekt der Menschenwürde ausdrückt
Als öffentliche Debatte hat der Disput um diese Frage gerade erst begonnen. Wolfgang Frühwald – der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und heutige Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung – hat diese Kontroverse dahingehend charakterisiert, sie sei „zu einer Auseinandersetzung um ein christliches, zumindest kantianisches Menschenbild auf der einen Seite und ein szientistisch-sozialdarwinistisches Menschenbild auf der anderen Seite geworden.“ Frühwald hat sogar einen „Kulturkampf“ prophezeit, der so rasch nicht enden werde. Andere haben ihm vehement widersprochen – sowohl was die Beschreibung der Frontlinien als auch was die Charakterisierung der Debatte als „Kulturkampf“ betrifft. Doch bevor wir in dieser Auseinandersetzung eine eigene Stellung beziehen, ist es angezeigt zu klären, was denn mit dem „christlichen Menschenbild“ gemeint ist. Ich kann dies heute nur in einer bestimmten, damit auch in einer beschränkten Perspektive tun. Dabei wähle ich eine Perspektive, die durch den Ort unserer Zusammenkunft, durch Augsburg also vorgegeben ist.
III.
Denn um über das christliche Menschenbild nachzudenken, ist Augsburg ein sehr geeigneter Ort. Diese Stadt hat immer wieder vehemente Auseinandersetzungen wie heiß ersehnte Konsense über Grundlinien des christlichen Verständnisses vom Menschen erlebt. Augsburg ist ein wichtiger Austragungsort für den Streit der Konfessionen wie für das Bemühen um „versöhnte Verschiedenheit“. Mancher dieser Versuche misslang – wie schon im Jahr 1518 der Dialog zwischen dem damals 35jährigen Augustinermönch Martin Luther und dem als Vertreter der römischen Kurie fungierenden Kardinal Cajetan. Das Verständnis der Heiligen Schrift war das Thema dieses Disputs, der im Fuggerpalast stattfand. Hart fasste der Kardinal sein Ergebnis zusammen: „Geh, widerrufe entweder, oder komme mir nicht mehr unter die Augen zurück!“ Weil der Versuch der Verständigung misslang, nahm die Reformation ihren Lauf.
Nicht nur im Streit, sondern auch im Bemühen um Verständigung spielte Augsburg eine Schlüsselrolle. 1530 traten die Reichsstände hier in Augsburg zum Reichstag zusammen, um nicht nur über die Türkengefahr, sondern auch über die „Überwindung des Zwiespalts im heiligen Glauben“ zu beraten. Die evangelischen Reichsstände legten dafür ein Dokument vor, das nach ihrer Auffassung diesen Zwiespalt überwinden konnte. Die Augsburgische Konfession wurde entscheidend von Philipp Melanchthon geprägt, dem auf Verständigung und pädagogische Vermittlung ausgerichteten Partner des Reformators Martin Luther. Luther selbst war diesesmal, beim Reichstag von 1530, nicht in Augsburg, sondern beobachtete die Geschehnisse von der Coburg aus. Sorge befiel ihn, dass in dem Bemühen um Einheit die reformatorische Wahrheitserkenntnis abgeschwächt werden könnte. So mild wie Melanchthon könne er nicht reden, notierte er nicht ohne heimlichen Grimm. Die erhoffte Einheit wurde trotz Melanchthons Bemühen verfehlt; das vorgelegte Einheitsdokument, die Augsburgische Konfession von 1530, entwickelte sich stattdessen zum entscheidenden Bekenntnisdokument der evangelischen Kirchen.
Der Name Augsburgs – einer mehrheitlich katholischen Stadt – steht seitdem für eine Auffassung vom Menschen, nach welcher der Mensch „gerecht aus Glauben“ ist. „Ebenso lehren sie,“ – so heißt es in der Sprache des Augsburgischen Bekenntisses von 1530 – „dass die Menschen vor Gott nicht durch eigene Kräfte, Verdienste oder Werke gerechtfertigt werden können, sondern dass sie geschenkweise um Christi willen durch den Glauben gerechtfertigt werden, wenn sie glauben, dass sie in der Gnade aufgenommen und dass die Sünden vergeben werden um Christi willen, der durch seinen Tod für unsere Sünden Genugtuung geleistet hat. Diesen Glauben betrachtet Gott als vor ihm selbst geltende Gerechtigkeit.“
Durch diese Sätze hat Augsburg Weltgeschichte gemacht – durch das Beharren auf dem Grundsatz „Gerecht aus Glauben.“ Vor den Jahren der Reformation hatte die philosophische Anthropologie das Bild vom Menschen bestimmt. Man war davon überzeugt, ihn erschöpfend definiert zu haben, wenn man ihn als ein rationales, vernunftbegabtes Wesen betrachtete. Weil man seine Vernunftbegabung so hoch schätzte, war man davon überzeugt, dass er auch durch eigenes Handeln wie durch eigene Buße zu seinem Heil beitragen könne. Gottes Gerechtigkeit verstand man dabei als den Maßstab, an dem sich das menschliche Handeln ausrichten, als die Instanz, vor der es sich rechtfertigen und Gnade erflehen musste. Luther jedoch entdeckte, dass die biblische Rede von Gottes Gerechtigkeit eine Macht Gottes meint, die den Menschen erneuert, eine Gabe Gottes, die den Menschen in einen Stand versetzt, den er von sich aus gerade nicht erreichen kann.
