Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in theologischer Perspektive

08. November 2013

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Ich danke Ihnen herzlich für Ihre freundliche Einladung, mit Ihnen über Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in theologischer Perspektive zu sprechen. Vielleicht spreche ich jedoch lieber von "unserer theologischen Perspektive“. Denn es ist eine „story“, eine Geschichte der protestantischen Tradition und des protestantischen Glaubens, die wir teilen. Ich kann diese gemeinsame Geschichte natürlich nur aus der Perspektive des Südens erzählen. Aber es ist eine gemeinsame Geschichte des Nordens und des Südens, der südafrikanischen und der deutschen Kirchen.

Es ist jedoch keine Geschichte der Fakten und Zahlen, die ich Ihnen präsentieren will; auch keine Narrative der Zustandsbeschreibungen, Trends und Statistiken, oder möglicher Strategien oder Programme, die wir auf den Weg bringen könnten und sollten. Ich habe die Einladung so verstanden, dass ich uns nur an unsere gemeinsamen theologischen Perspektiven erinnern soll, da Sie ja in den kommenden Tagen mit Expertinnen und Experten über die konkreten und dringenden weiterführenden Fragen diskutieren werden.

So lassen Sie mich beginnen: Vor etwas mehr als 10 Jahren trafen sich reformierte Christen aus allen Ländern des Südlichen Afrika in Kitwe, Sambia. Von dort aus riefen sie die Weltgemeinschaft reformierter Kirchen auf, dreierlei zu tun: nämlich sich erstens der wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten in unserer Welt und der achtlosen Zerstörung unserer Schöpfung bewusst zu werden, zweitens in diesen Ungerechtigkeiten und in dieser Verwüstung Herausforderungen für unseren eigenen Glauben zu erkennen, und drittens darauf mit konkretem Handeln zu reagieren. Auch andere Glaubensgemeinschaften reagierten natürlich damals auf die genannten Herausforderungen: Lutheraner, Anglikaner, Katholiken und andere mehr; ja, auch die ökumenische Bewegung selbst. Jede Konfession tat dies auf ihre eigene Art, aus ihrer eigenen Perspektive heraus und mit ihren eigenen Ressourcen. Auch ihre Geschichten könnten selbstverständlich alle erzählt werden.

Die reformierte Geschichte begann natürlich nicht [erst und] plötzlich in Kitwe. Kitwe war nur ein weiterer Meilenstein in der kontinuierlichen Geschichte des Belhar-Bekenntnisses in Südafrika. Damals schrieen Gläubige im Namen des Evangeliums gegen die Abwesenheit von Einheit, Versöhnung und Gerechtigkeit in unserer Apartheid-Gesellschaft auf. Belhar wiederum war nur ein weiterer Moment in der kontinuierlichen Geschichte der Barmer Theologischen Erklärung, in der Gläubige ebenfalls im Namen des Evangeliums ihre Stimme erhoben. Und Barmen wiederum war nur ein weiterer Meilenstein auf dem kontinuierlichen Weg der Geschichte, die vor langer Zeit begann. Genau an diese Geschichte und ihre theologische Perspektive möchte ich uns erinnern - und wie in jeder anderen Geschichte muss man irgendwo anfangen.

