Eine Botschaft „an alles Volk“ - Der missionarische Auftrag evangelischer Kirchen in Europa

Vortrag von Michael Bünker im Rahmen des Empfanges der Evangelischen Kirche im Rheinland aus Anlass der Vollkonferenz

16. Mai 2008

Vorbemerkung

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!
Zuerst sage ich ein herzliches Dankeschön dass Sie mich eingeladen haben, hier heute Abend einen Vortrag zu halten. Es ist dies für mich eine Ehre und Auszeichnung, gerade an diesem geschichtsträchtigen Ort zu Ihnen sprechen zu können. Aber der Ort ist es nicht allein, auch der Zeitpunkt will uns etwas sagen: Wenn ich es richtig gelesen habe, wird die nächste Ihrer Vollkonferenzen bereits unter anderen, neuen Bedingungen und in geänderter Form stattfinden. So verbindet sich die Veränderung in die Zukunft hinein mit der Rückbesinnung auf das, was Bestand hat.

In Österreich haben wir derzeit eine ganze Fülle solcher zukunftsgewandter Gedenkanlässe. Vor 70 Jahren kam es im März 1938 zum sogenannten „Anschluss“, im November desselben Jahres zum Pogrom, das in Wien und anderen Städten Österreichs besonders brutal ausfiel. Dass vor 60 Jahren der Staat Israel gegründet wurde hängt ursächlich mit dieser Geschichte zusammen. Dazu finden in den ersten Maitagen jeden Jahres eine Reihe von Befreiungsfeiern statt, für eine davon habe ich mein Kommen zugesagt. Es ist die Befreiungsfeier des Außenlagers Gunskirchen des KZ Mauthausen. Gunskirchen war eine besonders schlimme Einrichtung, das Lager wurde zur Endstation für zehntausende ungarischer Jüdinnen und Juden, die noch in den letzten Kriegstagen in bis heute weitgehend verdrängten Todesmärschen durch unser Land getrieben wurden. Es war mir ein Anliegen, meine Zusage einzuhalten und deshalb bitte ich Sie um Ihr Verständnis, dass ich nur heute Abend hier sein kann.

Einleitung

Nun aber zum Thema meines Vortrages. Eine Botschaft an alles Volk – der missionarische Auftrag evangelischer Kirchen in Europa. Ich spreche zu Ihnen als Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Die GEKE ist eine wachsende Gemeinschaft. Sowohl im Inneren, durch die Vertiefung der Kirchengemeinschaft, wie auch nach außen durch die Zunahme ihrer Mitgliedskirchen. Dass sie das sein kann, verdankt sie auch der UEK und ich will die Gelegenheit gerne nützen, mich bei Ihnen und allen, die dafür Verantwortung tragen, herzlich zu bedanken. Zweitens spreche ich zu Ihnen als Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich. Lassen Sie mich ganz kurz einige Worte zu dieser Kirche sagen, die in vielerlei Hinsichten eine typische GEKE-Kirche, vor allem für den Raum Südosteuropa ist. Unsere Kirche erlebt seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen leichten, aber kontinuierlichen Schwund an Mitgliedern. Dramatischer vielleicht als diese zahlenmäßige Entwicklung ist die demographische Perspektive, nach der sich unsere Kirche nicht etwa gesund, sondern bestenfalls alt schrumpft. Derzeit gibt es rund 350 Tausend Evangelische bei 8 Millionen Gesamtbevölkerung. Dazu kommen tiefgreifende Veränderungen in der religiösen Landschaft Österreichs. Am schnellsten und stärksten wächst der Bevölkerungsteil, der ohne religiöses Bekenntnis ist. Dahinter kann sich mancherlei verbergen, freikirchlicher Fundamentalismus ebenso wie Gewohnheitsatheismus oder bewusst agnostische Einstellungen. In jüngerer Zeit erleben wir, wie alle europäischen Gesellschaften, eine deutliche Zunahme der Muslime. Mittlerweile gehen seriöse Schätzungen davon aus, dass es in Österreich rund 410 Tausend sind, also schon ein ganzes Stück mehr als Evangelische. Alle damit zusammenhängenden Probleme brauche ich hier nicht erwähnen, es hieße Eulen nach Athen oder ein Minarett nach Wien tragen. Was vielleicht weniger bekannt ist, ist die Tatsache, dass in Österreich die Zahl der orthodoxen ChristInnen ebenfalls stark im Wachsen begriffen ist. Auch sie haben nach der Einschätzung ihres Metropoliten die Grenze der 400 Tausend bereits überschritten. Gleichzeitig ist der Gesamtanteil der römisch-katholischen Bevölkerung gesunken, in Wien sogar auf unter 50%, aber insgesamt bleibt Österreich ein mehrheitlich katholisches Land. Pluralisierung und Individualisierung von Religion bei gleichzeitiger Verstärkung der „Kirchenkrise“, also Institutionenmisstrauen, Bindungsverlust, Austrittsneigung, prägen die Situation. Ähnliche Entwicklungen ließen sich leicht für andere evangelische Kirchen in ganz Europa ausmachen. Kein Wunder also, dass vermehrt vom missionarischen Auftrag der Kirche gesprochen wird, ja generell von der missionarischen Kirche als einer Selbstdefinition und –festlegung, von der man sich wenn schon nicht einen Weg aus der Krise, so doch einen gangbaren Weg in der Krise verspricht.