Luthers Neuentdeckung der Rechtfertigung allein aus Gnade und allein im Glauben knüpfte unmittelbar an die Theologie des Apostels Paulus an. Sie führte unausweichlich zu einer tiefgreifenden Neudefinition dessen, was den Menschen zum Menschen macht. In einem kühnen Griff stellte Luther der Definition des Menschen als Vernunftwesen, als animal rationale, die andere Definition entgegensetzte, nach welcher der Mensch gerecht ist aus Glauben. Einer an der Substanz des Menschen orientierten Definition, welcher die Vernunftnatur des Menschen als ausreichendes Merkmal galt, trat eine Definition entgegen, die den Menschen als Beziehungswesen sah und ihn von den Beziehungen her definierte, die sein Leben bestimmen. Unter ihnen stand die Beziehung zu Gott obenan: eine Beziehung, die der Mensch nur verfehlen kann, solange er sich auf seine eigenen Kräfte verlässt, die aber gelingt, wenn er sich seine Anerkennung als Person von Gott schenken lässt.
In Augsburg wurde diese Auffassung vom Menschen feierlich bekräftigt. Am 25. Juni 1530 wurde der Text des reformatorischen Bekenntnisses im Kapitelsaal des bischöflichen Palastes feierlich verlesen; der Ort war gewählt worden, weil der Kaiser selbst, Karl V., im bischöflichen Palast Wohnung genommen hatte.
Was die Vertreter der evangelischen Reichsstände als Vorschlag zur Güte gedacht hatten, wirkte sich im Ergebnis eher als Verschärfung des ohnehin schwärenden Konflikts aus. Die katholische Seite ließ von dem Versuch nicht ab, das evangelische Bekenntnis zurückzudrängen; die evangelische Seite suchte sich dagegen zu behaupten. Kaiser Karl V. hatte in der Zeit seines größten Selbstbewusstseins, im Jahr 1548, die Vorstellung, es sei seine Aufgabe, „den Weg für eine konziliare Bereinigung des Glaubenszwiespalts“ freizukämpfen. Also tat er alles, was einem solchen Glaubensfrieden nach seiner Überzeugung dienen konnte. Wieder war Augsburg der Ort des Geschehens. Was Karl V. in Augsburg im Jahr 1548 zu erreichen versuchte, hieß „Interim“, weil der Kaiser eine Übergangsregelung erreichen wollte, die zumindest „für die Zwischenzeit“ (eben das Interim) ein friedliches Zusammenleben der Religionsstände sicherstellen sollte. Dafür entwickelte man eine eigene Theologie, die Vorstellung nämlich von einer doppelten Rechtfertigung des Menschen – durch den Glauben zunächst, durch die Liebe sodann. Die durch Christus vermittelte Gerechtigkeit des Glaubens und die daraufhin dem Menschen innewohnende Gerechtigkeit der Liebe lassen sich nicht voneinander trennen. So lautete die Überlegung, die hinter dem Augsburger Interim von 1548 stand. War das ein bloßer Formelkompromiss oder eine wirkliche Lösung des Streits?
Die Lehre von der doppelten Rechtfertigung ließ sich im Ernst nicht aufrechterhalten. Denn sie stellte göttliche Gnade und menschliches Handeln auf eine Stufe. Sie fand deshalb auch nicht allzu viele Anhänger. Doch hinter ihr stand eine durchaus berechtigte Frage. Diese bleibende Frage heißt, wie die unmittelbar wirkende göttliche Gerechtigkeit sich im Leben der Menschen auswirken kann. Menschliche Liebe zum Nächsten nicht als Konkurrenz, sondern als Folge der göttlichen Gnade – darum muss es gehen.