Später dann in Debrecen, Ungarn, verband sich der Aufschrei aus Kitwe mit vielen anderen Stimmen, auch aus Ihren Reihen. Er wurde zum Aufruf an die gesamte reformierte Welt, ein processus confessionis, um ernsthaft die Integrität unseres eigenen Glaubens zu überprüfen und uns selbst zu fragen, ob unser Lippenbekenntnis nicht vielleicht dem widerspricht, was wir in unserem Herzen begehren und in unserem tagtäglichen Leben praktizieren. Wir fragten uns damals: Stehen die Ungerechtigkeiten, an denen wir vielleicht mitbeteiligt sind, und die Zerstörungen, die wir beinahe als selbstverständlich hinnehmen, nicht – vielleicht – im Widerspruch zu dem Evangelium, das wir bekennen? Der Aufruf von Debrecen führte zu vielen Geschichten der kritischen Selbstwahrnehmung, die Gläubige und Kirchen an vielen Orten veranlassten, ihre eigenen theologischen Perspektiven - von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit – in ihren unterschiedlichen Kontexten zu finden. In Accra, Ghana, flossen diese Ströme dann wiederum zusammen in ein öffentliches Zeugnis dessen, wer wir sind und was wir glauben. Es mündete in einen Aufruf zu einem gemeinsamen Bundesschluss für Gerechtigkeit – Gerechtigkeit sowohl in der Wirtschaft als auch für die Erde, da doch beide zusammen gehören, obwohl sie in der Praxis oft in einem Spannungsverhältnis zu einander stehen. Für die Teilnehmenden der Konferenz von Accra war der Besuch der Delegierten in der Sklavenburg von Elmina ein bewegender Moment. Wie sie später in ihrem Pastoralbrief an alle Mitgliedskirchen schreiben, war es sogar der entscheidende Moment. Denn dort machten sie eine äußerst wichtige Erfahrung, die ihre theologische Perspektive, und später ihre Erklärung zutiefst prägte. Sie sahen nämlich die unterirdischen Verliese, in denen die Sklaven gehalten wurden, bevor sie auf Schiffe in fremde Länder verfrachtet und in eine schreckliche Zukunft geworfen wurden. Direkt über ihnen befand sich der Raum, den der Gouverneur, die Kaufleute und die Soldaten als Kirche nutzten, und in dem noch heute die Worte von Psalm 132 an der Wand zu lesen sind. Sie stellten sich vor, wie reformierte Christen oben ihren Gott anbeteten, während direkt unter ihnen jene, die in Sklaverei verkauft worden waren, in ihren Ketten und dem Horror jener Verliese dahinsiechten. – So schrieben sie im Pastoralbrief. Diese Vision, diese theologische Perspektive forderte ihre Vorstellungskraft heraus. „Wie konnte der Glaube unserer Vorfahren so vom tagtäglichen Leben getrennt, ja abgespalten sein?“ fragten sie sich. – Und so begannen sie über sich selbst nachzudenken, auch über uns und unseresgleichen, über die Realitäten, die wir vielleicht nicht sehen und über die inhumanen und unverantwortlichen Konsequenzen unserer alltäglichen Handlungen, die wir vielleicht genauso für selbstverständlich halten, so wie jene es taten.

Unsere gemeinsame Geschichte seit Accra

Nach Accra verpflichteten sich Kirchen aus Deutschland und Südafrika zu einem gemeinsamen Weg der Reflektion über wirtschaftliche Ungerechtigkeiten und ökologische Zerstörung – auf der Basis des gemeinsamen Glaubens und eines tiefen, in gemeinsam Kämpfen um Gerechtigkeit gewachsenen Vertrauens. Diese Kirchen – auf unserer Seite die Uniting Reformed Church in Southern Africa - hielten dies für notwendig, weil sie weiterhin zusammen stehen wollten, aber sich aufgrund von scheinbar unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungen und Verständnissen herausgefordert fühlten. Diese Geschichte der gemeinsamen Reflexion nach Accra, die sich zwischen uns vom Süden und Norden abgespielt hat, möchte ich heute kurz erzählen, um uns so unsere gemeinsame theologische Perspektive ins Gedächtnis zu rufen, – bevor Sie weitermachen und über praktische Details diskutieren, was nun alles gemacht werden muss.

Mehrere Jahre haben wir eng zusammengearbeitet, haben zusammen von Expertinnen und Experten aus vielen Wissensgebieten – aus Politik, Wirtschaft, Sozial-, Rechts- und Naturwissenschaften – und mit unterschiedlichen Hintergründen gelernt. Viele Papiere wurden gelesen und diskutiert, viele Konsultationen und Konferenzen fanden statt, mehrere Bücher wurden veröffentlicht – und viele Diskussionen von Herz zu Herz haben uns geprägt und verwandelt.

