Was uns wachsen lässt
Eröffnungspredigt zu Epheser 4, 15 und 16 von Regionalbischof Dr. Hans-Wilhelm Pietz, Görlitz
16. Mai 2008
Einem pfingstlichen Text gilt unsere Aufmerksamkeit jetzt – und einem Wort, das zur Barmer Theologischen Erklärung gehört: Epheser 4, Vers 15 und 16. Für den Pfingstmontag ist das einer der Predigttexte und vor die dritte Barmer These ist er vor 74 Jahren gesetzt worden:
„Lasset uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist.“
I
So bringt uns die Nähe zu Barmen, liebe Schwestern und Brüder, nicht nur die Aussicht auf einen festlichen Abend, sondern auch die Zumutung, die mit dem Stichwort „wachsen“ verbunden ist. Keine kleine Zumutung, zumal in unserem Kreis. Wir sind vor fünf Jahren ja aufgebrochen, um lange Gewachsenes zu verändern und unsere Strukturen zu verschlanken. Und die vergangenen Jahre haben dabei deutliche Veränderungen, Einsparungen und auch Verkleinerungen gebracht. Als wir im Oktober 2003 in Erfurt zu unserer ersten Vollkonferenz zusammen waren, da war noch gar nicht abzusehen, wie deutlich die Veränderung überlieferter Abläufe und Einrichtungen sein würde. Und jetzt stehen wir hier in Wuppertal nach dem Ende der Arbeit der so traditionsreichen Kirchenkanzlei in der Berliner Jebensstraße und nach über einem Jahr so intensiver Arbeit in der auf ein Minimum verkleinerten Amtsstelle im Rahmen des Verbindungsmodells unter der Aufforderung zum Wachsen. Geht denn das: Gewachsenes zu verändern – und zugleich zu wachsen?
Sicher: im Zusammenwachsen scheint das möglich zu sein. Und dankbar werden wir heute auf die Schritte eines Zusammenwachsens in der UEK und die Aufgaben eines weiteren Zusammenwachsens in der EKD blicken. Zusammenwachsen – das hilft schon etwas weiter. Unvergleichlich viel wirksamer ist es aber noch, wenn es möglich wird, nicht nur zusammenzuwachsen, sondern zusammen zu wachsen, gemeinsam wachsen auf den hin, der das Haupt ist.
Das jedenfalls ist der entscheidende Hinweis, den der Epheserbrief aus der Zahl der doch insgesamt recht wenigen neutestamentlichen Stellen zum Thema „wachsen“ und „Wachstum“ gibt. Und das ist der Impuls, der mit der Barmer Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche vom Mai 1934 und der Barmer Theologischen Erklärung in hervorragender Weise verbunden ist:
In der gemeinsamen Ausrichtung auf Jesus Christus, im gemeinsamen Wachstum auf ihn hin, eröffnete sich da sehr konkretes Zusammenwachsen. Ein Zusammenwachsen, das in der gemeinsamen Abwehr der die Kirche verwüstenden Irrtümer Ausdruck fand, das damit zugleich und ineins aber auch als konkrete Bekenntnisgemeinschaft und Eröffnung von Abendmahlsgemeinschaft der seit dem 16. Jahrhundert getrennten Evangelischen erfahren wurde.
Weil Jesus Christus das Haupt ist, weil von ihm alles zusammengefügt ist, können die, die zu ihm hin wachsen, nicht bei sich selber bleiben, bei ihren Erkenntnissen und bei ihren Hauptsätzen und ihren Gewohnheiten. Weil Jesus Christus selber der Herr der Abendmahlsfeier und ihre Gabe ist, so hieß es im Ergebnis solchen gemeinsamen Wachsens, weil er Geber und Gabe ist, rechtfertigen nicht unsere Unionen Abendmahlsgemeinschaft und rechtfertigen nicht unsere unterschiedlichen Abendmahlslehren die Abendmahlstrennung. Im Wachsen auf ihn hin wurde Zusammenwachsen geschenkt.
