Vollkonferenz am 01. Mai 2009 in Würzburg
Verleihung des Karl-Barth-Preises
Manfred Stolpe: Laudatio auf Dr. Jürgen Schmude
01. Mai 2009
Johannes Rau hat Jürgen Schmude als aufrechten Demokraten, überzeugten Christen und Mittäter in unserer demokratischen Gesellschaft bezeichnet. Das hat der Jurist Schmude in politischen Ämtern und kirchlichen Aufgaben gelebt. 25 Jahre war er Mitglied des Bundestages und mehrere Jahre Bundesminister. In der Evangelischen Kirche war er fast zwei Jahrzehnte Präsident des höchsten Kirchenparlamentes und immer auch aktives Glied seiner Heimatgemeinde Moers. In allen Ämtern geht es Schmude darum, den Menschen Gerechtigkeit, Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln. Seine Zuversicht gewinnt Jürgen Schmude aus dem Glauben, dass er selbst wie alles sonst unter dem Regieren Gottes steht und bei ihm geborgen ist.
Die Trennung von Staat und Kirche hat Jürgen Schmude streng beachtet, aber auch gesehen, dass Staat und Kirche an die gleichen Menschen gewiesen sind und deshalb Berührung unvermeidlich und Kooperation nötig ist.
Schmude ist überzeugt, dass dem Glauben ein aktives Handeln entsprechen muss sowohl in der Kirche und für die Kirche als auch in der politischen Verantwortung. Er sieht einen tiefen Zusammenhang zwischen Evangelischer Kirche und Demokratie, die als menschenwürdigste Staatsform zu bejahen und mit zu tragen ist.
Ich danke der Jury, dass sie Jürgen Schmude für den Karl-Barth-Preis vorgeschlagen hat, denn er entfaltet in überzeugender Weise die politische Bedeutung des Evangeliums und wirkt mit großem Engagement in Kirche und Gesellschaft.
Jürgen Schmude gratuliere ich herzlich zu dieser hohen Ehrung und freue mich, dass sie in dem Jubiläumsjahr der BARMER THEOLOGISCHEN ERKLÄRUNG erfolgt und zu dem Zeitpunkt, als vor 40 Jahren Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt wurde.
Gustav Heinemann hat Jürgen Schmudes Haltung als Christ zu Staat und Gesellschaft geprägt. Und Schmude hat wichtige Vorgaben Heinemanns aufgegriffen, weitergeführt und vollendet. Das gilt z. B. für die Interpretation der fünften These der Barmer Theologischen Erklärung, der Herausarbeitung der Bedeutung der Demokratie, dem Zusammenhalt der Deutschen im geteilten Land, der deutschen Schuld gegenüber anderen Völkern, insbesondere in Osteuropa und nicht zuletzt der Erinnerung an die Gräueltaten des Naziregimes vor allem an den Juden. Auch die wichtige Rolle der Laien in der evangelischen Kirche, die Bedeutung der Synoden und die verantwortliche Wahrnehmung des Präsesamtes sind ihm von Heinemann vorgegeben worden.
In seiner Mitarbeit in kirchenleitenden Aufgaben und an Grundsatzfragen steht der Laie Schmude in ständigem Disput mit Theologen. Seine unerschütterliche christliche Fundierung und seine starke ethische Orientierung sind dabei seine Grundorientierung. Als kluger Zuhörer mit großem theologischen Interesse, aber auch starkem Drängen auf Allgemeinverständlichkeit und hintergründigem liebevollen Humor versteht es Jürgen Schmude, Wahrheiten zu sagen ohne zu verletzen. Hoch geschätzt sind seine Tätigkeiten als Ausschussvorsitzender, die er mit Geduld, Konzilianz, aber entschieden und erfolgsorientiert führt. Bewundert wird Schmudes Gabe der Moderation, die er in großer Fairness wahrnimmt, nie konfrontativ, nie aggressiv, eher flüsternd als laut.