Die Vorschläge sind vielfältig, manchmal schon nicht mehr überschaubar. Es braucht die „Pluralität des Missionarischen“ und das „Missionarische im Plural“, wie es Michael Herbst formulierte. Den einen Zauberschlüssel gibt es nicht, „es braucht viele Antworten, also einen ganzen Schlüsselbund von Maßnahmen.“ (Michal Herbst: Sagen, was wir glauben, PTH 95 ,2006, 127)  Das kann und darf natürlich nicht so verstanden werden, als würde es genügen, die Angebotspalette zu erweitern und die Betriebstemperatur etwa durch gesteigerten Mitteleinsatz zu erhöhen. Ich sage es für unsere Kirche: Sie wird ihren missionarischen Auftrag nicht wahrnehmen, wenn das etwas Zusätzliches zu allem, was jetzt schon gemacht wird und geschieht, bedeuten würde. Das wäre eine Überforderung der Strukturen, vor allem aber der Menschen nach innen und durch das more of the same eine Produktion von Langeweile nach außen.
Der Einstieg in die Lebensweise einer missionarischen Kirche unter den heutigen Bedingungen beginnt für mich, davon bin ich überzeugt, mit dem Aufhören. Manchmal habe ich den Eindruck, wir machen zuviel und tun zuwenig. Marianne Gronemeyer hat jüngst unter dem Titel „Genug ist genug“ (Marianne Gronemeyer: Genug ist genug. Über die Kunst ds Aufhörens, Darmstadt 2008)  die Kunst des Aufhörens beschrieben. Sie zitiert Ingeborg Bachmann, die in einem Interview gefragt wurde, ob sie nicht deshalb mit dem Schreiben von Gedichten aufgehört hätte, weil sie sich zu schwach fühlte. Ingeborg Bachmann antwortete: „Aufhören ist eine Stärke, nicht eine Schwäche.“ Es meint nicht nur ablassen, abwenden, losreißen, sondern ganz und konzentriert zuwenden, hinhören, ganz Ohr sein. Um ein Aufhören in diesem Sinn, ein Aufhören auf Jesus Christus, dem einen Wort Gottes, geht es mir in den folgenden Überlegungen.

Lassen Sie mich dazu drei Gedankengänge einbringen. Ich greife dazu auf die Barmer Theologische Erklärung (BTE) von 1934, speziell auf die 6.These zurück und schlage von dort eine Brücke zur Studie „Evangelisch evangelisieren“ der GEKE von 2006. Der Zusammenhang zwischen Barmen und Leuenberg ist klar gegeben, auch wenn er nicht immer im Vordergrund steht. Für Ulrich Körtner gehört Leuenberg zu den „Fernwirkungen“ von Barmen (mit den Arnoldshainer Thesen als ganz entscheidender Schritt auf dem Weg) und umgekehrt lässt sich die BTE als gemeinsames Zeugnis in einer besonders herausfordernden geschichtlichen Situation verstehen, somit als Ausdruck der vertieften Kirchengemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen.

Um Ihnen das Mitgehen auf dem Weg zu erleichtern, werde ich eine Wienerische Note ins Ganze einbringen, genauer eine gastronomische.  Ich werde vom Schanigarten, vom Kaffeehaus und vom Heurigen sprechen. Als nämlich im März die Wiener Schanigartensaison eröffnet wurde, hat Bürgermeister Michael Häupl laut Zeitungsbericht erwähnt, dass für die Wiener Gastronomie  das Beisel mit dem Schanigarten, das Kaffeehaus und der Heurige typisch seien. Er nannte das die Wiener gastronomische Dreifaltigkeit.
Also lade ich zuerst ein, dass wir im Schanigarten einkehren.

