Globalisierung als Herausforderung für den Sozialstaat aus Sicht der Evangelischen Kirche
Manfred Kock
Hamburg im Rahmen des "Forum Michaelis"
Sehr verehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Es ist erst zwei Wochen her, dass ich zuletzt in Hamburg war, zur Trauerfeier für Dorothee Sölle. Ich möchte bewusst zu Beginn meines Beitrages an sie erinnern, die unsere Kirchen auf die Bedeutung unserer weltweiten Verbundenheit für unser materielles wie für unser spirituelles Leben hingewiesen hat. Sie hat die Folgen unseres wirtschaftlichen Handelns für die Menschen in Afrika, Lateinamerika und Asien beschrieben; sie hat auf die Bedeutung der Frömmigkeit für das Überleben der Menschen dort hingewiesen, und sie hat die Rolle der armen Kirchen für die Entwicklungsgeschichte der armen Länder des Südens beschrieben und damit als eine der ersten die Herausforderung benannt, die wir heute mit dem Phänomen der Globalität bzw. der Globalisierung in Verbindung bringen.
Man muss ihre Analyse nicht im einzelnen teilen. Aber sie hat wie wenige die Theologie, die Ökonomie und die Politik zusammengedacht und dabei die Verflochtenheit und die Folgen für künftige Generationen aufgezeigt. Sie hat damit moralische Verantwortung aufgezeigt und dabei um mehr Gerechtigkeit gekämpft. Dorothee Sölle hat innerhalb der Evangelischen Kirche kein offizielles Amt bekleidet. Aber ihre beharrliche Mahnungen haben sich innerhalb unserer Kirche ausgewirkt.
Neben der Wirtschaft, die am weltweiten Handel verdienen möchte - das ist in Hamburg eine Selbstverständlichkeit - , gibt es kaum einen anderen vergleichbar breiten Bereich unserer Gesellschaft, in dem so aufmerksam, über so viele Jahre kritisch auf internationale Zusammenhänge und Entwicklungen geblickt wird, wie in den christlichen Kirchen. Wir sind in der Gemeinschaft der Ökumene gerade durch wache und leidenschaftliche Menschen wie Dorothee Sölle so etwas wie moralische Mahner geworden.
Während die einen sagen: Ökonomie ist Alles, denn ohne sie ist alles nichts, haben die Kirchen daran erinnert, dass Ökonomie eben nicht alles ist.
In einem ersten Teil verweise ich darauf, dass Globalisierung nicht schicksalhaft über die Welt hereinbrechendes Phänomen ist, sondern von Menschen gestaltet wird.
Im zweiten Teil möchte ich Kriterien für eine gerechte Gestaltung der Weltwirtschaft benennen.
Im dritten Teil versuche ich Konsequenzen für die Gestaltung des Sozialstaates zu benennen.
I. Globalisierung ist kein Schicksal - Wirtschaft bedarf der Gestaltung
Die Freiheit der Ökonomie erfährt ihre Grenzen an der Frage nach weltweiter ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit.
Diese Thematik hat sich auch im staatlichen und zwischenstaatlichen Bereich in den letzten Jahrzehnten als dringlich entwickelt. Auf großen internationalen Konferenzen ist darüber verhandelt worden. Ich weise hin auf die UN-Konferenz für Nachhaltigkeit und Entwicklung in Johannesburg, die im Herbst des vergangenen Jahres stattfand. Nach den Medienberichten gab es dort Tumulte, besonders bei zwei Reden, die auf den ersten Blick kaum gegensätzlicher hätten sein können, auf den zweiten Blick aber doch gemeinsame Probleme deutlich werden lassen.
Die erste Rede war die des Präsidenten von Zimbabwe, Robert Mugabe. Sie wissen, dass Mugabe zur Zeit einer der schlimmsten Diktatoren Afrikas ist. Ich erlaube mir dieses Urteil, weil wir nicht erst seit der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1998 in Harare die Situation in Zimbabwe sehr aufmerksam beobachten. Zimbabwe könnte eigentlich ein reiches Land sein, aber es wurde durch die Politik von Mugabe in den Hunger getrieben. Mugabe verbat sich in seiner Rede jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes, insbesondere durch den britischen Premierminister, Tony Blair. Dieser hatte - in der Gemeinschaft der Europäischen Union - gegen die gesetzeswidrige Enteignung weißer Farmer in Zimbabwe protestiert und Sanktionen verhängt. Die Tumulte entstanden durch die lautstarke Zustimmung einiger anderer Delegierter aus Ländern des Südens, die den Druck auf Mugabe kritiklos als Einmischung aus dem Norden interpretierten und meinten, dagegen protestieren zu müssen.
Die zweite Rede, bei der es Tumulte gab, war die des US-amerikanischen Außenministers Powell. Nachdem die USA ihre Unterschrift unter das Kyoto-Protokoll zurückgezogen hatten, beanspruchte Powell nun auch in Fragen des Klimaschutzes und der Nachhaltigkeit eine Führungsrolle der USA. Die Tumulte wurden hauptsächlich ausgelöst durch uUS-amerikanische Aktivisten auf den Zuschauerrängen, die - enttäuscht von der amerikanischen Position - gegen Powells Rede lautstark protestierten.
Vor einigen Jahrzehnten, meine Damen und Herren, hätten wir eine Woche nach Ende einer solchen Konferenz in Südafrika kaum etwas von solchen Vorgängen gewusst und uns jedenfalls darauf eingestellt, noch ein paar Wochen warten zu müssen bis zur Ankunft des ersten Schiffes mit Augenzeugen des Geschehens. Heute erfahren wir alle Informationen über diese Konferenz fast gleichzeitig mit dem Ereignis. Wir sind elektronisch informiert, wie keine Generation zuvor. Allerdings - das ist die andere Seite dieser Informationsgeschwindigkeit und Fülle, ein paar Tage später ist alles wieder fast vergessen. Dieser doppelte Effekt – der blitzschnelle Transport von Informationen in alle Winkel der Erde und die beschleunigte Alterung von Nachrichten - ist ein Kennzeichen der Globalisierung. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen beschäftigen uns und bereiten uns Kopfzerbrechen. Aber es hat den Anschein, als ginge der Lauf der Dinge über uns alle hinweg, ohne dass ihre Brisanz sich ernsthaft beeinflussen ließe. Globalisierung hat zwei Gesichter: „Sie produziert Ungerechtigkeit und Ängste, sie bringt aber auch Vorteile, birgt Chancen und weckt Hoffnungen.“ (Kundgebung der Synode der EKD vom November 2001).
Wenn heute von Globalisierung gesprochen wird, wird darunter in aller Regel die wirtschaftliche Globalisierung verstanden und noch eingeschränkter die zunehmende Beherrschung aller Lebensbereiche durch ökonomische Fragen und speziell durch ökonomische Vorgänge, die sich auf internationaler Ebene abspielen und daher weitgehend anonym sind. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, als sei die Wirtschaft, als sei der freie Markt für manche zur neuen Religion geworden. Dem widerspreche ich schon deswegen, weil ich bekenne, dass es keinen anderen Gott gibt als den dreieinigen Gott, Vater, Sohn und Heiligen Geist. Ökonomie darf und kann auch gar nicht an die Stelle der Religion treten, die versucht, die Menschen ins Gespräch mit Gott zu bringen und darin zu halten. Einer solchen Vergötzung des angeblich freien Marktes widerspreche ich aber auch, weil der Markt nach meiner Überzeugung nur ein Mittel zum Zweck sein darf, an das ethische Kriterien anzulegen sind und das sogar nach ethischen Kriterien gestaltet werden kann und muss.