Bei aller Freude an Formulierungskünsten fragt Schmude bei den zur Veröffentlichung geplanten Texten, warum hier die Kirche sprechen muss. Denn politische Meinungsäußerungen gibt es schon zuhauf. Sachlich und überparteilich zu sprechen ist keine ausreichende Begründung für ein kirchliches Wort. Auch eine theologische Aussage als Pflichtübung vorneweg legitimiert noch nicht zur kirchlichen Einmischung in die Politik. Schmude fragt: Was ist das Spezifische und Unvertretbare eines kirchlichen Wortes in die Öffentlichkeit. Was nötigt sie zum Reden? Eine bleibende Frage.
In seiner Arbeit an gemeinsamen Erklärungen weiß Jürgen Schmude, dass bei einer substantiellen Aussage ein hundertprozentiger Konsens kaum möglich ist. Seine Gabe ist es, gerade im Dissens einen gehaltvollen Konsens zu finden. Wie schon Karl Barth und Gustav Heinemann weiß Jürgen Schmude um die reformierten, unierten und lutherischen Bekenntnispositionen. Er achtet sie. Wenngleich er sich nicht sicher ist, ob diese konfessionellen Unterschiede noch eine Berechtigung haben. Mit Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker kann er sagen, er sei schlecht und recht evangelisch und lasse sich von niemand vor die Alternative zwingen, lutherisch oder reformiert zu sein.
Das ist eine Position, die uns in den Evangwelischen Kirchen in der DDR ermutigt hat, an einer Vereinigten Evangelischen Kirche in der DDR zu arbeiten und die Gemeinschaft der Gliedkirchen und ihrer Zusammenschlüsse als Kirche zu verstehen. Denn das gemeinsame Verständnis des Evangeliums befähigt zur Gemeinschaft in Zeugnis und Dienst und ermöglicht es, mit bestehenden Bekenntnisunterschieden in einer Kirche zu leben.
Wenn auch die Organisation einer Vereinigten Evangelischen Kirche (VEK) in der DDR an einer Sperrminorität scheiterte, ist doch die am 23. Mai 1985 beschlossene Gemeinsame Erklärung zu den theologischen Grundlagen der Kirche und ihres Auftrages und Dienstes ein Erbe aus den Erfahrungen der Evangelischen Kirchen in der DDR. Sie wird wie andere Erkenntnisse in der Anfechtung und Bewahrung Evangelischer Kirchen in der DDR heute in der wiedergewonnenen organisatorischen Einheit der Evangelischen Kirchen noch nicht ausreichend rezipiert. Gern zitiere ich hier Wolfgang Huber aus seiner Traueransprache für Albrecht Schönherr: „Das Gedächtnis, das Wiederholen empfangener Lehren gehört zum verantwortlichen Leben“.
Für die Evangelische Kirche in der DDR war die Theologische Erklärung von Barmen Ausdruck gemeinsamen Bekennens und Zeugnis des Glaubens für die immer wieder versuchte und angefochtene Kirche. Der Dienst der Kirche vollzieht sich in Gottesdienst, Predigt, Unterweisung und Lehre, in Seelsorge und Diakonie, Mitarbeit in der Ökumene und Verantwortung in der Gesellschaft. Dieses Selbstverständnis der Evangelischen Kirche in der DDR baute auf die harten Erfahrungen evangelischer Kirchen mit dem Schrecken der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Besinnung in der Barmer Theologischen Erklärung auf.
Als ich 1959 als junger Jurist in den Dienst der Evangelischen Kirche in der DDR trat, war die Position des von der SED geführten Staates zur Kirche eindeutig: Religion und Kirche sind Relikte der Vergangenheit, die zum Absterben verurteilt sind. Religion ist unwissenschaftlich und falsch, Opium für das Volk, zu dessen Unterdrückung von den Ausbeutern genutzt. Die Kirche ist ein Instrument der früheren herrschenden Klassen; in der DDR demzufolge die 5. Kolonne des Klassenfeindes. Wir Christen waren also in doppelter Hinsicht Feinde: im Kampf der Ideologien und im Klassenkampf.
Dem gesetzmäßigen Untergang von Religion und Kirche musste nachgeholfen werden: Der Einfluss auf die Jugend muss bekämpft werden. Aktivitäten in die Gesellschaft besonders in sozialen, kulturellen und ökonomischen Bereich sind zu verhindern. Die Kirchen sollen durch differenzierte Behandlung gespalten werden. Außenkontakte, insbesondere nach Westdeutschland und Westberlin sind zu erschweren. Lenins Taktik: erst isolieren, dann liquidieren, saß in den Köpfen nicht weniger Funktionäre.