1937 hat das die Hallenser Bekenntnissynode von Barmen her dann eindrücklich so formuliert und bei der Rückschau auf den Weg und die Wirkung der Arnoldshainer Abendmahlsthesen haben wir das in den vergangenen Monaten sehr deutlich bedacht. Die Barmer Erklärung und auch jene Thesen wollten ja alles andere als eine Sammlung richtiger Sätze und Ausgangspunkt einer neuen Orthodoxie sein. Sie wollten wahrhaftig keine Jubiläumsfeiern. Hilfe und Aufbruch wollten und sollen sie sein zum immer neuen Wachsen auf Christus hin, Hilfe und Aufbruch für das Geschehen, das in unüberbietbarer Weise zusammenwachsen lässt.
II
Lasst uns wachsen ...
Was das heißt, was dazu gehört, liebe Schwestern und Brüder, will ich zuerst beschreiben, indem ich etwas von dem erinnere und erzähle, was mich selbst wachsen ließ. Nicht umsonst wählt der Epheserbrief ja ein Wort der Lebenserfahrung, um damit der Gemeinde Zuspruch zu geben. Aus den Erfahrungen des Wachsendürfens lassen sich Hinweise, Bilder und Gleichnisse für die Wirklichkeit der Gemeinde gewinnen.
Was ließ mich wachsen?
Wenn ich zurückdenke, entdecke ich das Getragen-Werden. Getragen zu werden: das lässt wachsen. Meine Mutter hat mich ausgetragen. Und dann hat sie mich auf ihren Armen getragen. Und etwas später dann hat mich mein Vater auf seinen Schultern getragen.
Bei ihm war das etwas Besonderes: Aus dem Krieg war er mit einem zerschossenen Knie herausgekommen. Er konnte nicht mit uns Kindern auf dem Boden hocken. Er konnte mit uns nicht dem Ball hinterher rennen. Aber er konnte uns auf den Wegen, die uns schwer fielen, auf die Schultern nehmen und tragen. Da wurden wir richtig groß. Und das tat so gut. Das Erleben solchen Getragenseins, von der Mutter, vom Vater getragen zu sein, das ließ mich groß werden.
Und Zutrauen hat mich wachsen lassen. Gewagtes und aufgenommenes Zutrauen. Aufgewachsen bin ich ja im alten Berliner Missionshaus. Der große Garten hatte eine hohe Mauer: Darinnen war es herrlich grün – und draußen voller Abenteuer. Deshalb sollten wir drinnen bleiben. Und deshalb mussten wir unbedingt nach draußen. Eines Tages, so erzählt die Familiengeschichte, trifft die Mutter mich und die Reihe der Freunde draußen vor der Gartenmauer. Frage:“Wer hat euch das erlaubt?“ Antwort: „Der Anführer meiner Bande“. Verdutzte zweite Frage: „Und wer ist der Anführer deiner Bande?“ Antwort: „Na ich.“
Zutrauen hat mich wachsen lassen. Und das Durchstehen von Herausforderungen. Es ließ uns dazu wachsen, nicht alles mitzumachen, was Macht und Ideologie vorgaben. Ja, die notwendigen Auseinandersetzungen, die lassen wachsen. Manchmal sind sie so groß und einschneidend – und manchmal begegnen sie uns als der kleine Sieg, nicht einfach geschwiegen zu haben, sich nicht einfach angepasst zuhaben: Vor 40 Jahren, im Frühjahr 1968, als die zweite DDR-Verfassung durch eine Volksabstimmung bejubelt und proklamiert werden sollte, da mussten wir mit unseren Schulklassen durch die Straßen ziehen. Ein großes Transparent wurde vorangetragen: „Wir Berliner, das ist klar, sagen zur Verfassung JA“. Der Elfjährige hatte sich an seinen Bleistift zwei Reißzwecken gesteckt und einen kleinen Zettel früher Reimkunst darauf befestigt: „Wir Berliner, Groß und Klein, sagen zur Verfassung NEIN“. - Eine so kleine, fast skurrile Geschichte – und doch eine Wachstumsgeschichte.
Die Erfahrung: Ich bin nicht allein, es gibt viele, die so glauben und leben – auch diese Erfahrung hat wachsen lassen. Die Vorbilder, die wir hatten und die Freunde an unserer Seite.
Später dann, als ich schon groß geworden war, durfte ich noch einmal über mich hinauskommen: In der Gemeinde haben mich andere wissen lassen: Ich muss, ich darf, ich brauche nicht alles allein zu machen. Jede, jeder, hat eine eigene Geschichte. Jede, jeder hat besondere Gaben, deren Miteinander so belebend ist.
Und noch eins: Gute, tragende Begegnungen waren es, Begegnungen, durch die es besser ging, - die haben bei mir eine Erwartung geweckt: dass die nicht enden, dass die nie enden, dass es immer noch einmal so eine Begegnung geben wird, die mir hilft und in der ich da sein darf. Und diese Erwartung, die hat mich wachsen lassen, die lässt mich wachsen.
III
Was dazu gehört, in allen Stücken auf den hin zu wachsen, der das Haupt ist, Christus, was dazu gehört, liebe Schwestern und Brüder, das darf von solchen Erfahrungen her gefüllt und gesagt werden:
Die Freude daran, getragen zu werden, die lässt so wachsen: auf ihn hin wachsen. In der Kathedrale von Chartres habe ich das einmal so gesehen: die Evangelisten auf dem Rücken der Propheten. Ganz groß die Propheten – und auf ihren Schultern Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. „Wir sind Zwerge auf den Rücken von Riesen.“ Auf den Schultern der Propheten sind sie zu Christus hin gewachsen.
Wenn wir nachher in Nachbarschaft zur Neuen Bergischen Synagoge in Barmen zusammensein werden, dann werden wir solcher Gabe und solcher Aufgabe ganz nahe sein: getragen und verwurzelt zu sein in der Weisung und in der Verbindung zu Gottes Eigentumsvolk.
In solcher Verbindung wachsen wir auf Christus hin. Und wer das heute sagt, erinnert daran ja nicht nur, weil solche Überlegungen vor 74 Jahren in Barmen nicht ausdrücklich gemacht wurden, sondern vor allem deshalb, weil es unser Auftrag und unsere Not ist, uns von Gottes Weisung tragen zu lassen.
Getragenwerden lässt wachsen. Und so viel Zutrauen gehört zum Wachstum auf Christus hin: geschenktes und aufgenommenes Zutrauen in die Wege und Verhaltensweisen der anderen. Auf Christus hin zu wachsen, das bedeutet ja nicht, dass alle an einen Pflanzstock gebunden werden, wo von Zeit zu Zeit auch noch kräftig nachgezurrt wird, sondern, freie und gemeinsame Ausrichtung auf das Haupt hin. Da wächst manches in merkwürdigen Bewegungen und in merkwürdigen Formen. Wo es aber zum Haupt hinwächst, sich in allem auf Christus hin ausrichtet und an diese Richtung erinnern lässt, da bleibt das Zeichen des Reichtums und der Fülle bei ihm.
In solchem Zutrauen wachsen wir – und in den notwendigen Auseinandersetzungen. Wo wir den Stimmen widersprechen, die dem Fremden das Recht rauben und Angst schüren vor dem Nachbarn, da wachsen wir auf Christus hin. Eben wie in den Erfahrungen: ich bin nicht allein; und: ich brauche auch nicht alles allein zu machen. Wo wir vor unseren Problemen die Nöte dieser Welt sehen und uns ihnen stellen, da wachsen wir auf Christus hin.
Die Langsamkeit und Skepsis, mit der gegenwärtig die Spendenaktionen für die Zehntausende von Opfern der Naturkatastrophen anlaufen, stellt uns ja noch einmal vor die Aufgabe, dafür einzutreten, dass wir zur Hilfe bestimmt sind, abgeben können – über uns selber hinauskommen können. Wir brauchen nach manchen selbstgemachten Infragestellungen der Effizienz von Hilfsorganisationen und in den Hemmnissen, die dabei durch ideologische Vorbehalte entstehen, eine neue Wachheit für das, wozu wir gerufen sind.
