„Selig sind die Friedfertigen“
Der Einsatz in Afghanistan: Aufgaben evangelischer Friedensethik, EKD-Text 116, 2014
Vorwort
„Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.”
(Matthäus 5,9)
Die deutsche Beteiligung am internationalen Einsatz in Afghanistan geht ihrem Ende entgegen. Die Stützpunkte werden geräumt, die Truppen ziehen ab. Über Art und Umfang einer Folgemission für Afghanistan ist politisch noch nicht abschließend entschieden. Von einem Frieden in Afghanistan kann aber nicht die Rede sein. So stellt sich auch angesichts der dramatischen Situation im syrischen Bürgerkrieg sehr aktuell die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines militärischen Eingreifens zum Schutz der leidenden Zivilbevölkerung. Ein politischer Ausweg aus dem Dilemma zwischen humanitärer Schutzverantwortung einerseits und der Einsicht in die tiefe Zweideutigkeit der militärischen Mittel andererseits ist nicht absehbar.
Die Weichenstellungen der deutschen Außenpolitik geschehen im Zusammenhang der internationalen, besonders der europäischen Verpflichtungen. Gleichwohl bleibt den Regierenden und Regierten in unserem Land die politische Debatte um deutsche Beteiligungen an internationalen militärischen Friedensmissionen aufgegeben. Für öffentliche Debatten und politische Entscheidungen sind wissenschaftlich fundierte umfassende Evaluationen der Auslandseinsätze unverzichtbar. Dies kann und will im hier vorgelegten Text nicht geleistet werden. In der Stellungnahme der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD geht es auf einer grundsätzlicheren Ebene um eine theologisch-ethische Orientierung. Es geht um die Zielentscheidungen, die die Richtung des Handelns bestimmen, ohne dass sich schon jede einzelne politische Maßnahme geradlinig daraus ableiten ließe. Kirchliche Stellungnahmen wollen nicht direkt Politik machen, aber sie wollen zu einer menschenfreundlichen und lebensdienlichen Politik beitragen.
Nach christlicher Überzeugung bewegt der Friede, den Gott schenkt, Menschen dazu, Frieden zu stiften. Der Horizont der daraus erwachsenden friedensethischen Fragen war und ist global. So ringen die weltweiten Netzwerke der christlichen Kirchen immer wieder neu um die Frage: Wieweit ist es im Blick auf das Evangelium von Jesus Christus zu rechtfertigen, dem Frieden mit militärischer Gewalt den Weg zu bereiten? Für die Evangelische Kirche in Deutschand ist dieser Diskussionsprozess im Jahr 2007 in der Friedensdenkschrift „Aus Gottes Frieden leben, für gerechten Frieden sorgen“ fest gehalten. Dort wurde das biblisch begründete friedensethische Leitbild des „gerechten Friedens“ formuliert. „Gerechter Friede“ bedarf einer Rechtsordnung. Um sie zu schaffen und zu bewahren, betont die Friedensdenkschrift die vorrangige Option der Gewaltfreiheit. Als „ultima ratio“ aber hält sie ein militärisches Eingreifen zur Erhaltung oder Aufrichtung einer Rechtsordnung für möglich.
Das Leitbild des gerechten Friedens darf wohl als ein — auch ökumenisch bedeutsamer — friedensethischer magnus consensus gelten. Er hat auch in der Öffentlichkeit weithin Anerkennung gefunden. Welche Orientierungskraft diesem Leitbild allerdings tatsächlich zukommt, zeigt sich erst in wirklichen Entscheidungssituationen. Wie kann das Leitbild einer rechtsbasierten Friedensordnung politische Entscheidungsprozesse ausrichten? Wie kann es die Gewissen der verantwortlich Handelnden anleiten? Wie wirkt sich das Leitbild des gerechten Friedens in den vielschichtigen Aufgaben der Konfliktprävention aus? Wie kann es unter den besonderen Belastungssituationen des militärischen Konfliktes für Soldatinnen und Soldaten zum Maßstab werden? Die Dringlichkeit dieser Fragen habe ich persönlich empfunden, als ich im Jahr 2011 gemeinsam mit dem Friedensbeauftragten des Rates der EKD, Pastor Renke Brahms, und dem Militärbischof, Dr. Martin Dutzmann, eine Pastoralreise zum deutschen Einsatzkontingent nach Afghanistan unternommen habe. Die Begegnungen in Afghanistan waren beeindruckend. Mit großem Respekt habe ich wahrgenommen, dass die Soldatinnen und Soldaten sich der Zwiespältigkeit ihres Einsatzes bewusst waren. Sie brachten einhellig zum Ausdruck: militärischer Einsatz schafft keinen Frieden, sondern schafft Voraussetzungen dafür, dass Frieden sich entwickeln kann.