Im Konsistorium und in der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg hatte ich viel mit Kurt Scharf, Günter Jacob und Albrecht Schönherr zu tun. Das waren drei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten aber unbeirrt in einer Grundposition: Christen dürfen sich nicht von den Prognosen der Kommunisten einschüchtern lassen. Die Kirche wird Kirche bleiben, weil Gott sie will.
In der Anfangsphase meines Kirchendienstes erlebte ich 1963 die Erarbeitung der „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“. Sie wurden formuliert im Auftrag der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR und als Aktualisierung der Barmer Theologischen Erklärung verstanden. Sie forderten die Gemeinden und die Christen auf, sich nicht ängstlich hinter Kirchenmauern zurückzuziehen, sondern in Vertrauen auf Gottes Zusage zur Zukunft der Kirche für eine menschenfreundliche und gerechte Gesellschaft einzutreten.
In der Bundesrepublik Deutschland und Berlin West arbeitete später ein Ausschuss der EKU unter dem Vorsitz von Jürgen Schmude zum Thema „Für Recht und Frieden sorgen – Auftrag der Kirche und Aufgabe des Staates nach Barmen V“. Das war genau unser Thema. Die Intention des EKU-Votums zu Barmen V, die Grundlinien von 1934 weiter zu ziehen und dabei die Voraussetzung für Aussagen zu schaffen, die Barmen V zuzuordnen sind und zugleich eine Fortschreibung in die Gegenwart bedeuten, traf genau die Interessen der Evangelischen Kirchen in der DDR. Das gilt zum Beispiel für die Formulierung, dass die Handhabung der Menschenrechte Ausweis der Vertrauenswürdigkeit eines Staates nach außen ist, wie es in der Schlussakte von Helsinki 1975 von Ost und West deklariert und auch in einem gemeinsamen Wort des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und der EKD vom März 1986 angesprochen wurde. So ist das unter Vorsitz von Jürgen Schmude erarbeitete Wort der EKU vom Juni 1986 mit der Beschreibung der Barmer Theologischen Erklärung als unverändert wirksamer und gültiger Grundaussage zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat, als Grundlegung der christlichen Ethik des Politischen, als wegweisendes Wort der besonderen Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Deutschland zu sehen.
Für uns im Osten war es das richtige Wort zur richtigen Zeit. Denn der Druck auf eine Veränderung der Verhältnisse in der DDR wuchs: Gorbatschow setzte 1985 mit Glasnost und Perestroika einen neuen Kurs der Öffnung und Veränderung. Viele Erwartungen brachen auf. Doch die Partei- und Staatsführung der DDR war nicht zu Veränderungen bereit. Im Gegenteil die Zügel wurden angezogen. Es gab keine spürbaren Erleichterungen für Westreisen, keine Freiheit für Andersdenkende, keine Verbesserungen des Wirtschaftssystems.
Honecker war im Ostblock isoliert und erkrankte. Lethargie, Ratlosigkeit, Unbeweglichkeit das war die DDR-Politik 1988. Die Unruhe im Lande wuchs. Die Ausreisebemühungen Zehntausender machte es deutlich. Im Sommer und Herbst 1989 glich das Land einem Hochdruckkessel. Die hohe Explosivität kam vor allem durch die wachsende Zahl von Ausreiseentschlossenen, die bemerkten, dass Aggressivität ihren Wunsch beschleunigen konnte. Viele von ihnen baten die Kirche um Unterstützung, sammelten sich in deren Räumen. Die Kirche bat, das Land nicht zu verlassen und entwickelte eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den Ausreisewilligen. Wer sich mit denen einließ, kam sogar innerkirchlich unter Rechtfertigungsdruck.
Aber auch viele andere Bürger verloren die Angst. Landesweite, oft von Pfarrern organisierte Wahlbeobachtungen der Kommunalwahlen 1989 und zunehmende öffentliche Protestaktionen bestimmten das Klima im Lande. Überall kam es zu Montagsdemonstrationen, die eine Veränderung der Gesellschaft forderten und in der Regel in evangelischen Kirchen begannen.
Als am 7. Oktober 1989, bei der Feier des 40. Jahrestages der DDR, die friedliche Demonstration tausender Berliner und Brandenburger aus der Gethsemane-Kirche zum Palast der Republik brutal zusammengeschlagen wurde, sagte der anwesende Gorbatschow zu Honecker, Mielke und Krenz, dass bringt nichts, so geht das nicht. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Die nächste Montagsdemonstration stand für den 9. Oktober an, die größte war in Leipzig zu erwarten. Krenz hatte den Auftrag, sie aufzulösen. Er gab keinen Einsatzbefehl. Am 16. Oktober dasselbe: Die Leipziger Großdemonstration, aus 12 Kirchen startend, blieb unbehindert. Keine Gewalt, von allen Seiten, so wie es in den Kirchen gefordert war. Honecker wurde am 18. Oktober abgesetzt.
Krenz erklärte am 19. Oktober dem Vorstand des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR als Antwort auf die Forderungen der Bundes-Synode vom September 1989 seine Reformbereitschaft: Bis Weihnachten können alle DDR-Bürger reisen. Oppositionelle Meinungen und Parteien werden zugelassen. Wahlen werden freier. Wirtschaftliche Verbesserungen werden eingeleitet.
Die Revolution hatte ihre Ziele erreicht. Doch noch stand die Mauer.
Am Abend des 9. November 1989 nahm ich in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin an einer Diskussion mit Vertretern der Oppositionsgruppen, der SED, der CDU, der LDPD und der Kirchen teil. Intensiv wurde gestritten, wie schnell mehr Freiheit und mehr Rechte erreicht werden können. Das war die Vorbereitung eines Runden Tisches, durch den dann ab Dezember unter Vorsitz der Kirchen die Überleitung von der Diktatur zu Demokratie und Rechtsstaat erfolgte.
Mitten in der Debatte erhielt ich die Nachricht, das SED-Politbüromitglied Schabowski habe auf einer Pressekonferenz die sofortige Reisefreiheit für alle bekannt gegeben. Ich dachte nur, endlich kommt das neue Reisegesetz. Denn ich erwartete die Gewährung von Westreisen durch den Staat an jeden Einzelnen.
Aber die Geduld der Menschen war zu Ende. Tausende gingen spontan zu den Grenzübergangsstellen, um nach Westberlin durchgelassen zu werden. Doch die Grenzpolizei hatte noch keinen entsprechenden Befehl erhalten und verweigerte den Übergang. Das waren spannende und gefährliche Stunden, denn ein gewaltsamer Grenzdurchbruch konnte den Waffengebrauch der Grenztruppen auslösen. Doch dann hörte ich, dass der Grenzübergang Bornholmer Straße geöffnet worden war. Nun war die Mauer nicht mehr zu halten. Es gab keine Gewalt und keine Schüsse. Das war der nun offenkundige Sieg der friedlichen Revolution. Die Menschen hatten nicht mehr gewartet, bis ihnen der Staat die Westreise erlaubte, sondern sie hatten sich selbst die Freiheit genommen.
Über die Rolle der Kirchen im Umbruch der DDR und zur Wiedervereinigung Deutschlands wird unterschiedlich und vergleichsweise wenig gesprochen. Tatsächlich aber hat die Evangelische Kirche den gewaltfreien Umbruch in der DDR befördert. Es war richtig, in die Gesellschaft hineinzuwirken, mit langem Atem auf Erleichterung zu setzen und gefährliche Zuspitzungen zu vermeiden.
Zu den deutschlandpolitischen Wirkungen der evangelischen Kirchen gibt es inzwischen wissenschaftliche Untersuchungen z. B. von Christian Hanke in einem über 400-seitigem Werk. Danach war sie Sprecherin der Einheit des Volkes.
Die Ostdenkschrift der EKD hat die Politik der Bundesrepublik maßgeblich beeinflusst. Zu Recht hat Jürgen Schmude sie als ein prophetisches Wort bezeichnet, das in einer vergifteten Atmosphäre die Wahrheit gesagt hat. Diese Denkschrift hat der bundesdeutschen Politik den Mut zu einer neuen Ost- und Deutschlandpolitik gegeben, die durch Annäherung Wandel und Veränderung bewirkte.