Ob "Globalisierung" katastrophale Folgen hat oder Chance für die Zukunft bedeutet, ist nicht eine Frage von Schicksal oder Naturgewalt. Globalisierungsfolgen sind immer direkte oder indirekte Folgen menschlichen Tuns und Lassens. Erfolg und Scheitern der Globalisierung sind eng an Bedingungen, Vereinbarungen und Verträge geknüpft, die auf politischem Wege zustande kommen. Dabei wirken Machtinteressen mit, die die Rahmenbedingungen nach partikularen Bedürfnissen zu gestalten suchen. Jedenfalls sind die Bedingungen wirtschaftlichen Handelns – wie eh und je - grundsätzlich politisch beeinflussbar. Umstritten ist nur - und auch das ist nicht neu - , wie viel Freiheit des Marktes und wie viel nationale und internationale politische Gestaltung notwendig sind, um möglichst vielen Menschen einen angemessenen Anteil am Erfolg zukommen zu lassen.
Gerade deutsche Unternehmer betonen immer wieder, dass neben dem hohen Ausbildungsstandard und der Leistungsfähigkeit der ökonomischen Akteure der soziale Frieden in unserem Land und die freiheitliche Verfassung unserer Gesellschaft wesentliche Standortvorteile sind. Es gehört zu den großen Hoffnungen, die sich mit der politischen Einigung und der Erweiterung der EU verbinden, dass dieser deutsche Standortvorteil sich ausweitet und dass auch bisher benachteiligte Regionen am Wachstum teilhaben. Warum sollte diese geschichtliche Erfahrung nicht auch Modell sein für die Gestaltung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen?
Gerade deutsche, und dass heißt in sehr vielen Fällen: exportorientierte Unternehmen betonen den Wettbewerb der Standorte auf dem internationalen Markt. Hier sehe ich die Gemeinsamkeit der beiden eingangs geschilderten Tumultszenen: Wir wissen uns heute über nationale Grenzen hinweg verbunden. Diese weltweite Verbundenheit hat nicht nur Elemente des Wettbewerbs, sie hat Elemente der Sorge um Recht und Gerechtigkeit, insbesondere den Schutz der Menschenrechte in anderen Ländern. Und sie kennt Elemente des Schutzes vor ungewollten Folgen des Klimawandels. Dieses globale Bewusstsein hat aber auch Elemente von Macht und von Ohnmacht, von Gefahrenabwehr und Sicherung der eigenen Interessen. All diese Elemente muss man in ihren Wechselwirkungen sehen, um zu einer nüchternen und realistischen Einschätzung der Globalisierungsfolgen zu kommen.
II. Globalisierung braucht Rahmenbedingungen, um menschendienlich gestaltet zu werden
Alle Menschen sind Gottes geliebte Kinder, darum gehört zu unserem globalen Bewusstsein auch das Element der gegenseitigen Verantwortung, der Sorge füreinander, des Einsatzes gegen Hunger und Not, Krankheit und Tod. Deswegen engagieren sich die Kirchen in Deutschland gerade auch mit Blick auf die internationalen Konsequenzen unseres Handelns in Fragen der Wirtschaftsethik.
Bereits vor 10 Jahren, nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der staatlichen Wirtschaft in den kommunistischen Ländern und zu einer Zeit, als das Wort Globalisierung in Deutschland noch weitgehend unbekannt war, haben sich verschiedene Gremien der EKD mit wirtschaftlichen Fragen auseinandergesetzt und eine Denkschrift mit dem Titel „Gemeinwohl und Eigennutz“ herausgegeben. Darin finden wir folgende Aussagen, die auch heute hilfreich sind:
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Wirtschaft ist kein verantwortungsfreier Raum. Auch in der Wirtschaft übernehmen Menschen Verantwortung für andere Menschen und für die Mitwelt. Dies ist zugleich Verantwortung vor Gott.
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Gewinnorientierung und Wettbewerb sind Instrumente, die dem eigentlichen Ziel der Güterversorgung und der Daseinssicherung dienen.
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Gewinnorientierung und Wettbewerb führen zu haushälterischem Handeln mit Geld und Gütern und zur Beschränkung von Macht, weil sich Produzenten und Handeltreibende notwendigerweise an den Bedürfnissen der Konsumenten orientieren müssen. Aber Gewinnstreben und Wettbewerb führen nicht aus sich selbst heraus zu sozialer Gerechtigkeit, denn zur Sündhaftigkeit des Menschen gehört die Neigung, sich von materiellen Gütern des Lebens, vom Glanz des Geldes verführen zu lassen. Das hat Folgen für die ökonomisch Schwachen und Auswirkungen auf die Lebensbedingungen kommender Generationen.
