Zusammenleben gestalten
Kirchliche Grundsätze zur Integration
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das Zuwanderungsgesetz verfassungswidrig zustande gekommen ist. Es kann daher nicht zum 1.1.2003 in Kraft treten. Das Scheitern des Gesetzesvorhabens aus Gründen der bundesstaatlichen Zuständigkeit darf aus Sicht der Evangelischen Kirche in Deutschland nicht zum Vorwand dienen, um das Ziel eines umfassenden, alle Aspekte von Migration und Integration berücksichtigenden Gesamtkonzepts fallen zu lassen. Wir brauchen ein neues Zuwanderungsgesetz. Die EKD hofft deshalb, dass der im Zuge der parteipolitischen Auseinandersetzungen erkennbar gewordene Konsens bei den Migrationsfragen nicht aus wahltaktischen Gründen aufs Spiel gesetzt wird. Sie spricht sich dafür aus, das Ziel einer modernen Migrationspolitik weiter zu verfolgen und auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Im Folgenden soll zunächst in Erinnerung gerufen werden, was die evangelische Kirche in der Vergangenheit dazu gesagt hat.
Die EKD hat das Zuwanderungsgesetz als eine Verbesserung in zweifacher Hinsicht begrüßt. Zum einen hat dieses Gesetz die Abkehr von einem vorwiegend auf Abwehr ausgerichteten Zuwanderungsverständnis vollzogen. Damit hat es die Voraussetzung für eine größere Aufnahmebereitschaft von zugewanderten Menschen auf Seiten der deutschen Bevölkerung geschaffen. Zweitens war das Gesetz als eine Verbesserung der gegenwärtigen Rechtslage zu betrachten. Damit haben sich viele Hoffnungen verbunden. Das Zuwanderungsgesetz hat zentrale kirchliche Forderungen für das Zuwanderungsrecht aufgenommen, die schon im Gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht (1997) enthalten waren oder eine Bekräftigung durch die Synode der EKD gefunden hatten. Zu den Anliegen der EKD gehört es im Wesentlichen, ein Gesamtkonzept für die Zuwanderung zu entwickeln, das auch die Integration umfasst, das Ausländerrecht aus dem Polizeirecht zu lösen und Migrationspolitik als Gestaltungsaufgabe zu konzipieren, den Familiennachzug zu erleichtern, die Rechtsstellung von Flüchtlingen zu verbessern und eine gesetzliche Härtefallregelung zu schaffen.
Vor diesem Hintergrund hat die EKD es begrüßt, dass das Zuwanderungsgesetz erstmals eine Gesamtregelung für Aufenthalt, Arbeitsaufnahme, Aussiedler und Integration getroffen hat, indem es die entscheidenden Regelungen in einem Gesetz zusammengefasst hat. Das Gesetz hat außerdem das Anliegen aufgenommen, die Rechtsstellung der Opfer nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung zu verbessern, indem es nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung als Verfolgungstatbestände im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) anerkennt. Auf Zustimmung ist auch die Angleichung der aufenthaltsrechtlichen Stellung von Flüchtlingen nach der GFK und Asylberechtigten gestoßen. Die Regelung, wonach Ausländer, deren Abschiebung dauerhafte Abschiebehindernisse entgegenstehen, die sie nicht zu vertreten haben, einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel erhalten sollen, hat ebenfalls positive Resonanz gefunden, da sie die gegenwärtige, kritisierte Praxis der sog. Kettenduldungen beendet. Mit der Aufnahme einer gesetzlichen Härtefallregelung schließlich hat das Zuwanderungsgesetz einem wiederholt vorgetragenen Anliegen der EKD entsprochen.
In einigen Punkten ist das Zuwanderungsgesetz jedoch hinter den kirchlichen Erwartungen zurückgeblieben. Mit Sorge hat die EKD im Gesetzgebungsverfahren wiederholt darauf hingewiesen, dass es auch nach der Abschaffung der sog. Kettenduldungen möglich gewesen wäre, dass Menschen ohne rechtmäßigen Aufenthaltsstatus sich über mehrere Jahre in Deutschland aufhalten, ohne eine Integrationsförderung zu erhalten (sog. Bescheinigte). Die EKD hat auch bedauert, dass das Zuwanderungsgesetz keine Verbesserung der Situation von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus geschaffen hat und auch keinen absoluten Ausweisungsschutz für in Deutschland geborene und aufgewachsene Jugendliche vorsah. Die EKD hätte es vorgezogen, wenn der Gesetzentwurf insofern den Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Zuwanderung gefolgt wäre. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hatte die EKD zudem ihre schon früher geäußerten grundsätzlichen Bedenken gegen das Asylbewerberleistungsgesetz wiederholt und eine Reform der Regelungen zur Abschiebehaft geltend gemacht. Diese Bemühungen blieben jedoch erfolglos.