Wachsam sein - und immer noch etwas erwarten: Immer noch etwas von IHM erwarten; IHN immer noch erwarten: das lässt auf ihn hinwachsen.
IV
Ein wesentliches Anliegen der Barmer Theologischen Erklärung und insbesondere ihrer dritten These, darauf gilt es jetzt zum Schluss doch hinzuweisen, liegt hier: als Kirche im Vertrauen auf sein gegenwärtiges Handeln und in Erwartung seiner Erscheinung zu leben.
Eben das war ja auf dem Feld der kirchlichen Irrtümer, denen die Barmer Erklärung wehrt, weggefallen. Eben dieser Platz seines gegenwärtigen Handelns und der lebendigen Erwartung seiner Erscheinung war da leergeräumt und durch andere Mächte und Gewalten besetzt worden.
Eine Kirche, die nichts mehr erwartet, die nichts mehr von IHM erwartet, die IHN nicht mehr erwartet, wird im leichteren Fall zu einer nörgelnden und von Nörgelei zersetzten Kirche – im schlimmen Fall zu einer Kirche, die ihr Heil, die das Heil in den so oder so ausgerichteten Ideologien sucht. Gegen so eine Kirche und so eine Kirchengestalt ist Barmen III gerichtet: zumal gegen eine solche Kirchengestalt, die jenen zentralen Platz des Handelns und der Erwartung Jesu Christi unter der Proklamation einer missionarischen Kirche mit Ideologie besetzt hatte.
Hinter der dritten Barmer These steht ja ein Streit um die Weise, in der die christliche Kirche eine missionarische Kirche ist: Wird sie missionarisch, indem sie aufhört, von IHM zu erzählen, vom Ereignis seiner Gegenwart und der Erwartung seiner Zukunft? Wird sie missionarisch, indem sie ganz andere Ereignisse und Erwartungen in den Mittelpunkt stellt? Kommt sie den Menschen missionarisch nahe, indem sie von der Gegenwart und Zukunft Jesu Christi schweigt? Wird sie missionarisch, indem da an die Stelle Jesu Christi etwa die Werte treten, durch deren Vermittlung das Dasein der Kirche anscheinend Plausibilität erhalten kann?
Der die Barmer Erklärung begleitende Vortrag von Hans Asmussen lässt noch heute erkennen, dass das Bekenntnis eine Zuspitzung und Entscheidung eben an dieser Stelle geben wollte: „Es muss die Kirche Kirche bleiben, sonst kann sie nicht missionarisch wirken“, heißt es da ganz pointiert.
Seinem Handeln in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist Raum geben, von der Erwartung seiner Erscheinung Zeugnis geben, auf ihn als das Haupt hin wachsen, ja: das sind Erkennungszeichen einer missionarischen Kirche.
In dankbarer Direktheit erzählt sie seine Geschichte, feiert sie seine Gegenwart, ruft sie: Komm, Herr Jesus.
Aber auch in respektvoller Indirektheit kann und wird sie von ihm Zeugnis geben und seinen Platz nicht unbesetzt lassen - geben wir von ihm Zeugnis, lassen wir seinen Platz nicht unbesetzt: In allen Stücken auf ihn hin wachsen: Das lässt ja keinen Bereich aus. Das überlässt ja keinen Bereich der Aussichtslosigkeit oder dem Selbstlauf. Und jede schlichte Aufmerksamkeit, die einen anderen nicht sich selbst überlasst, jeder Brückenschlag, der verbindet, jedes Wort, das aufrichtet, jeder Widerspruch, der Leben schützen hilft, zeigt an, dass wir mit seiner Gegenwart und Zukunft rechnen.
Lasst uns so auf IHN hin wachsen, Schwestern und Brüder, dann wird ein unüberbietbares Zusammenwachsen gelingen: Hier, dicht bei uns – und weit über uns hinaus.
Durch IHN ist ja der ganze Leib zusammengefügt. Amen.
Amen.