Aus den Erfahrungen der Pastoralreise ist die Bitte an die Kammer für Öffentliche Verantwortung ergangen, den deutschen Einsatz in Afghanistan zur Friedensdenkschrift der EKD in Beziehung zu setzen. Leitende Fragestellungen dabei sollten sein: Bewährt sich das Leitbild des gerechten Friedens im Einsatz oder muss es von den Erfahrungen in Afghanistan her konkretisiert, präzisiert oder sogar korrigiert werden? Und: Wird der deutsche Einsatz in Afghanistan dem Anspruch gerecht, eine Rechtsordnung zu schaffen und dadurch Frieden zu ermöglichen?
Die Kammer hat sich diesen Fragen in einem mehr als zweijährigen Arbeitsprozess gewidmet. Mit dieser Schrift legt sie der Öffentlichkeit ihre Stellungnahme vor. Der Rat der EKD hat die Kammerergebnisse ausführlich diskutiert und mit großem Dank entgegen genommen.
Insgesamt steht dieses Ergebnis für einen breiten und gleichwohl differenzierten Konsens innerhalb der evangelischen Friedensethik. Kammer und Rat sind der Überzeugung, dass das Leitbild des gerechten Friedens der Denkschrift und die sich aus ihm ergebenden Prinzipien und Kriterien schriftgemäße und sachgemäße Aussagen evangelischer Friedensethik sind. Aber übereinstimmend urteilen Kammer und Rat mit großer Skepsis in der Frage, ob die in Afghanistan eingesetzten militärischen Mittel dem politischen Ziel des Einsatzes angemessen waren und sind.
Die Stellungnahme der Kammer spiegelt dabei ein besonderes Profil evangelischer Ethik. Im Text finden sich an mehreren Stellen argumentative Gabelungen: Eher von der konkreten Situation geprägte Argumente einerseits und stärker verantwortungspazifistisch ausgerichtete Positionen andererseits. Dabei gelingt es, einen differenzierten Konsens zu bewahren. Ich bin dankbar, dass der hier vorgelegte Text diesen prozessualen Charakter evangelischer Ethik prägnant ausdrückt. Von einer gemeinsamen Bindung an das Wort Gottes werden auf produktive Weise verschiedene Erfahrungen und Überzeugungen miteinander im Gespräch gehalten.
Der Text mündet in eine Beschreibung künftiger Aufgaben und Herausforderungen evangelischer Friedensethik und eröffnet somit eine Weiterarbeit an den Fragen politischer Verantwortung und Gestaltung.
Ich danke der Kammer für Öffentliche Verantwortung, besonders dem Vorsitzenden, Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier, und der stellvertretenden Vorsitzenden, Frau Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler, für die sorgfältige und umfassende Arbeit. Unter einem biblischen Leitwort aus der Bergpredigt übergeben wir die Stellungnahme der Kammer für Öffentliche Verantwortung der kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Matthäus 5,10). Dankbar leben wir aus Gottes Frieden, zuversichtlich wollen wir für gerechten Frieden sorgen. Uns stärkt die Verheißung Jesu, dass wir darin „selig“, also von Gottes Gegenwart begleitet sind.
Hannover, am 1. Sonntag im Advent 2013
Dr. h.c. Nikolaus Schneider
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland