Suchet der Stadt Bestes
Andacht von Dr. Irmgard Schwaetzer zum Beginn der Tagung der Vollkonferenz der UEK
08. November 2013
Ein Statement auf der EKD-Synode 2011 hat bei mir Verwirrung gestiftet. Sie erinnern sich: die Synode mit dem Thema Mission. 3 Menschen waren eingeladen mit uns ihre Gedanken zum Glauben und zur Kirche zu teilen. Einer davon war Pavel Richter. Seine Erklärung (nachzulesen im Bericht von der Synode "Was hinderts, dass ich Christ werde", Seite 19/20) ließ sich zusammenfassen in der Aussage: Ich brauche Kirche für meinen Glauben, für mein Christsein nicht. Und er führte aus: "Aber Glaube und Kirche …bedeutet für mich in Berlin insbesondere Gottesdienst. Ich gehe wahnsinnig gern in Berlin in den Dom, weil es einfach großartige Predigten dort gibt und weil es anregend ist einem Gottesdienst beizuwohnen, auch weil das ein sehr schöner und erhebender Moment ist."
Das ließ eine Menge Fragen offen, die sich bei mir so zuspitzten: was ist die Aufgabe der Kirche in einer Groß Stadt wie Berlin. Dazu hat die EKD vor sechs Jahren eine Denkschrift verfasst "Gott in der Stadt", die sehr stark von der Parochialgemeinde her denkt: Angebote, Beteiligungsformen, Strukturfragen, also viel - wie wir inzwischen wissen - Beschäftigung mit uns selbst. Auch das war wichtig. Erlebt habe ich in den letzten Jahren in der Mitte von Berlin aber eher, wie gut es ist, sich auf die Stadt einzulassen. Und sofort fiel mir der Vers aus Jeremia 29,7 ein:
Suchet der Stadt Bestes, dahin ich Euch habe wegführen lassen und betet für sie zum HERRN, denn wenn´s ihr wohl geht, so geht's auch euch wohl.
Jeremia sitzt im zerstörten Jerusalem und schreibt einen Brief an die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die nach Babylon verschleppt wurden, und die Angst um den Fortbestand ihrer Religion haben. Er fordert sie auf sich - wie wir heute sagen würden - zu integrieren: baut Häuser und wohnt darin…nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter. Geht heraus aus der Enge eurer abgeschlossenen Gemeinschaft, nehmt das Leben inmitten der Babylonier an, auch wenn ihr noch so wenige seid.
Die Babylonier waren wohl bereit, die Juden aufzunehmen. Da gibt es in Deutschland vereinzelt andere Tendenzen, die sich nicht nur auf die christlichen Kirchen beziehen.
In Berlin-Kreuzberg sind religiöse Gruppen zu einer Bewerbung um den Ehrenamtspreis nicht zugelassen. Muslime dürfen ebenfalls in Kreuzberg nicht öffentlich zum Fastenbrechen einladen. Antisemitismus in Deutschland ist latent und offen vorhanden.
Zu diesen Ansätzen religiöser Intoleranz sagen wir "nein!" und tragen unsere Botschaft von der Gnade Gottes und der Liebe Christi in die Öffentlichkeit: mit der jährlichen Karfreitagsprozession vom Berliner Dom an 5 weiteren kirchlichen Orten vorbei zur St. Hedwigs-Kathedrale, dem Himmelfahrtsumzug zwischen dem Berliner Dom und der St. Marienkirche als Teil eines zwischen den beiden Kirchen geteilten Gottesdienstes, mit den Gottesdiensten zum Heiligen Abend und an Silvester im Hauptbahnhof durch die Stadtmission, mit St. Martins-Umzügen und Gedenkwegen.
Die erste Anweisung, die wir von Jeremia bekommen ist: integriert Euch, seid ein Teil dieser Stadt, damit ihr erfahrt, welches ihre Stärken und was ihre Probleme sind: Touristen und Neubürger, Mediaspree und Basketball, Arbeitsplätze und Ehrenamt, soziale Trennung in den Stadtteilen, arm und reich, gerade genug und immer zu wenig, Religionen und Weltanschauungen nebeneinander und gegeneinander, Glück und Not, Gewalt.
Das ist die Situation in der unsere Frage danach, was die Stadt für uns tun kann, klein wird, die Frage, was wir für die Stadt tun können, dagegen groß.