Gewinnorientierung und Wettbewerb, Geld und Eigentum sind nicht an sich sündhaft, sondern es ist der unrechte Gebrauch, der die Heilige Schrift vom Götzen Mammon sprechen läßt, als dem Symbol für diese sündhafte Welthaltung, die sich von materiellen Gütern verführen läßt.
Wo dem „freien Markt“ unbedingter Vorrang vor der Rücksicht auf soziale und ökologische Verträglichkeit zugemessen wird, wo Rüstungsexporte gefördert werden ohne Rücksicht auf die Verschärfung von Konflikten, wo Öl gefördert wird ohne Rücksicht auf die Kultur und die Natur, da wird der Markt und der wirtschaftliche Erfolg zum widergöttlichen Prinzip. Gott die Ehre zu geben heißt, der Übermacht der Ökonomie zu widerstehen und der Macht des Geldes Grenzen zu setzen.
Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht umgekehrt. Darum braucht sie einen Rahmen, der den ökonomischen Akteuren Orientierung bietet und der die Grenzen des Verträglichen aufzeigt. Ein solcher Rahmen ist nicht Beschränkung der Freiheit, sondern die notwendige Voraussetzung für erfolgreiches wirtschaftliches Handeln. Zu diesem Rahmen gehört das Zivilrecht, das Vertragsabschlüsse nach verbindlichen Kriterien sichert; dazu gehört das Zivilprozessrecht, dass die Durchsetzung berechtigter Forderungen ermöglicht; dazu gehört auch das internationale Vertragsrecht und internationale Vereinbarungen über Flug- und Schiffsverkehr, über Post- und Funkverbindungen; dazu gehört die Schulpflicht und die staatliche Ausbildungsordnung, die - bei allem was es daran zu verbessern gilt - qualifizierte Arbeitskräfte bereitstellt. Dazu gehören Infrastruktur, der Schutz des Besitzes und der Unversehrtheit der Person durch Polizei und Militär, dazu gehört letztendlich auch ein tragendes Wertesystem. Wer undifferenziert einen völlig freien Markt fordert, würde auch diese Regeln in Frage stellen. Nur mafiose und korrupte Systeme können das wollen. Staaten, in denen alle Ordnungen zusammengebrochen sind, bieten keine Strukturen und Regeln. Ausschließlich das organisierte Gangstertum profitiert davon, paradoxerweise weil es über durchsetzbare Regeln verfügt.
In diesem Zusammenhang muss auch betont werden, dass unser christliches Menschenbild sehr klar die Verführbarkeit des Menschen und die Macht der Sünde kennt - und das gilt für alle in Gesellschaft und Staat besondere Verantwortung Tragende. Wer eine Verringerung staatlicher Kontrollen fordert, muss sich jedenfalls auch mit den Phänomenen von Wirtschaftskriminalität und Korruption auseinandersetzen. So wenig aussagekräftig die im vorigen Jahr veröffentlichte "Rangliste" der Korruptionsanfälligkeit der Staaten im einzelnen sein mag, so ist doch deutlich, dass sich Deutschland in dieser Hinsicht verbessern kann und muss und dass staatliche und öffentliche Kontrollen dringend notwendig sind.
Nach meiner Überzeugung braucht die Wirtschaft auf vier Ebenen einen Rahmen:
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Den ersten Rahmen für unsere Wirtschaft setzt jeder Einzelne, durch individuelles Konsumverhalten, durch das Verhalten als Bürger und Christ. Wie will ich leben? Wie will ich arbeiten? Was ist mir wichtig? Wie viel Konsum brauche ich? Das sind die Fragen, die wir uns selbst beantworten müssen.
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Der zweite Rahmen wird durch die Gesellschaft gesetzt und durch die Werte, an denen sie ihr Zusammenleben ausrichtet. In Deutschland und in den meisten Ländern Europas war dies in Bezug auf die Wirtschaft die Balance von Freiheit und Gerechtigkeit, die zur Ausformung der sozialen Marktwirtschaft geführt hat.
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Den dritten Rahmen setzt die Politik, die durch Gesetze und Regeln diese Werte sichern hilft. Vor allem ist dabei auch das zu sichern, was jenseits der Tagesinteressen für kommende Generationen wichtig ist. Dieser dritte Rahmen kann heute nicht mehr nur im nationalstaatlichen Konsens und innerhalb des bestehenden Rechtssystems erarbeitet werden. Sinnvoll für ein globales wirtschaftliches Handeln ist ein breiter internationaler Konsens, auf dessen Basis verbindliche Regeln eines internationalen Wirtschaftsrechts gestellt werden müssen.
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Der vierte ist ein weltpolitischer: Alle politischen Bemühungen, die Globalisierungsrisiken auszuschalten, dürfen nicht von dem Interesse geleitet werden, Krisen ausschließlich in den entwickelten Industrieländern zu vermeiden. Sie dürfen auch nicht nur auf die Regionen der Erde konzentriert werden, die wegen ihrer Rohstoffe für die Industrienation interessant sind. Der weltpolitische Rahmen muss alle Kontinente einschließen und auf die Verbesserung der Lebensbedingungen gerade der Schwachen zielen.
Es gibt Indizien, dass dieser vierte Rahmen außer Acht bleibt: Terrorismus, der von konkurrierenden Machteliten gesteuert wird, bedient sich der globalen Unzufriedenheit; Flüchtlingsströme aus Kriegs- und Elendsgebieten sind nur notdürftig zu bremsen, oft unter Missachtung humanitärer Grundsätze; einflussreiche Machteliten in manchen Ländern bieten Unternehmen Anreize zu Investitionen mit dem Ködern fehlender Regeln für Umwelt und Sozialverantwortung.
In dem Gemeinsamen Wort von EKD und Deutscher Bischofskonferenz unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" (Gemeinsame Texte 9, S. 7) treten die Kirchen dafür ein, „dass Solidarität und Gerechtigkeit als entscheidende Maßstäbe einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Wirtschafts- und Sozialpolitik allgemeine Geltung erhalten.... Denn Solidarität und Gerechtigkeit gehören zum Herzstück jeder biblischen und christlichen Ethik." (S. 8)
Es gilt, dem Anliegen jener Gehör zu verschaffen, „die im wirtschaftlichen und politischen Kalkül leicht vergessen werden, weil sie sich selbst nicht wirksam artikulieren können: [ sc. dem Anliegen ] der Armen, Benachteiligten und Machtlosen, auch der kommenden Generationen und der stummen Kreatur." (S. 8)
Lassen Sie mich ausdrücklich betonen, dass es dabei nicht nur um das soziale Engagement Einzelner gehen kann, sondern um die Bereitstellung von Strukturen sozialer Hilfe.
III. Die bleibende Verantwortung des Sozialstaats und die verantwortliche Gestaltung globaler Wirtschaft
Diese genannten ethischen Kriterien für eine Ordnung der Wirtschaft gelten national wie international. Auch in unserem eigenen Land gibt es Benachteiligte und Ausgegrenzte, denen unsere besondere Aufmerksamkeit gelten muss. Das ist ja der Grundgedanke unseres Sozialstaates: Gemeinsam zu verhindern, dass am Rande der Gesellschaft Menschen ganz aus der Gemeinschaft herausfallen und in existenzbedrohende Armut stürzen. Dabei war auch immer klar, dass so ein Absturz auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus drohen kann, weswegen insbesondere die Sozialversicherungen die großen und elementaren Lebensrisiken, denen wir alle ausgesetzt sind, absichern wollen. Diese Aufgaben bleiben auch in Zeiten zunehmender wirtschaftlicher Internationalisierung bestehen und auch mit Blick auf unseren Sozialstaat birgt die Globalisierung Chancen und Risiken gleichermaßen. Die Chancen liegen in der verbesserten Möglichkeit, voneinander zu lernen und vielleicht im Blick auf andere Gesellschaften zu einer besseren Bewertung der Dimensionen unserer Probleme zu kommen. Die Risiken liegen in dem erhöhten Wettbewerb, insbesondere auch um Arbeitsplätze, der sicher nicht zu leugnen ist. Allerdings sollte dieser Wettbewerb auch nicht verabsolutiert werden. Es gibt selbstverständlich erhebliche Teile der Wirtschaft und viele Arbeitsplätze, die aus unterschiedlichen Gründen niemals ins Ausland verlegt werden können, und solange Menschen die Hauptakteure auf den Märkten sind, wird es auch deshalb immer Grenzen von Mobilität geben.