Sechs Reichstage fanden in jenen aufregenden Jahren zwischen 1518 und 1566 in Augsburg statt; aber nur einer – der Reichstag von 1555 – ist mit dem Prädikat ausgestattet, dass er den Frieden der Religionen, den Religionsfrieden zu befördern suchte. Freilich klammerte man bei der Vorbereitung dieses „Augsburger Religionsfriedens“ alle theologischen Auseinandersetzungen im vorhinein aus und beschränkte sich auf die Frage, wie denn der Frieden zwischen bekenntnisverschiedenen Territorien eines Reiches möglich sein könne. Der Grundsatz, durch den diese schwierige Frage beantwortet wurde, hieß: Wer die territoriale Herrschaftsgewalt innehat, bestimmt auch über den Bekenntnisstand (cuius regio eius religio).
Auf diese Weise bestätigte der Augsburger Religionsfrieden freilich de facto den Unfrieden in der Religion. Der Zwiespalt, der durch Luthers Neuentdeckung der paulinischen Rechtfertigungslehre entstanden war – der Mensch werde durch den Glauben gerechtfertigt, allein durch Gnade, ohne des Gesetzes Werke – wurde dadurch auf Dauer gestellt, dass den beiden daraus entstandenen Konfessionen ihre Berechtigung zuerkannt wurde – soweit die Landesherren sich zu der einen oder der anderen Konfesssion bekannten. Der Durchbruch zur Einsicht in die unüberbietbare Freiheit des menschlichen Gewissens fand einstweilen noch keine Entsprechung im institutionellen Umgang mit dem Konfessionskonflikt. Die konfessionsspaltenden Folgen aus der Neuentdeckung der Rechtfertigungslehre wurden gerade in Augsburg mit besonderem Nachdruck entdeckt und bekräftigt.
Nun ist dieselbe Stadt Augsburg in unserer eigenen Gegenwart – Gott sei Dank – zum Ort eines ökumenischen Neuaufbruchs geworden. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die am 31. Oktober 1999 hier unterzeichnet wurde, war bis zum letzten Augenblick umstritten. Und ihre unmittelbaren ökumenischen Auswirkungen dürfen nicht überschätzt werden; denn diese Wirkungen können sich erst entfalten, wenn die Kirchen in der wechselseitigen Anerkennung ihrer Ämter weiterkommen. Aber es bleibt ein historisches Datum, dass evangelische und katholische Kirche die Unterschiede in der Auffassung von der Rechtfertigung des Menschen durch Gott nicht mehr als kirchentrennend betrachten. Das ist vor zwei Jahren in Augsburg vollzogen und bestätigt worden. Es wurde „ein Grundkonsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre formuliert ..., in dessen Licht die entsprechenden Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts heute den Partner nicht mehr treffen.“
Deshalb aber können evangelische und katholische Christen gemeinsam für ein Bild vom Menschen eintreten, nach welchem die Würde der menschlichen Person nicht einfach eine am Menschen aufweisbare Qualität, ein Resultat seiner genetischen Ausstattung oder ein Ergebnis seines eigenen Handelns ist. Würde hat der Mensch darin, dass er von Gott zu seinem Ebenbild berufen ist. Würde hat er darin, dass Gott ihn an seiner Gerechtigkeit teilhaben lässt. Deshalb ist der Mensch mehr, als er selbst aus sich macht. Auch wenn wir seine genetische Ausstattung bis ins letzte entschlüsseln können, haben wir damit noch nicht den Menschen als Menschen erfasst. Weder mit seinen Taten noch mit seinen Untaten ist er einfach gleichzusetzen. Allein das macht seine Würde wirklich unantastbar. Aber es verpflichtet uns zugleich dazu, auch die Würde desjenigen noch zu respektieren, der gegen alle Würde verstoßen hat. Unschuldsvermutung und faires Verfahren auch gegenüber dem möglichen Straftäter sind praktische Konsequenzen aus der Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten. In gleicher Weise verpflichtet ein solches Menschenbild dazu, auch mit denjenigen Stufen des menschlichen Lebens respektvoll und achtsam umzugehen, in denen Menschen noch nicht, nicht mehr oder nur in eingeschränktem Maß die Möglichkeit haben, als Personen von ihrer Freiheit einen eigenständigen Gebrauch zu machen: mit den verschiedenen Stufen des vorgeburtlichen Lebens ebenso wie mit Behinderung, Krankheit und Alter.
IV.