Der Schanigarten, oder: von der Innen- zur Außenorientierung

Der Schanigarten ist jener Teil des Wiener Gasthauses, des Beisls, der sich auf der Straße, auf dem Gehsteig, dem Trottoir, abspielt. Der Name kommt vom französischen Vornamen Jean, das war der gängige Name des hochherrschaftlichen Dieners in den alten Komödien, und Jean ist auf Wienerisch Schani. Der Schanigarten ist also gleichsam das Gegenteil des lauschigen, ruhigen, aber abgeschlossenen Gastgartens im Innenhof, der oft nur über Irrwege und Stufen, also durchaus nicht barrierefrei zu erreichen ist. Der Schanigarten hingegen ist sichtbar, der Zugang absolut niederschwellig. Dafür ist der Schanigarten oft laut, manchmal auch schmutzig, was aber seiner Beliebtheit durchaus nicht abträglich ist. Übertragen auf die Kirche plädiert das Bild des Schanigartens zuerst einmal für die Öffnung nach draußen. „Die große Gefahr der Kirche in aller Welt ist die Gefahr des Introvertiertseins.“, zitiert Eberhard Busch (Eberhard Busch: Die Barnmer Thesen 1934 - 2004, Göttingen 2004)  Hendrikus Berkhof zu Barmen 6: „Sobald sie dieser Haltung verfällt, entzieht sie sich schändlich ihrer Berufung, teilzunehmen an der großen Bewegung von dem Einen zum Universum; sie wird statisch und dergestalt ungehorsam.“ Dabei sucht sich Kirche den Kontext und die Bedingungen nicht aus. Sie verfehlt aber ihren Auftrag, wenn sie – aus welchen Gründen immer – innerhalb der eigenen Mauern bleibt, im vertrauten Innenhof der gemeinsam praktizierten Christlichkeit.

Kirche kann nicht anders als missionarisch sein. Mission gehört zu ihrem Wesen. These 6 der BTE spricht von diesem Auftrag der Kirche, ich zitiere die Affirmation:

„Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“

Der Theologische Ausschuss der EKU weist in seinem Kommentar eindringlich auf den ungewöhnlichen Umstand hin, dass hier von dem einen Auftrag der Kirche (Singular) die Rede ist. Im Unterschied dazu wäre heute durchgängig von einer großen Vielzahl von Aufträgen (Plural) die Rede, die in der kirchlichen Praxis nicht selten dadurch gegeneinander ausgespielt werden, dass einer zum „eigentlichen“ Auftrag erhoben wird. „Die verblüffend einfache und eindeutige ‚evangelische Wahrheit’ der 6. Barmer These ist in der Vielgestalt und Unübersichtlichkeit heutiger kirchlicher Praxis ein Ruf zur Konzentration. Es gibt nur einen Auftrag der Kirche, und in der Wahrnehmung dieses Auftrages hat sie ihre Freiheit.“ (Das eine Wort Gottes - Botschaft für alle. Barmen I und VI, Band 2, Votum de Theologischn Ausschusses der EU, hg. von Wilhelm Hüffmeier, Gütersloh 1993, 96) 
Dieser eine Auftrag ist der Kirche vorgegeben. Er ist unabhängig von allen aktuellen Herausforderungen, unabhängig von allen Erwartungen an die Kirche. Nur weil und solange er alledem vorausgeht und davon unabhängig ist, nur dann begründet dieser eine Auftrag die Freiheit der Kirche. Darum ist es 1934 gegangen. Heute geht es darum, diese Freiheit aus dem einen Auftrag auch gegenüber allen Interessen geltend zu machen, in erster Linie gegenüber dem kirchlichen Eigeninteresse an Selbsterhalt und Selbstvermehrung.