Im Zentrum unserer Arbeit stand jedoch die Verpflichtung, eine theologische Perspektive zu finden und als Glaubende unser Seh-, Urteils- und Handlungsvermögen zu schärfen. Deshalb führte unsere Geschichte schließlich zu einer gemeinsamen Erklärung, die ihren Ausdruck in der Form eines Gebetes fand. Im Englischen nannten wir diese Erklärung „Dreaming a Different World Together“. Im Deutschen heißt sie „Gemeinsam für eine andere Welt“.

Gemeinsam für eine andere Welt

Das Gebet – oder die Erklärung – besteht aus vier Schritten

Die Zeichen unserer Zeit erkennen

Wenn wir aus Norden und des Süden vereint die Zeichen unserer Zeit unterscheiden, dann hören wir die Schreie der Menschen Gottes und sehen die Wunden der Schöpfung Gottes.

Zu den Schreien der Menschen Gottes erstellten wir eine lange Liste. Diese Schreie sind uns allen wohl bekannt und alle drehen sich um Fragen der Gerechtigkeit aus aller Welt. Es sind Erfahrungen der Unterdrückung, der Gewalt und der Vergewaltigung, Erfahrungen des Ausgegrenzt-Seins und der Marginalisierung - oft von Minderheiten. Wir hörten von Menschenhandel und moderner Sklavenhaltung, Erfahrungen von Verletzlichkeit und Vernachlässigung, von mangelnden Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, fehlender Sicherheit, medizinischer Versorgung und Würde. – Dies sind oft die Erfahrungen, die Frauen und Kinder machen. Es geht weiter um unfaire Handelsbedingungen, unkontrollierte und außer Kontrolle geratener Finanzen und eine immer tiefere Armut, um Verwüstungen durch den Militarismus, durch Gewalt und Krieg. – Die Liste ist endlos.

Zu den Wunden der Schöpfung Gottes erstellten wir wiederum eine Liste von gut bekannten Beispielen. Alle drehen sich um Fragen zur Nachhaltigkeit. Es sind Berichte über ökologische Zerstörungen, darunter auch Warnungen zum Klimawandel, Prophezeiungen von örtlichen Katastrophen und Gefahren für Luft und Meer. Berichte über Korallenriffe, die verloren gehen und Wüsten, die sich ausbreiten, über die Atmosphäre, die immer mehr verschmutzt wird und Schneemassen, die verschwinden. Berichte über den Mangel an reinem Wasser und dem Missbrauch von natürlichen Ressourcen. Kurzum, es handelt sich um Gefahren für die Zukunft unserer Kinder und unserer Kindeskinder. Auch hier ist die Liste wiederum überwältigend.

Unsere theologische Perspektive beginnt dort, wo wir sehen und hören und dort, wo wir die Augen nicht verschließen und uns nicht taub stellen. Viele von uns lernten von der deutschen Theologie, wie wichtig das Sehen für das christliche Leben ist. Bereits Dietrich Bonhoeffer lehrte uns, dass „das Sehen der Welt sub specie Christi das höchste theologische Handeln der Christen ist“, d.h. das Sehen der Realität im Licht des dreieinigen Gottes. Später lehrte uns Heinz Eduard Tödt, dass der erste Schritt einer ethischen Entscheidung darin bestehe, zu sehen – und das, was wir sehen, als moralische Herausforderungen zu akzeptieren. Gemeint sind damit Herausforderungen für unsere eigene Identität und Integrität und eben nicht nur technische Herausforderungen für andere – für Politikerinnen und Politiker, Wirtschaftsexpertinnen und -experten, Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler. Wenn wir es nicht schaffen, darauf zu reagieren, dann sagt unser Versagen auch etwas über uns als Personen aus. Manche behaupten, die protestantische Ethik beginne als Wahrnehmungsethik, als eine Ethik, die die Zeichen der Zeit erkennt und diese bewusst wahrnimmt.