Im Hinblick auf den Familiennachzug hätte die EKD sich eine großzügigere Regelung gewünscht. Es ist zwar zu begrüßen, dass das Zuwanderungsgesetz das Zuzugsalter für Kinder, die mit ihren Familien einreisen, von 16 auf 18 Jahre angehoben hat. Gleichzeitig hat es jedoch das Nachzugsalter für Kinder, die nicht im Familienverband einreisen, von 16 auf 12 Jahre gesenkt. Obwohl die EKD dafür eingetreten ist, das Nachzugsalter generell auf 18 Jahre festzulegen, hat sie die Regelung des Zuwanderungsgesetzes angesichts der bestehenden Öffnungsklauseln für einen vertretbaren Kompromiss gehalten.
Die EKD ist der Ansicht, dass ein modernes Zuwanderungsrecht vor allem auch Regelungen zur Integrationsförderung bedarf. Das Zuwanderungsgesetz bot insofern einen richtigen Ansatzpunkt, als es erstmals gesetzliche Regelungen über die Integration geschaffen hat. Allerdings waren die Regelungen des Zuwanderungsgesetzes ergänzungsbedürftig, da sie die Integrationsförderung im Wesentlichen auf Sprachförderung und auf Kenntnisse des Rechts- und Gesellschaftssystems reduzierten. Aus kirchlicher Sicht ist es für eine gelingende Integration unerlässlich, weitere wichtige Aspekte des Integrationsprozesses in den Blick zu nehmen, wie Beratung, Begleitung, Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, Gemeinwesen- und Akzeptanzförderung. Das im Gesetz vorgesehene Integrationsprogramm, an dem alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen zu beteiligen sind, sollte diese Aspekte aufnehmen. Zudem hätte nach Ansicht der EKD der Personenkreis, der Anspruch auf Integrationsleistungen erhalten soll, erweitert werden müssen. Auch Migrantinnen und Migranten, die sich schon länger in Deutschland aufhalten (sog. nachholende Integration) und Menschen mit humanitärem Aufenthaltsstatus hätten einbezogen werden müssen.
Die Frage, wie das Zusammenleben mit Menschen anderer Herkunft gegenwärtig und künftig gestaltet werden muss, ist dringlicher denn je und hat sich nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht erledigt. Es bleibt eine politische Aufgabe, das hierfür notwendige Regelwerk zu schaffen. Alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte sind aufgefordert, sich an einem öffentlichen Diskussionsprozess zu beteiligen, der auf einen Konsens hinwirkt, um eine tragfähige Regelung zu entwickeln, die unser Gemeinwesen fördert und die bestehenden Spannungen minimiert. Vor dem Beginn des Bundestagswahlkampfes hatten sich zwischen Regierung und Opposition (Müller-Kommission) gemeinsame Positionen abgezeichnet, die Grundlage für eine parteiübergreifende Einigung sein könnten.
Die folgende Handreichung benennt die aus evangelischer Sicht wesentlichen Elemente eines gelingenden und umfassenden Integrationskonzeptes, die Teil eines künftigen gesetzlichen Regelwerkes werden sollten. Sie wendet sich an alle, die in Kirche, Gesellschaft und Staat damit befasst sind, den Zuwanderungsprozess zu gestalten. Sie geht von der Feststellung aus, dass Deutschland kulturell und ethnisch vielfältiger geworden ist. Das bedeutet eine Bereicherung, führt aber auch zu Spannungen und Konflikten. Die zentralen Aussagen der Handreichung lassen sich wie folgt zusammenfassen:
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Ethnische, kulturelle und religiöse Pluralität ist eine gesellschaftliche und politische Herausforderung.
Wir brauchen ein Gesellschafts- und Staatsverständnis, das der Realität einer ethnisch, kulturell und religiös vielfältiger gewordenen Gesellschaft entspricht. Orientiert an einer langfristigen Perspektive müssen darin unterschiedliche Interessen zum Ausgleich gebracht werden. Voraussetzung ist, dass die verfassungsrechtlichen Grundlagen für das Zusammenleben in unserem Land von allen anerkannt werden.
- Migration und Fremdheit gehören zu den Grunderfahrungen des Glaubens.
Die Kirche existiert als weltweite Gemeinschaft in Vielgestaltigkeit. Die gewachsene Zahl von Christen aus anderen Ländern in Deutschland stellt eine ökumenische Herausforderung zu „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ dar. Diese Aufgabe schließt auch eine Aufarbeitung der leidvollen Geschichte der Intoleranz ein. Migration und Fremdheit gehören zu den Grunderfahrungen des Glaubens. Diese wesensmäßige Nähe zu Fremden verpflichtet die Kirchen zur Solidarität mit den Migrantinnen und Migranten.
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Toleranz bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern will das Zusammenleben höchst unterschiedlicher und einander ausschließender weltanschaulicher Bindungen und religiöser Bekenntnisse in gegenseitigem Respekt ermöglichen.
Eine integrationsbereite und integrationsfähige Gesellschaft benötigt Kenntnisse über die kulturellen und religiösen Minderheiten in ihrer Mitte. Dafür sind aktiver Dialog, Austausch und Auseinandersetzung nötig.
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Integration ist nicht nur ein wechselseitiger, sondern auch ein kontinuierlicher Prozess, da sowohl Minderheiten als auch Mehrheiten einem gesellschaftlichen Wandel unterliegen.