Der Veränderungsbedarf in unserem Sozialstaat ergibt sich aus den Bedingungen der Globalisierung. Auch aus unseren eigenen Entwicklungen ergibt sich der Bedarf, den Sozialstaat grundlegend zu reformieren, um ihn erhalten zu können. Ich nenne dabei nur die demographische Entwicklung. Der massive Rückgang der Zahl der Kinder in unserer Gesellschaft steht nicht in Verbindung zur Globalisierung. Dennoch führt diese Entwicklung dazu, dass unser Alterssicherungssystem reformiert werden muss, wenn es nicht zusammenbrechen soll. Es ist nicht Aufgabe der Evangelischen Kirche, sich zu einzelnen Vorschlägen zu äußern und insbesondere nicht, parteipolitisch Position zu beziehen, aber es scheint mir doch offensichtlich zu sein, dass hier ein dringender Reformbedarf zu sein scheint und dass diese Reformen auch Veränderungen auf der Ausgaben- oder Leistungsseite mit beinhalten müssen. Das kann man "Sozialabbau" nennen; aber nach meinem Verständnis ergibt sich aus der evangelischen Ethik kein Satz, nach der jede Veränderung eines einmal erreichten Lebens- oder gar Transferstandards ethisch verwerflich ist. Im Gegenteil: Wer mehr ausgibt, als er legitimerweise von denjenigen einfordern kann, die diese Beiträge erst einmal erarbeiten und dann abgeben müssen, verhält sich nicht sozial verantwortlich. Ganz besonders schockierend finde ich den - offenbar ja ernst gemeinten - Vorschlag, die ohnehin schon unerträgliche Staatsverschuldung jetzt noch weiter zu erhöhen und damit unseren Kindern unübersehbare Lasten aufzubürden, nur damit heute bei uns keiner der erreichten Standards in Frage gestellt werden muss.
Kirchen sind Anwälte der Schwachen und Armen. Deshalb wächst in den Kirchen und insbesondere in der ökumenischen Bewegung der Widerstand gegen eine Globalisierung, bei der die Freiheit des Marktes zur obersten Maxime geworden ist. Die kirchlichen Äußerungen stellen die Globalisierung in ihrer Gesamtheit nicht in Frage, gleichwohl gibt es ernstzunehmende Kritik insbesondere aus der kirchlichen Entwicklungsarbeit und der ökumenischen Partnerschaftsarbeit, die hier mehr Eindeutigkeit einfordert. Doch: Eine Rückkehr zu abgeschotteten nationalen Ökonomien wäre unsinnig, und sie zu fordern, ist unrealistisch. In den Auseinandersetzungen um Globalisierung muss es darum gehen, die Gewinner globaler wirtschaftlicher Freiheit durch nationalstaatliche und multinationale Regelungen dafür zu motivieren, angemessene Beiträge für ökologische Nachhaltigkeit und für mehr soziale Gerechtigkeit zu leisten.
Freilich werden die, die öffentlich lautstark für wirtschaftliche Liberalisierung und staatliche Deregulierung eintreten, mit unserem Protest rechnen müssen, wenn sie dort, wo ihnen internationale Konkurrenz droht, Schutzmassnahmen für eigene Produkte fordern oder verteidigen. Protektionismus jeder Art verdient Kritik, erst recht aber der gegenüber Importen aus den sogenannten Entwicklungsländern, die gleich mehrfach benachteiligt sind. Dabei würde die Wirtschaft sehr an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie ihr gesamtes Gewicht für fairere Handelsbedingungen für alle einsetzen würde.