Deshalb besteht der erste Schritt darin, dass wir die Schreie hören und die Wunden sehen – und von ihnen berührt werden. In unserem gemeinsamen Bericht schrieben wir, dass wir die Statistiken wahrnehmen, die unsere Zeit und unsere Realität beschreiben, und dass sie uns beschämen. Warum beschämen sie uns? Weil wir in vielem, das solche Schreie und solche Wunden verursacht, unsere eigene Beteiligung erkennen.

Hinter den Statistiken erkannten wir einen Geist – so sagten wir damals -, der über alle und alles herrschen will – und spielten dabei an auf Barths Beschreibung der herrenlosen Gewalten in seinen Ausführungen über das christliche Leben. Wir beschrieben diesen alles beherrschenden Geist als destruktives Selbstinteresse, ja Habgier – als die Anbetung von Geld, Gütern und Besitz. Wir kennzeichneten diesen Geist als einen, der keine mitfühlende Gerechtigkeit kennt – in Anspielung auf Belhar. Wir behaupteten, dass dieser Geist zu einem allumfassenden Lebensstil werden kann, der den Interessen der Mächtigen und Privilegierten in aller Welt dient, selbst auf Kosten von Mensch und Schöpfung. Wir sahen, dass selbst das Evangelium heute oft als ein Evangelium des Konsumismus gepredigt wird; dazu missbraucht, um diesen Geist unserer Zeit zu verbreiten und zu rechtfertigen. Wir schrieben, dass wir die verführende Macht des Götzendienstes hinter all dem spüren, die Gefahr, unsere eigene Seele zu verlieren.

Wir brandmarkten diesen Geist als Missachtung des Haushalts des Lebens und der Gaben der Schöpfung – als Missachtung von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Darum erhoben wir Klage - und in dieser Klage sahen wir uns vereint mit den Schreien aller leidenden Menschen und den Wunden der geschundenen Natur.

Getröstet durch unseren gemeinsamen Glauben

In einem zweiten Schritt schrieben wir, dass wir durch unseren gemeinsamen Glauben getröstet werden - durch den Glauben, den wir miteinander teilen und durch die gemeinsame Tradition, in der wir stehen, durch das Wort und den Geist Gottes.

Wir fühlten uns im Nachdenken über das, was wir sahen und hörten, durch viele zentrale Überzeugungen unseres Glaubens und unserer Tradition getröstet. So etwa durch das Wissen, dass unsere Welt Gott gehört, durch die Gewissheit, dass wir uns nicht selbst gehören und durch die Verheißungen, dass Jesus Christus der Herr ist. Seit Luther, Calvin und dem Heidelberger Katechismus gehören all diese Überzeugungen zum Zentrum unserer Glaubenstradition.

Ganz besonders wurden wir an unsere gemeinsamen Überzeugungen während der Zeiten früherer Kämpfe erinnert, d.h. an Barmen und Belhar. Mit Dankbarkeit dachten wir an diese früheren Zeugen, an ihre Auseinandersetzungen mit den Realitäten und dem Geist ihrer Zeit, an ihren Kampf mit den herrenlosen Gewalten und Ideologien ihrer Tage, an die Herausforderungen und Versuchungen ihrer Geschichte. Mit Barmen II erinnerten wir uns an die Stimmen unserer Mütter und Väter, die die falsche Lehre verwarfen, als gäbe es Bereiche in unserem Leben, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren gehören. Mit Belhar vor Augen erinnerten wir uns daran, dass Gott sich selbst in einer Welt der Ungerechtigkeit und Feindseligkeit offenbart hat – und zwar als der Gott, der sich in besonderer Weise der Machtlosen, der Armen und all jener annimmt, denen Unrecht geschehen ist. Dieser Gott ruft die Kirche auf, ihm zu folgen.

Wir sagten, dass wir durch diese Überzeugungen in einer gebrochenen Welt Trost finden. Sie inspirieren uns dazu, gemeinsam der Ideologie zu widerstehen, dass es keine Alternative gäbe. Gemeinsam wollen wir den Geist des Götzendienstes mit seiner Verachtung für den Haushalt des Lebens und den Gaben der Schöpfung verwerfen. Zusammenfassend besteht die zweite Einsicht unserer theologischen Perspektive darin, dass das, was wir sehen und hören, nicht das endgültige Wort ist, weil wir durch die Verheißungen unseres Glaubens getröstet werden.