Die Evangelische Kirche in West und Ost verzichtete auf eine offensive Wiedervereinigungsrhetorik, erklärte aber ihre Zusammengehörigkeit für unaufgebbar und lebte in der geduldigen Erwartung, dass die Teilung Deutschlands nicht das Ende aller Wege Gottes mit den Deutschen sein werde. Die Evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik und in der DDR haben wie keine andere Institution den Zusammenhalt der Deutschen bewahrt. Das geschah in vielen hundert Gemeindepartnerschaften und tausenden Einzelbesuchen, die nach dem Mauerbau vor allem von West nach Ost, nicht selten unter erheblichen Grenzschikanen erfolgten. Diese Kontakte bedeuteten neben der beiderseitigen Vergewisserung der Gemeinschaft für die Partner im Osten auch eine wichtige Ermutigung.
Befördert und getragen wurde diese breite Bewegung für den Zusammenhalt der evangelischen Christen im geteilten Deutschland durch die eindeutige Haltung der Kirchenleitungen und Synoden in der BRD. Den Ratsvorsitzenden und Präsides kam dabei eine hervorgehobene Bedeutung zu. Durch ihre Entschlossenheit, ihren persönlichen Mut, durch erhebliche materielle Unterstützung und nicht zuletzt durch die große Geduld mit den gelegentlich absonderlich wirkenden Ostpositionen waren sie entscheidende Helfer der Evangelischen Kirche in der DDR. Das stärkte deren Eigenständigkeit und Unabhängigkeit im sozialistischen System der DDR und wurde somit zu einer wichtigen Handlungsvoraussetzung der Evangelischen Kirche im beginnenden Umbruch der Verhältnisse.
Eine Schlüsselrolle für den Zusammenhalt der Deutschen und dann schließlich die Wiedervereinigung des Staates und der Kirchenorganisation hatte Jürgen Schmude. Seine außerordentliche Begabung als Zuhörer und nichtbevormundender Berater, seine großen politischen Erfahrungen und seine genauen Kenntnisse der Verhältnisse der DDR machten ihn zu einer geistlichen und moralischen Autorität. Sein überzeugendes Wahlergebnis zum Präses der wiedervereinigten EKD-Synode unterstrich das.
Neben seinen besonderen Gaben ist es auch seine Biografie, die Jürgen Schmude zu einer gesamtdeutschen Persönlichkeit machte. Aus Insterburg, dem heutigen Tscherjahowsk, vertrieb es ihn nach Moers im äußersten Westen Deutschlands. Da er Ostpreußen aufgeben musste, lebt er seine persönliche West-Ost-Biografie nun mit der östlichen deutschen Stadt Seelow. Die Stadt wurde bekannt durch die letzte große Verteidigungsanlage 1945 vor der Reichshauptstadt. Jürgen Schmude hat mit dem Kirchenkreis und der Gemeinde Moers viele Jahre einen intensiven Kontakt mit Seelow und dem Kirchenkreis Seelow gepflegt und bis heute weitergeführt.
Es gab viele Vorortbesuche, Partnertreffen in Berlin, persönliche Kontakte und immer auch die „unauffälligen“ Begleitfahrzeuge des MfS. Die Seelower erinnern sich gern, wie sie und Schmude diese so manches Mal hinters Licht führten.
Dabei war immer auch Gudrun Schmude. Sie kannte den Osten aus eigenem Leben und war noch aktiver und häufiger im Kreis Seelow und wird in den dortigen Gemeinden, wie natürlich auch in Moers als handfeste Helferin hoch geschätzt.
Auch nach der Wiedervereinigung wirken Schmudes in der Oder-Spree-Region, z. B. als Förderer des Wiederaufbaues des Seelower Kirchturms oder als Sponsoren für einen evangelischen Kita-Neubau und als Berater des Diakonischen Werkes. Helfer waren sie aber auch an vielen anderen Orten z. B. für die Behinderten des Lindenhofes im Havelland. Dorthin vermittelte Jürgen Schmude unmittelbar nach der Maueröffnung einen Bus. Christian Spree, ein leitender Mitarbeiter der Diakonie, berichtet: „Uns bleibt in Erinnerung, wie eindrucksvoll und doch bescheiden sein Auftreten war. Das war nicht als öffentlichkeitswirksamer Auftritt angelegt, sondern war der Besuch eines helfenden Freundes, der unsere Probleme kannte und wusste, wo erste Hilfe nötig war“.