So setzt auch die GEKE-Studie (GEKE, Hg., Evangelisch evanglisieren - Perspektiven für Kirchen in Europa, Wien 2007)   mit der Einsicht ein, dass das Evangelium kein „Privatbesitz“ der Kirche ist, sondern ihr zur Weitergabe an alle Menschen anvertraut ist (1.1). Daraus ergibt sich, dass die Kirche nicht das eigentliche Subjekt der Mission ist und dass ein mögliches Wachsen der Kirche nicht das erstrangige oder womöglich sogar einzige Ziel von Mission ist. Vielmehr ist es Gott, der Dreieinige, der sich selbst den Menschen zuwendet. In diese Selbstzuwendung Gottes an die Menschen ist die Kirche als Instrument hinein genommen. Ziel der Mission ist nicht kirchliches Interesse, sondern die Versöhnung, das Heilwerden der Menschen, die von Gott her immer schon geschehen sind. Kirche ist in die missio Dei  hinein genommen und wird von Gott dazu befähigt und ermutigt. Das ist die Verheißung, die die kritische Selbstprüfung einschließt.

Das Wiener Kaffeehaus, oder: Wasser des Lebens gibt es gratis

Bekanntlich hat das Wiener Kaffeehaus mehrere existenzbedrohende Krisen souverän bestanden. Zuerst die Espressokrise der siebziger Jahre und jüngst die Attacke der Coffeeshops aus den USA. Aus allen Krisen ist die Institution „Kaffeehaus“ gestärkt hervorgegangen. Ein Kennzeichen dieser gastronomischen Besonderheit ist der Umstand, dass die Gäste sitzen bleiben können solange sie wollen, und das auch ohne jede weitere Konsumation. Das ist auch notwendig, wie soll man sonst durch den Berg an Zeitungen kommen, der zu jedem guten Kaffeehaus gehört? Aber man sitzt nicht am Trockenen. Der Kellner, manchmal der Ober selbst, bringt von Zeit zu Zeit ein frisches Glas Wasser an den Tisch. Dieses Wasser wird nicht verrechnet. Der Kellner mag es gern und freundlich tun, oder unwillig und grantig – meistens unwillig und grantig – er tut es. Das gratis Wasser dient mir nun als kleiner Hinweis darauf, dass wir das Grundlegende, das Elementare, das Leben letztlich und erstlich aus Gnade erhalten.

Mission gehört zum Wesen der Kirche. Unvergesslich und oft zitiert: Eberhard Jüngels Bild vom Ein- und Ausatmen, vorgetragen im Rahmen der EKD Synode im Jahr 1999. Durch Mission hat die Kirche Teil an Wort und Werk Christi. Die 6. und letzte These der BTE spannt den Bogen zurück zur ersten These. Diese Konzentration in allem Vielerlei auf das Eine ergibt sich aus der „Botschaft von der freien Gnade Gottes“, die die Kirche der Welt schuldig ist.
„Barmen VI rückt mit der Botschaft von der freien Gnade Gottes die Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Glauben in das Zentrum des Verkündigungsauftrages der Kirche. Die Kirche schuldet der Welt das Zeugnis der alles verwandelnden und erneuernden Gnade Gottes, die die menschliche Selbstverschlossenheit aufbricht und Menschen aus dem tödlichen Kreislauf ihres individuellen und kollektiven Tat- und Wirkzwangs befreit. Das geschieht, indem sie sie auf den Boden der göttlichen Versöhnungstat stellt.“ (Das eine Wort Gottes, s. Anm.4, 103)