Wir hören auf den Ruf an uns durch Wort und Geist

Drittens erklärten wir, dass wir gemeinsam den Anspruch des Evangeliums auf unser Leben heute hören. Mit Barmen II wissen wir, dass Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung ist und mit gleichem Ernst auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser gesamtes Leben. Deshalb empfangen wir durch ihn mit Freude die Befreiung zu einem freien und dankbaren Dienst an Gottes Geschöpfen in unserer gemeinsamen Welt.

Mit Hinweisen auf biblische Traditionen, auf Calvin und den Heidelberger Katechismus u. a. erinnerten wir uns daran, wie tief der Ruf zur Gerechtigkeit und zur Sorge um andere im Herzen unserer Tradition verankert ist.

Mit Blick auf Calvin z. B. erinnerten wir uns an seine Lehre: dass wir uns nicht selbst gehören, dass unser gesamtes Leben im Einüben der Gerechtigkeit besteht, dass wahre Frömmigkeit und Liebe zur Gerechtigkeit zusammen gehören, dass Gottesdienst und Gerechtigkeit nicht von einander getrennt werden können, dass Gott dort wahrhaftig erkannt wird, wo Menschlichkeit aufblüht, und dass wir - wie in einem Spiegel - in den Armen, Verachteten und Fremden gleichermaßen Gottes Ebenbild und unser eigenes Fleisch und Blut erkennen. Und wir verstehen all dies heute auch als Gottes Ruf an uns, in der tief zerteilten und ungerechten Welt unserer Tage. Wir erinnerten uns an Calvins Lehre, dass die Schöpfung den Schauplatz des Ruhmes Gottes darstellt. Sie bewegt uns zur Kontemplation und zum Staunen, zu Dankbarkeit und Respekt, sie führt uns zu guter Haushalterschaft, zu Berufung und Verantwortung. – Und wiederum verstanden wir in all diesem den Ruf an uns in unserer heutigen bedrohten Welt.

Zusammenfassend besteht der dritte Aspekt unserer theologischen Perspektive darin, dass diese Erinnerungen und dieser Anspruch des Evangeliums auf unser Leben uns herausfordert, bewegt und inspiriert.

Gemeinsam beten für eine andere Welt

Schließlich sagten wir, dass wir in Gemeinschaft miteinander den Traum von einer anderen Welt träumen. Gemeinsam sehnen wir uns nach der Herrschaft Christi, einer Herrschaft von Gerechtigkeit und Frieden. Wir sehnen uns nach einer Befreiung von diesen beunruhigenden Realitäten, von harschen Ungleichheiten, kultureller Dominanz, abgrundtiefen Disparitäten, von all dieser Ungerechtigkeit und Zerstörung. Wir träumen von Gottes Verheißungen. Deshalb schlossen wir mit einem Gebet für unsere gebrochene und bedrohte Welt.

Wir verpflichteten uns dazu, für Gottes Geschöpfe und seine Schöpfung Sorge zu tragen. Wir versprachen, mit all jenen zusammen zu arbeiten, die nach alternativen Wegen suchen - also mit allen, die spezielle Einsichten und Kenntnisse besitzen, die über besondere Gaben und Möglichkeiten verfügen, mit Menschen, die in Führungspositionen Verantwortung tragen.

Wir verpflichteten uns dazu, keine einfachen Antworten zu suchen, unsere Ohren nicht gegenüber den Geschichten der Leidenden zu verschließen und unser Denken nicht gegenüber den Erkenntnissen aus Naturwissenschaft und Forschung abzuschotten.