Schmude sah immer sehr nüchtern die angeschlagene, klein gewordene Kirche in der DDR. Aber er glaubte an ihre geistliche Kraft, ihre tapferen Gemeindeglieder und war sicher, dass der Herr der Kirche sie nicht verloren gegeben hat. So wie Schmude vor Ort half, so hat er in dem nicht ganz einfachen Prozess der organisatorischen Wiedervereinigung der Evangelischen Kirche West und Ost entscheidend mitgewirkt und dabei die unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen bedacht und erläutert. Manfred Kock hat Schmude als einen Mann des grenzüberschreitenden Dialogs bezeichnet und seine Verdienste um die Wiedervereinigung der EKD unschätzbar wertvoll genannt.
Wenn heute Jürgen Schmude gewürdigt wird, dann darf es nicht beim Rückblick bleiben, denn wir stehen vor großen gemeinsamen Aufgaben.
Sicher auch im deutsch-deutschem Gespräch. Friedrich Schorlemmer hat Recht, wenn er viel mehr offene Gespräche der Menschen aus den unterschiedlichen Erfahrungswelten des Ostens und Westens fordert. Und Wolfgang Thierse ist zuzustimmen, „dass über die Lebenspraxis der Menschen in der DDR nicht nur Vernichtungsurteile gesprochen werden dürfen. Es muss genauer und differenzierter über die Geschichte der DDR geurteilt werden. Immer noch leidet der Umgang mit der DDR und damit auch mit ihren Menschen daran, dass sie in den 90er Jahren politisch und medial vermarktet worden ist als eine Skandalgeschichte von Feigheit und Verrat. Stasi war und ist das Faszinosum“. Diese leidige Debatte über die DDR-Vergangenheit weckt bei vielen Menschen im Osten die Sorge, schließlich doch noch für die Existenz des Systems DDR irgendwie haftbar gemacht zu werden. Denn sie liefen nicht weg, sie waren nicht inhaftiert, sie arbeiteten fleißig, sie gingen zur Wahl. Sie haben die DDR nicht geliebt, aber mitgetragen. Also schweigen sie lieber.
Jürgen Schmude, meine sehr verehrten Damen und Herren, da gibt es noch viel zu tun mit Geduld, Hörfähigkeit, eigener Offenheit. Auch die Ossis müssen noch manches lernen. Etwa, wieso Menschen aus der alten Bundesrepublik anders geprägt sind und weshalb die Demokratie die bessere Staatsform ist. Jürgen Schmude hat sich als Ko-Vorsitzender der gemeinsamen Kommission des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur Erarbeitung des Wortes „Demokratie braucht Tugend“ bemüht, dafür zu werben. Es gibt nur wenige vergleichbare Arbeiten zur politischen Bildung wie dieses kirchliche Wort und die sie vorbereitende Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985, die ebenfalls maßgeblich von Schmude beeinflusst wurde. Das Vertrauen in die Demokratie lässt im Westen nach und ist im Osten noch nicht ausreichend gefestigt. Die Erfahrungen in der DDR mit Willkür und Bevormundung sollten helfen, die heute gegebene Rechtssicherheit und mögliche Beteiligung in eigenen Angelegenheiten zu schätzen. Der demokratische Rechtsstaat ist der bestmögliche Handlungsrahmen, damit Staat und Gesellschaft für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden wirken. Jürgen Schmude mahnte bei einem Vortrag in Leipzig: „Mündigkeit? Doch nicht zum Schweigen! Partnerschaft? Doch nicht zum Nichtstun! Folgerichtig wird die Möglichkeit zur Mitverantwortung und Mitbestimmung gefordert.“
Um die Menschen zu erreichen, genügen aber nicht Akademietagungen und Einzelveröffentlichungen. Wir sollten darüber nachdenken, wie zu hochdramatischen Themen, die viele Menschen bewegen, öffentliche Problemdebatten in ähnlicher Form angeboten werden, wie es die Evangelischen Kirchen in der DDR in den späten 80er Jahren taten. Zwei solcher brisanten Themen sind der Umgang mit Fremden und die Krise der Industriegesellschaft.