Das Missionsdokument der GEKE beschreibt die Rechtfertigungsbotschaft als zentralen Inhalt der „missionalen Gesamtausrichtung“ der Kirche. Zugleich ist dieser Inhalt der kritische Maßstab für die verschiedenen missionarischen und evangelistischen Ansätze und Aktivitäten, der Maßstab, an dem sich der Plural des Missionarischen messen lassen muss, wenn es sich um eine legitime Vielfalt und nicht um unverbundene oder womöglich sogar miteinander konkurrierende oder einander wechselseitig ausschließende Ansätze handelt. Alle haben sich zu relativieren auf diesen Inhalt, auf die Botschaft von der freien Gnade Gottes hin.
Diese kritische Sichtung ist eine ständige Aufgabe. Sie ist notwendig, weil nur eine missionale Grundausrichtung, die die freie Gnade Gottes, die allem menschlichen Tun und Reden immer voraus ist, zum Inhalt hat, dem einen Auftrag der Kirche entspricht. Aus dieser Grundausrichtung spricht die Studie der GEKE mehrmals davon, dass nicht vorschnell Grenzen gezogen werden dürfen, vielmehr – davon ist wiederholt die Rede – geht es um das Öffnen von Räumen. „Die reformatorischen Kirchen in Europa wollen Raum bieten, in dem im Kontext von Pluralisierung und Individualisierung persönliche Orientierung und Weitergabe der befreienden Botschaft geschehen kann.“ (2.12) Es geht der Studie um die Entsprechung von Form und Inhalt. Inhalt ist die Botschaft von der befreienden Gnade, also muss auch die Verkündigung dieser Botschaft befreiend sein. Die Lebenssituation des heutigen Menschen im Kontext Europas verlangt nach dieser befreienden Botschaft. Denn der Mensch, der vom rechtfertigenden Gott, vom barmherzigen Richter nichts weiß, verleugnet entweder seine Schuld oder bleibt krankhaft auf sie fixiert, etwa in persönlichen Versagensängsten, er stellt „sich und seinesgleichen unter das Dauertribunal wechselseitiger Beschuldigungen und Anklagen.“ (A.a.O., 104)   Deshalb profiliert die GEKE-Studie die zum Glauben rufende Evangelisierung in evangelischer Hinsicht als Eröffnung von Wegen in eine neue Freiheit der Kinder Gottes (2.12), Gottes Annahme des Menschen aus reiner Liebe und Gnade erlöst sie aus dem „Gotteskomplex“, alles selbst und perfekt machen zu müssen. Deshalb nimmt Evangelisierung - evangelisch verstanden - die Menschen in ihrer Geschöpflichkeit ernst (2.14) und würdigt sie, so wie sie sind (2.15). Vor allem ist für sie ausgeschlossen, Gericht zu halten über Glauben und Unglauben. „Alle Menschen bleiben deswegen auf Glauben weckende Verkündigung angewiesen“ (2.13).
Nun ist es aber Zeit, das Kaffeehaus zu verlassen und die letzte Station unserer Rundreise aufzusuchen, den Heurigen.

Der Heurige, oder: alles Volk im Himmel wie auf Erden

Der Wiener Heurige ist ein Kind der Aufklärungszeit. Es war Kaiser Joseph II, dem wir Evangelische die Toleranz verdanken, der es den Weinbauern erlaubte, den eigenen Wein des jeweiligen Erntejahres (also den heurigen Wein, daher der Name) auszuschenken. Dazu gibt es bis heute einfache Lokale, als Sitzgelegenheit eher kommunikative Bänke als individualisierende Stühle (von daher den Kirchen ähnlich) und noch einige andere Produkte, aber eben nicht alle. Der Heurige ist konzentriert auf Wein. Das stellte damals - 1784 - und heute eine gewisse Demokratisierung der Gastronomie dar. Zum Heurigen darf jede/r und geht jede/r. Wer sparen muss, nimmt sich die Jause von zu Hause mit, das ist erlaubt. In vielen Wienerliedern ist der Heurige ein Bild für den Himmel.