Wir verpflichteten uns dazu, unsere Augen nicht vor der Wirklichkeit um uns herum zuzumachen, unsere Faust nicht in selbstsüchtiger Habgier zu ballen, unser Herz nicht zu verschließen, wenn wir dem Leiden und den Wunden begegnen. Wir verpflichteten uns dazu, nicht unsere Hände in den Schoß zu legen, ohne das zu ändern, was in unserer Macht steht. Wir verpflichteten uns dazu, mit Energie achtsam umzugehen, Artenvielfalt zu schützen, der Verwüstung entgegen zu arbeiten, Wasser zu sparen, Umweltverschmutzung zu vermeiden, Gottes Werk zu respektieren, uns seiner Schöpfung zu erfreuen und das wunderbare Netz des Lebens zu feiern.

Kurzum, im Erträumen einer anderen Welt verpflichteten wir uns – verbunden mit einer Reihe von praktischen Vorschlägen - zu einer Spiritualität des Widerstandes und zu einem Lebensstil der mitfühlenden Gerechtigkeit.

Eine theologische Perspektive von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit?

In einer Rückschau schließe ich mit drei Bemerkungen:

Erstens: Um den Herausforderungen von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit wirksam zu begegnen, braucht es viel mehr Wissen, als die Theologie bieten, und weit mehr an Aktionen, als die Kirche leisten kann. Der christliche Glaube maßt sich nicht an, ein eigenes Konzept der Gerechtigkeit oder eine eigene Weisheit im richtigen Umgang mit der Schöpfung zu haben. - Im Rahmen unserer eigenen Ressourcen arbeiten wir mit einer kritischen Theorie der Gerechtigkeit, so Wolfgang Huber. Auch maßt sich die christliche Kirche nicht an, ihre eigenen Antworten zu haben, oder die Kraft, die Probleme eigenständig zu lösen. Als Kirchen sollten wir – angefangen bei den Theologen bis hin zu den Synoden - bescheiden bleiben. Wir sollten bereit sein zu lernen und darin angeleitet zu werden. Trotzdem sollten wir keinen Zweifel aufkommen lassen, dass uns diese Fragen nach Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit äußerst wichtig sind.

Denn dies sind Fragen, die das Herz unseres Glaubens angehen – und unsere Theologie sollte uns helfen, das zu verstehen und uns daran zu erinnern. Statistiken sollten uns besorgt machen. Tatsachen sollten uns herausfordern. Wir sollten die Schreie hören und die Wunden sehen. Wir sollten sie uns zu Herzen nehmen. Diese Geschichten sollten uns bewegen - und sie sollten sich mit unserer Verstrickung, ja vielleicht sogar Komplizenschaft, konfrontieren, uns herausfordern und uns in vielerlei Hinsicht beschämen. Wir sollten erkennen, wie tief der Geist unserer Zeit – der Geist der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung, der Habgier und des Konsums – zum Teil unseres Lebens geworden ist - und dies sollte uns zutiefst berühren und aufrütteln.

Wir stehen vor globalen und technischen Herausforderungen, die groß angelegte und systemische Antworten erfordern, die nach Alternativen und, wenn möglich, Lösungen rufen. Trotzdem sind diese Herausforderungen vielfach ortsgebunden, tragen menschliche Gesichter und müssen im kleinen Rahmen angegangen werden. All diese Strategien müssen deshalb auch im kleinen Rahmen und vor Ort akzeptiert, unterstützt und gelebt werden. Dazu brauchen sie den Zustimmung der Öffentlichkeit und die Veränderung unserer Kultur und unseres Lebensstils.

Dies alles klingt mehr nach einer Predigt als nach einer theologischen Argumentation. – Ich weiß! Aber in unserer Tradition wurden die Verkündigung und das Hören des Evangeliums immer hoch angesehen, als satis est. Der nordamerikanische reformierte Ethiker James Gustafson lehrt uns, dass das Narrative und die Prophetie zwei wichtige moralische Diskurse bleiben, zusätzlich zur philosophischen Analyse und zu strategischen Vorschlägen.