Zwar gibt es theoretisch in der Zwischenzeit eine hohe Übereinstimmung in der Politik und auch in der Wirtschaft, dass die Globalisierung politischer Steuerung bedarf und eine Balance von sozialpolitischen, ökologischen und wirtschaftspolitischen Zielen angestrebt werden soll. Doch in der Realität passiert zu wenig: Die UN-Konferenz von Johannesburg hat die globalen Probleme zwar benannt, aber sich immer noch nicht auf verbindliches gemeinsames Handeln verständigt. Das hier sichtbar gewordene Glaubwürdigkeitsdefizit der Politik bestärkt jene Kritiker der Globalisierung, die längst eine Übermacht der privaten Wirtschaft gegenüber den parlamentarischen Instanzen ausgemacht haben. Aber es ist nicht nur die Übermacht der privaten Wirtschaft. Oft sind es auch die kurzfristigen Eigeninteressen nationaler Politik, die eine politische Steuerung der Globalisierung durch verbindliche internationale Vereinbarungen verhindern.
Politik muss vorhandene internationale Strukturen ausbauen und politische Rahmenbedingungen für weltweites wirtschaftliches Handeln so setzen, dass mehr Menschen von der Globalisierung profitieren können als bisher. Es geht darum, den globalen Markt durch ein Modell der sozialen Marktwirtschaft im Weltmaßstab zu qualifizieren, in dem Handel und Wirtschaft zu ihre Sozial- und Umweltverträglichkeit verpflichtet sind und demokratische Kontrolle unterliegen.
Mehr als andere Organisationen der Zivilgesellschaft haben die Kirchen durch ihre ökumenische Verbundenheit über Staatsgrenzen hinweg die Möglichkeit zur weltweiten Zusammenarbeit, die positive Globalisierungsziele verfolgt. Die Kirchen sind auf der Basis ihres gemeinsamen Glaubens in allen politischen Kontexten den Grundwerten der Solidarität verpflichtet, ebenso einer Kultur des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung. Dies ist ihr unverwechselbarer Beitrag für positives Verständnis von Globalisierung. Dieses baut auf einer christlichen Ethik auf, die die Schöpfung dem Zugriff vermeintlicher wirtschaftlicher Sachzwänge nicht preisgibt.
Dazu gibt es bereits viele Ansätze, z. B. durch den Fairen Handel, durch BROT FÜR DIE WELT, durch einen verantwortlichen Umgang mit Energie und mit dem Land, das Kirchen gehört, durch das Engagement für den zivilen Friedensdienst.
Ich wünsche mir, dass die unterschiedlichen Bewegungen und Ansätze zusammenwachsen. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung gehören zusammen, sind untrennbar miteinander verbunden, von welchem Ansatzpunkt aus auch sich Menschen dafür engagieren.
Mit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 haben wir deutlicher als zuvor erkannt, dass wir in einer Welt leben, in der Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Gerechtigkeit nur gemeinsam und für alle erreichbar sind -oder letztlich für keinen gesichert werden können.
Die Kirche verkündet die frohe Botschaft von der Befreiung des Menschen von Sünde und Verderben. Christen, die aus dieser befreienden Botschaft leben, arbeiten mit an der Fortsetzung des schöpferischen Handelns Gottes, das ja bekanntlich mit der Sabbathruhe des 7. Tages nicht abgeschlossen war, sondern weiterwirkt. Gott will die Welt nicht der Gewalt und dem Recht des Stärkeren überlassen, er will sie nicht kurzsichtigen menschlichen Interessen ausliefern, sondern als Anwalt des Lebens und des Friedens unserem Handeln neue Perspektiven aufzeigen, Wege aus den Sackgassen von Systemen, die nicht mehr dem Menschen dienen, sondern ihn versklaven. Gott liegt an unserer Freiheit. Wo immer uns Positives gelingt, ist es ein Zeichen für das Versprechen Gottes, dass der neue Himmel und die neue Erde ihre Strahlen vorauswerfen.