"Suchet der Stadt Bestes" heißt genauer übersetzt "Suchet den Frieden der Stadt" oder wie es oft heißt: "Suchet den Shalom der Stadt". Sucht das Heil, die Versöhnung, den Ausgleich, baut Brücken, baut mit an einem Leben in Respekt und Toleranz, Würde und Gerechtigkeit, denn Gottes Liebe gilt jedem einzelnen Menschen. Und ohne Respekt und Toleranz, Würde und Gerechtigkeit werden die Menschen mit ihren weit auseinander liegenden Erfahrungen, Überzeugungen und Interessen nicht friedlich zusammen leben.
Wir erhalten einen weiteren Auftrag: betet für sie zum HERRN und mit direktem Bezug dazu wird das Schicksal der Gemeinde mit dem der Stadt verknüpft.: denn wenn's ihr gut geht, wird es auch euch gut gehen.
"Betet für sie zum HERRN."
Spiegeln unsere Gottesdienste den Shalom der Stadt? Reden sie über das uns von Gott in Jesus Christus Zugesagte und Geschenkte und beziehen alle ein? Ermöglichen wir mit allem, was wir tun die Begegnung Gottes mit den Menschen?
Fünf Felder für die Mitarbeit am Shalom der Stadt kann ich mir heute vorstellen:
Die religiöse Deutung der Welt, die nicht nur in Krisen und Katastrophen erwartet und nachgefragt wird, die alle Gruppen der Stadt angeht. Wir fragen nach und mischen uns ein, auch in politische Entscheidungen.
Der Zugang zum Wort Gottes durch Kultur in traditioneller und innovativer Form, die den Blick auf alte Texte und Inhalte neu erfahrbar macht.
Diakonie, die sich dem Fremden, den Flüchtlingen, den Heimatlosen zuwendet und in der Gemeinde und im Kirchenkreis verankert ist.
Bildungsangebote über Kindergarten und Schule, um Chancen auf Teilhabe zu verbessern, Kindergottesdienst und Konfi-Unterricht bis zu Taufkursen und Glaubenskursen für Erwachsene, um die Beheimatung im Glauben zu fördern.
Kennenlernen, Dialog und Gebet mit anderen Religionen.
Jeder kennt x Beispiele für gelungene und gelingende Mitarbeit am Shalom der Stadt, jeder sieht aber auch die Möglichkeiten, die es noch zu erforschen gilt. Ich will nur exemplarisch etwas beitragen: die szenische Umsetzung der bekannten Oratorien (die Schöpfung, Johannespassion, Weihnachtsoratorium) eröffnet neue Zugänge zu altbekannten Texten; Stummfilme mit Orgelbegleitung und theologischer Einführung sind eine völlig neue Form der Verkündigung; am Buß- und Bettag Flüchtlinge im Gottesdienst von ihrer Erfahrung berichten zu lassen, eine Ausstellung ohne ästhetisierende Distanzierung dazu konfrontiert die "traditionelle" Gemeinde mit der Realität ohne den Zwischenschritt der Fernsehberichterstattung.
Selbst wenn die Beispiele jetzt aus meiner direkten Erfahrung am Berliner Dom waren: es gibt so viele andere. Mir scheint, der Weg ist richtig. Es ist auch kein Weg, der von der Parochie wegführt. Im Gegenteil. Ich will noch eine Geschichte anfügen. Eine Gemeinde war so weit erstarrt, dass sie kurz davor war sich selbst aufzugeben. Eine Gruppe Eltern ergriff die Initiative für die Gründung einer evangelischen Grundschule. Mit der Hilfe des Kirchenkreises und der evangelischen Schulstiftung gelang die Gründung. Die Schule führt die Kinder gerade im 4. Jahrgang. Und die Gemeinde wächst und lebt. Sie hat ihre Existenzberechtigung wieder gefunden. Die Suche nach dem Shalom der Stadt ist auch nichts nur für Metropolen wie Berlin - im Gegenteil. Noch der kleinste Ort bietet Anlass für die Frage: was können wir zum Shalom der Gemeinde beitragen.
So vieles ist in den letzten Jahren entstanden, weil es sich richtig anfühlte, und es stellte sich heraus, dass wir Menschen damit erreichen. Aus vielen Ideen und Initiativen in Gemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirchen wird das Bild von "Kirche in der Stadt" erweitert und bedarf wohl auch einer neuen theologischen Reflexion.
Schließen möchte ich mit einem Zitat von Dietrich Bonhoeffer, das für mich die Anfrage an uns auf den Punkt bringt: "Kirche muss an den weltlichen Aufgaben des Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt "für andere da zu sein"."