Zweitens beinhaltet unsere Glaubenstradition ein enormes Potential für das Engagement gegen ökonomische und soziale Ungerechtigkeiten und gegen die Missachtung ökologischer Zusammenhänge und deren Zerstörung. Unser gemeinsamer Studienprozess hat hier keine Zweifel aufkommen lassen. Tatsächlich wurden wir immer wieder überrascht von den Reichtümern unserer Glaubenstradition und unserer theologischen Ressourcen. So sprach zum Beispiel Matthias Freudenberg über die Ressourcen innerhalb der Reformation in Bezug auf wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit zu uns – von Luther bis zu Calvin über viele Bekenntnisdokumente bis hin zu Barmen. Er schloss mit drei „Gaben“, wie er sie nannte: der Gabe der Freiheit, der Gabe der Gerechtigkeit und der Gabe der Gemeinschaft (koinonia). Auch wir selbst kennen weitere solche Gaben. Bereits in Kitwe beriefen sich Christen aus dem südlichen Afrika in ihrer Kritik der Ungerechtigkeit auf Calvin.

Sicherlich ist es ein ambivalentes Erbe, eine vieldeutige Tradition, auch voll von gegenteiligen Erinnerungen, schmerzvollen Erinnerungen der Unterdrückung und Ausgrenzung, der Habgier und der Missachtung. Nicholas Wolterstorff, der nordamerikanische reformierte Philosoph, erzählt in bewegenden Worten, wie er sich zunehmend für Fragen der Gerechtigkeit interessierte, als er die Ausgrenzung und die Ungerechtigkeit sah, die vom reformierten Glauben in Südafrika ausgingen und gerechtfertigt wurden. Wir alle kennen viele ähnliche Geschichten über die Mitschuld der protestantischen Christenheit in so vielen Fällen von Ungerechtigkeit und selbstsüchtiger Eigenliebe.

Trotzdem gibt es zweifelsohne reiche und inspirierende Ressourcen, die allen offenstehen, die sich heute für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit einsetzen wollen. Wir können wirklich dankbar sein für die spirituellen Brunnen, aus denen wir immer noch trinken können. Wolterstorff selbst, sehr bekannt für seine Studien über Gerechtigkeit, schrieb einen Essay, der viele von uns in Südafrika inspirierte. Darin erklärt er, wie Calvins Ethik im Verständnis „der Wunden Gottes“ verankert ist, wie das Leiden seiner Geschöpfe Gott selbst leiden lässt. Es gibt inspirierende Ressourcen innerhalb unserer Glaubenstradition, die wir selbstkritisch gegen diese Tradition, ja sogar gegen uns selbst richten können.

Ich komme zum dritten und letzten Punkt: Vielleicht geschah es nicht von ungefähr, dass unser Studienprozess mit „einer gemeinsamen Erklärung“ endete, die in Form eines Gebetes geschrieben wurde. Ich weiß nicht, ob es hier politisch korrekt und theologisch akzeptabel ist, Karl Barth zu zitieren. Aber Sie werden wissen, wie wichtig seine Arbeit für uns in unserem Kampf gegen Ungerechtigkeit und für Einheit und Versöhnung war. In seiner Beschreibung des christlichen Lebens, in seinen posthum veröffentlichten letzten Vorlesungen über das Vater Unser, beschrieb er das christliche Leben als ein Rufen nach Gott und – umgekehrt – definierte er das Gebet als die Summe aller christlichen Ethik. In unserem Schreien zu Gott, unserem Vater, so schrieb er, ist alles enthalten: die Freiheit, die uns geschenkt wird wie auch der Gehorsam, zu dem wir berufen sind.

In all dem folgte er direkt dem Heidelberger Katechismus und indirekt auch Johannes Calvin. Gebet, Freiheit und das christliche Leben gehören untrennbar zusammen. Wenn wir von einer anderen Welt träumen und uns nach Gott sehnen, damit diese Welt durch Gottes Wort und Geist Wirklichkeit wird, erhalten wir gleichzeitig die Freiheit, die uns von den Zwängen der Wirklichkeit löst, und die Berufung, für diese alternative Welt Zeugen zu sein, in der sich Gerechtigkeit und Frieden küssen werden (Ps. 85,11). Wenn wir dieses Gebet beten, dann finden wir unsere richtige theologische Perspektive.

Aus dem Englischen übertragen von Elisabeth Frey und Klaus J. Burckhardt