Dabei bleiben die Grundwerte der Verfassung für Ansässige wie Zugewanderte gleichermaßen verbindlich und verpflichtend. Die Sicherung der materiellen und sozialen Grundbedürfnisse, die Kenntnis der deutschen Sprache sowie Beratung und Hilfen zur Orientierung in der bundesdeutschen Gesellschaft gehören zu den Voraussetzungen einer umfassenden und nachhaltigen Integration.
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Die mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts verbundenen Erwartungen an eine verbesserte Integration der Migranten haben sich nur teilweise erfüllt.
Das Angebot der Einbürgerung liegt jedoch weiterhin im gesellschaftlichen Interesse. Im Hinblick auf die politische Integration sollte nach weiteren kommunalen Mitwirkungsmöglichkeiten für Nicht-EU-Bürger außerhalb des Wahlrechts gesucht werden.
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Die Beherrschung der deutschen Sprache ist die zentrale Voraussetzung, um sich in der deutschen Gesellschaft zu orientieren und zurechtzufinden.
Es ist notwendig, mehrsprachige Fähigkeiten von Migrantenkindern zu würdigen, zu nutzen und zu fördern, da sie eine wichtige Brückenfunktion darstellen. Interkulturelles Lernen, das die gegenseitige Anerkennung von Geschichte und Kultur der Menschen fördert, ist vom Kindergarten bis zur Hochschule eine wichtige Voraussetzung für ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Kultur. Eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration ist wesentlich für die materielle Existenzsicherung der Migranten. Sie stärkt ihr Selbstbewusstsein und sichert ihre materielle Selbstständigkeit.
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Der lokalen Ebene kommt eine wesentliche Rolle dabei zu, die Identifikation der Migranten mit der hiesigen Gesellschaft zu fördern
Veranstaltungen im Rahmen der Woche der Ausländischen Mitbürger/Interkulturelle Woche, Straßen-, Stadtteil- und kirchliche Gemeindefeste sowie gezielte Begegnungsangebote von Kirchengemeinden, Kommunen und örtlichen Vereinen können wesentlich dazu beitragen, das Heimischwerden von Migranten zu erleichtern.
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Die Religionszugehörigkeit ist ein wichtiger Integrationsfaktor, der im Integrationsprozess besondere Antworten und Berücksichtigung finden muss.
Zuwanderung von Menschen anderer Religion stellt unsere Gesellschaft vor eine Herausforderung besonderer Art. Denn unbeschadet der verbürgten Freiheit persönlicher religiöser Überzeugungen ist die öffentliche Präsenz von Religionen manchmal Anlass für Kontroversen. Die Anwesenheit von Christen und Kirchen aus anderen Ländern sollte stärker ins öffentliche Bewusstsein dringen und die Zusammenarbeit mit ihnen selbstverständlich sein. Im christlich-jüdischen Gespräch gibt es langjährige und hoffnungsvolle Erfahrungen, die im Hinblick auf den Dialog mit Muslimen genutzt werden sollten. Der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen nach Art. 7 Abs. 3 GG kommt eine besondere integrationspolitische Bedeutung zu. Die EKD tritt daher auch öffentlich dafür ein, islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach zu ermöglichen [1].
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Den Medien kommt eine herausragende Rolle im Integrationsprozess zu.
Sie sind aufgefordert, an der verantwortlichen Gestaltung dieses Prozesses verantwortlich mitzuwirken. Die Anwesenheit von Migranten sollte für die Medien ein Anlass sein, ihr Angebot zumindest in Teilen, etwa unter regionalem Aspekt, auch im Hinblick auf die Bedürfnisse der Migranten zu gestalten. Die ausschließliche Bindung an die Medien des Herkunftslandes erschwert den Austausch und verzögert die Integration in die hiesige Gesellschaft. Die Forderung nach angemessener Berichterstattung gilt auch und insbesondere gegenüber kirchlichen und christlichen Medien.
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Die EKD will dazu beitragen, Deutschland als weltoffenes Land mit einem Klima von Akzeptanz und Toleranz zu gestalten und das Zusammenleben aller Menschen unabhängig von ihrer nationalen, kulturellen und religiösen Prägung zu fördern.
Zwar kommt der Politik die grundlegende Verantwortung zu, weil sie die Rahmenbedingungen schafft. Die Integrationsangebote jedoch kommen aus der aufnehmenden Gesellschaft. Damit verbindet diese die klare Erwartung an die Migranten, diese Angebote zu nutzen. Die evangelische Kirche wird weiterhin vermehrte Anstrengungen unternehmen, um integrierende Funktionen des Glaubens und des religiösen wie des sozialen Handelns in einer Situation multireligiösen Zusammenlebens und interkulturellen Zusammenwirkens zu stärken. Sie tritt dafür ein, ein bundesweites Integrationsprogramm unter Beteiligung aller in Frage kommenden gesellschaftlichen Kräfte zu entwickeln. Sie ist bereit, daran mitzuwirken und ihre Erfahrungen einzubringen, um das praktische Zusammenleben der Menschen zu fördern und gleichzeitig die Grundwerte zu stärken, auf die sich unser Gemeinwesen gründet.