Hubert Markl hat zu dem Streit um das Menschenbild in diesem Sommer einen bemerkenswerten und streitbaren Beitrag geleistet. In diesem Beitrag kehrt auf höchst eigentümliche Weise die Beobachtung wieder, dass der Mensch mehr ist, als er selbst aus sich macht. In der Betrachtungsweise des Biologen Markl formt sich diese Einsicht zu dem Satz, dass der Mensch mehr ist als dieses oder jenes biologische Faktum. Markl hält es für einen Ausdruck überzogener biologischer Allmachtsphantasien, wenn wir meinen, durch die Erkenntnis des biologischen oder des genetischen Substrats schon erfasst zu haben, was der Mensch als Person ist. Er warnt ausdrücklich davor, in einem „Jahr der Lebenswissenschaften“ einer solchen Überschätzung biologischer Erklärungsmöglichkeiten zu erliegen. „Menschlichkeit, Menschenwürde, ja recht eigentlich Menschsein – so Markl – ist mehr als dies (biologische) Faktum (des Homo sapiens), es ist eine kulturell-sozial begründete Attribution, die sich in der Begriffsbegründung zwar sehr wohl biologischer Fakten bedienen kann, ja muss, die sich aber in ihnen nicht erschöpft.“ Wie wahr! Das Verständnis des Menschen als einer mit Würde versehenen, mit Freiheit begabten, zur Verantwortung berufenen Person bezieht sich zwar auf ein biologisches Faktum, erschöpft sich aber nicht in ihm. Die Menschenwürde als „Attribution“ zu verstehen, ist freilich riskant. Von einer „Attribution“ könnte man allenfalls dann reden, wenn man konsequent der Versuchung wehrt, sie als eine „Selbstattribution“ zu verstehen. Der Mensch spricht sich die Menschenwürde nicht selbst zu; sie wird ihm auch nicht einfach von anderen Menschen zuerkannt; sie entsteht auch nicht erst durch eine staatliche Anerkennung. Denn sonst könnte der Mensch seine Würde auch selbst verwirken; sie könnte ihm von anderen entzogen werden; sie könnte ihm von Staats wegen aberkannt werden. All das wäre mit der Vorstellung von einer unantastbaren Menschenwürde unvereinbar. Menschenwürde ist erst dann in ihrer Radikalität verstanden, wenn wir uns trauen, in ihr eine göttliche Attribution zu sehen.
Deshalb aber können wir in Menschlichkeit und Menschenwürde auch nicht einfach kulturelle Interpretationsleistungen und Interpretationsmuster sehen, die einem willkürlichen Wandel ausgesetzt sind oder ausgeliefert werden dürfen. Zwar wandelt sich unsere Wahrnehmung der Menschenwürde und ihrer Reichweite; die Sprache verändert sich, in der wir von ihr sprechen. Doch das liegt daran, dass unsere Sprache immer nur annäherungsweise erfasst, was sie benennen soll; niemals ist sie imstande, sich des Bezeichneten vollständig zu bemächtigen. Deshalb ist es auch verkehrt, aus den kulturellen Wandlungen unserer Rede von der menschlichen Würde zu schließen, diese Würde selbst sei ohnehin nichts anderes als das leicht wandelbare Erzeugnis kultureller Deutungen. Verkehrt ist es deshalb erst recht, wenn die Anstrengung unternommen wird, unseren Begriff der menschlichen Würde zu relativieren, sobald uns das im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts gerade als wünschenswert erscheint.
Deshalb folge ich Hubert Markl dort nicht, wo er die Unterscheidung zwischen dem Menschen als Mitglied der Gattung Homo sapiens und dem Menschen als Person dazu benutzt, die ethischen Einwände gegen einen forschenden Verfügungsanspruch über den Menschen – auch in den frühen Stufen menschlicher Entwicklung – zu relativieren oder gar für irrelevant zu erklären. Dass wir den Menschen als Person von seiner genetischen Ausstattung unterscheiden, heißt nicht, dass diese genetische Ausstattung bedeutungslos wird. Dass wir im Menschen mehr sehen als die Summe seiner biologischen Merkmale, heißt auch nicht, dass das biologische Substrat seines Lebens bedeutungslos wäre. Das ist präzise genauso wenig der Fall, wie die Einsicht, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Taten oder Untaten, diese Taten oder Untaten selbst unerheblich macht.