Schmude hat als Vorsitzender der EKD-Arbeitsgruppe für eine Handreichung Christen und Muslime in Deutschland viel Kritik erlebt. Es brauchte Mut, unangenehme Wahrheiten und Realitäten anzusprechen. Aber es ist zwingend, sich den konkreten Problemfeldern zuzuwenden. Begegnung, Gespräch, Zusammenarbeit sind nötig, um Vertrauen wachsen zu lassen und ein gemeinsames Handeln auch in Spannungen zu ermöglichen. Feindbildern, Intoleranz und Abgrenzung muss entgegengewirkt werden. Die Alternativen hatten wir in Deutschland erlitten und sehen sie auch heute fast täglich vor Augen. Der Schatten von Barmen 1934, die Nichterwähnung des Schicksals der Juden, bleibt beständige Mahnung, gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus vorzugehen.
Schmude fordert, wachsam der Jahre des Unrechts und des Schreckens zu gedenken und alles abzuwenden, was irgendeine Wiederholung bringen kann. Hinter die Erkenntnis Dietrich Bonhoeffers, der in der Naziherrschaft das schlechthin Böse sah, dürfen wir nicht zurück. Deshalb müssen extremistische Gruppen, die Hass verbreiten, auf entschiedene Ablehnung treffen. Es ist gut, dass deutschlandweit die evangelischen Kirchengemeinden an der Spitze des Widerstandes gegen Neonazis, Rassismus und Gewalt stehen. Fremdenfeindlichkeit und Verführung durch extremistische Populisten nehmen in Krisenzeiten zu. Das unter Vorsitz von Jürgen Schmude erarbeitete Votum zu Barmen V erkannte schon die Krise der Industriegesellschaft und forderte neue Einsichten und Verhaltensweisen.
Die klassische wirtschaftsliberale Vorgabe wankt, dass der größtmögliche Nutzen für alle heraus kommt, wenn ein jeder nur unbeirrt und dynamisch sein Eigeninteresse verfolgt. Horst Köhler hat in seiner Berliner Rede im März dieses Jahres analysiert, dass die „großen Räder gebrochen sind“ und wir eine Krise erleben „deren Ausmaß das 21. Jahrhundert prägen kann… Wir erleben das Ergebnis von Freiheit ohne Verantwortung. Wir erleben, dass es der Markt allein nicht richtet. Der Markt braucht Regeln und Moral“. Die Unkultur des Profits hat Jürgen Schmude schon im Jahr 2000 benannt und zugleich gefordert, die vom Arbeitsleben Ausgeschlossenen nicht zu vergessen. Denn es geht um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Kirche muss sich einmischen, muss die Probleme der Gesellschaft benennen und mithelfen, wie der wachsenden Armut begegnet werden kann, wie Arbeitsförderungsmaßnahmen genutzt und ausgebaut werden können, wie Bildungsangebote erweitert und Teilhabe isolierter Menschen ermöglicht wird.
Die Evangelische Kirche hat eine eigenständige Position, ist überparteilich und unabhängig. Sie ist keine säkulare Interessenvertretung oder Lobby. Sie ist kritisch-konstruktiv und gesprächsfähig. Sie ist glaubwürdig und genießt Vertrauen. Die Evangelische Kirche wird zur Mitgestaltung einer menschenfreundlichen, gerechten und friedlichen Gesellschaft gebraucht.
Ich bin dankbar, dass Jürgen Schmude in dieser Fortsetzungsarbeit zu Barmen mit seinem Glauben, Reden und Handeln dabei bleibt. Als Bruder auf Augenhöhe, wie es Nikolaus Schneider beschreibt.
Die Jahreslosung und unsere Erfahrung lehren: Wir sollen uns ans Werk machen, auch wenn wir spüren, wie scheinbar unmöglich die Aufgabe ist. Wir können uns darauf verlassen: Gott hilft nach.