Die 6. These der BTE spricht von der Botschaft, die auszurichten ist „an alles Volk“. Worauf das damals zielte, erhellt aus einer Reaktion, die Paul Althaus in einem Brief an Landesbischof Meiser noch vor der Synode in Barmen gab: „Da kommt ja  nun glücklich das Wort Volk vor: ‚an alles Volk’. (Hans lein, Das Evangelöium nach Lukas. Kritisch-exegetischer Kom,mentar über das Neue Testament Bd. 1/3, Göttingen 2003, 241) Aber es ist nicht der Begriff in unserem Sinne, … sondern eine unverbindliche biblische Wendung.“ (A.a.O., 91)  Bischof Meiser stimmte zu: „Über die volksgemäße Verkündigung schweigt die Erklärung.“
Da wurde richtig gesehen. Denn sowohl im Bibelzitat aus 2.Tim 2,9 („Das Wort Gottes ist nicht gebunden“), wie in den Verwerfungssätzen und in der doppelten Apostrophierung der Freiheit in der Affirmation widerspricht die 6. These jeder Anpassung der Verkündigung an das deutsche Volkstum. Der Irrtum, der da verworfen wird, besteht nicht darin, dass das Evangelium sich nicht in jedem Kontext, in jeder Sprache und jedem Volk Gehör verschaffen könnte, sondern darin, dass die Kirche sich nicht dem Wort unterordnet, sondern dass sie das Wort Gottes ihren eigenen Absichten und Interessen unterwirft. Das war 1934 ein brennender und politisch höchst brisanter Konflikt. In der Sache ist die Herausforderung auch heute gegeben, etwa in der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kontext. Die GEKE-Studie schreibt dazu: „Das Evangelium wurde und wird immer durch die Kontexte mitbestimmt, in die es hinein spricht. Umgekehrt lassen sich die Kontexte nicht neutral erfassen. Als Christen sehen und deuten wir sie immer schon im Licht des Evangeliums“ (1.6).
Nun ist doch auffällig, dass die 6. These mit der Formulierung „an alles Volk“ einen biblischen Bezug herstellt, der für die biblische Fundierung der missionalen Grundausrichtung der Kirche eher ungewöhnlich ist und der näheren Betrachtung Wert ist.
„An alles Volk“ ist Zitat aus Lukas 2,10 (pas ho laos). Es ist eine für Lukas gängige Formulierung (7,29; 11,53; 18,43; 19,49; 21,38), synonym zu lesen mit plethos tou laou (1,10; 6,17; 23,27). Mit beiden Formulierungen ist – so Hans Klein in seinem neuen Kommentar – jeweils die „konkrete Volksmenge“ gemeint.   Karl Barth hat es unvergleichlich lapidar gesagt: „Das Volk sind ‚die Leute’, wie sie immer waren und überall sind.“ Laos ist das Volk, das Gott retten will. Lukas sieht es trotz seiner Verführbarkeit grundsätzlich positiv. Es ist das Volk, das auf Jesus hört (7,1.29 u.ö.), das die Wunder erlebt (24,19) und das kommt, um sich heilen zu lassen (6,17f). Es ist also nicht mit den ethne von Mt. 28 gleichzusetzen, denn es heißt wohlüberlegt „alles Volk“ und nicht „jedes Volk“. Wie sich die Verkündigung an alles Volk zur Verkündigung an alle Völker verhält, bleibt hier außer Betracht.  Laos hat immer schon eine gewisse Kenntnis des Evangeliums, steht in Beziehung zu Gott in Jesus Christus. Es ist das Volk, das die Glauben weckende Verkündigung – immer neu! – braucht. Laos ist der Adressat der Evangelisierung, es sind die Leute, wie sie immer waren und überall sind, aber sie begegnen uns hier sehr konkret. Im Zitat der 6. These aus Lk. 2 sind es die Hirten. Eberhard Busch leitet daraus Folgendes ab: Die Bibel versteht das Wort „alle“ sehr konkret. Die große Freude, von der in Lk. 2 die Rede ist, wurde in den Hirten zuerst den „drunten und draußen Stehenden“ kundgemacht, „und hatte erst so die Verheißung, dass sie allem Volk widerfahren wird.“ (Eberhard Busch, a.a.O., 92) 
Weil Gott in seiner rettenden Zuwendung an den laos, an alles Volk, sich konkret an die drunten und draußen Stehenden wendet, hat das auch Konsequenzen für die missionale Grundausrichtung der Kirche. Ich sehe hier den von manchen diagnostizierten Unterschied von Mission und Diakonie ein Stück weit aufgehoben.  „An alles Volk“ meint alle, aber in bewusster Adressierung. Zuerst sind es die am Rande Stehenden, die draußen Stehenden. Die Botschaft von der freien Gnade erweist sich genau darin als allgemeingültig, dass sie in besonderer Weise den Hirten zugesprochen wird.

Schluss

An Christi Statt, im Dienste seines Wortes und Werkes, im Reden und Tun richtet die Kirche die Botschaft von der freien Gnade Gottes aus. So erweist sie sich als missionarische Kirche in der Hinwendung zu denen, die drunten und draußen stehen. Im Zentrum steht der gegenwärtige Herr, der Auferstandene, den die Gemeinde in ihrer Mitte weiß und feiert. Diese Christusgegenwart strahlt aus, wo immer sie mehr als einladend, nämlich  „gewinnend“ (GEKE) gefeiert wird. Darauf, auf diese ausstrahlende und gewinnende Feier des unter uns gegenwärtigen Jesus Christus  wird es entscheidend ankommen, um als evangelische Kirchen den missionarischen Auftrag in Europa überzeugend wahrzunehmen. Oder kurzum, wie die GEKE ihren Aufruf an die Gemeinden schließt, „die Welt und die Menschen unverzagt im Licht von Gottes grenzenloser Gnade sehen."