Wer die unverfügbare Würde des Menschen achtet, wird deshalb auch den offenen Anfang des menschlichen Lebens respektieren. Er wird darauf verzichten, eine bestimmte Stufe in der Entwicklung menschlichen Lebens so auszuzeichnen, dass erst jenseits dieser Stufen eine Schutzwürdigkeit dieses Lebens beginnt. Er wird auch darauf verzichten, aus den faktischen Unterschieden unserer Schutzmöglichkeiten für werdendes menschliches Leben auf prinzipielle Unterschiede in der Schutzwürdigkeit dieses Lebens selbst zu schließen. Viel eher gilt: Unsere Schutzverpflichtung für menschliches Leben reicht so weit wie unsere Schutzmöglichkeiten. Deshalb haben wir gegenüber einem in der Petrischale erzeugten Embryo eine Schutzverpflichtung auch auf den frühen Stufen seiner Entwicklung, auf denen ein Embryo im Mutterleib unseren Schutzmöglichkeiten noch gänzlich entzogen wäre. Oder anders und schärfer gesagt: Daraus, dass natürlich erzeugte Embryonen vor der Einnistung in den Uterus unerkannt abgehen, lässt sich nicht schließen, dass wir künstlich erzeugte Embryonen beliebig für verbrauchende Forschung freigeben dürften.
An die Möglichkeiten der Stammzellenforschung, die sich gegenwärtig abzeichnen, knüpfen sich große Heilungshoffnungen und erhebliche wirtschaftliche Erwartungen. Das christliche Menschenbild bekräftigt den Versuch, solche Hoffnungen und Erwartungen zu erfüllen. Denn heilendes Handeln gehört zu den gewiesenen Antworten auf das Gebot, den Nächsten zu lieben. Aber das christliche Menschenbild verhilft zugleich zu dem notwendigen Abstand von der Vorstellung, der Mensch selbst lasse sich durch gentechnische Eingriffe und medizinische Heilerfolge perfektionieren. Der Mensch bleibt ein endliches und sterbliches Wesen, auf Gnade angewiesen, gerecht allein aus Glauben.
V.
Dass Menschen einander zum Leben helfen und dass sie einander keine Gewalt antun, das sind zwei große Hoffnungen, an denen der christliche Glaube unter allen Umständen festhält. In unerwarteter Weise ist in diesen Tagen der Friede fraglich geworden. Von Stunde zu Stunde wissen wir nicht, welche Antworten die Vereinigten Staaten von Amerika und auch wir selbst als ihre Verbündeten auf die Terrorangriffe vom 11. September finden werden. Zur Gemeinschaft der Christen haben immer Menschen gehört, die den unbedingten Respekt vor der Integrität des menschlichen Lebens darin zeichenhaft zum Ausdruck brachten, dass sie auf jede Gewalt verzichteten, auch auf die Gegengewalt der Notwehr und der Nothilfe. Aber die Kirchen sind auch immer wieder für einen Begriff des Pazifismus eingetreten, der diesen Begriff bei seinem Wortsinn nimmt. „Selig sind die Friedensstifter, sagt Jesus, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ In dieser Seligpreisung hat die Rede vom Pazifisten ihren ursprünglichen Ort. Dieser friedfertige Friedensstifter jedoch lässt sich nicht von der Frage leiten, wie er sich selbst mit reinen Händen aus der Affäre ziehen kann, Er setzt sich vielmehr der Frage aus, wie für seine Mitmenschen und für ihn selbst ein Leben frei von tötender Gewalt möglich ist. Dazu gehört aber auch die Suche nach Wegen, auf denen der tötenden Gewalt, die faktisch ausgeübt wird, ein Ende zu machen ist. Die zeichenhafte Gewaltlosigkeit und die Suche nach Wegen zur Beendigung der Gewalt gehören im Friedenshandeln der Christen zusammen. Sie können nur zusammen bleiben, wenn die eine wie die andere Handlungsweise vom Geist der Rache und der Vergeltung frei gehalten wird.
Zwei Herausforderungen unserer Tage nötigen in besonderer Weise dazu, neu nach der Gegenwartsbedeutung des christlichen Menschenbilds zu fragen. Mörderische Gewalt verweigert sich der Integrität menschlichen Lebens wie der Würde der menschlichen Person. Forschende Eingriffe, aus dem Interesse an der Steigerung menschlicher Lebensqualität geboren, enthalten die Gefahr in sich, dass menschliches Leben auf bestimmten Stufen seiner Entwicklung zur bloßen Sache gemacht wird. Den Menschen als Person zu achten und seine Personwürde zu wahren, ist das Gebot der Stunde. Um dieser Würde willen muss Gewalt beendet und ihr möglicher Nährboden trocken gelegt werden. Möglichen Allmachtsphantasien, die sich aus den Fortschritten der Forschung ergeben, müssen wir die nüchternen Seiten des christlichen Menschenbilds entgegenhalten. Wir Menschen bleiben endliche Wesen, sterblich und zum Bösen verführbar. Über dem allem aber können und sollten wir nicht vergessen, das menschliche Leben in seiner Schönheit zu loben, gekrönt – wie der Psalmist sagt – „mit Gnade und Barmherzigkeit.“