Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben

Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance, EKD-Text 117, 2014

Vorwort

Die Globalisierung ist eines der einflussreichsten Phänomene der heutigen Zeit. In den letzten Jahrzehnten hat die internationale Mobilität insbesondere von Finanzströmen, aber auch von Gütern und Dienstleistungen stark zugenommen. Dabei verändern sich die globalen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Beziehungen fortlaufend. Die internationale Verflechtung der in die Globalisierung eingebundenen Länder ist nicht zuletzt durch den politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch ehemals sozialistischer Volkswirtschaften sowie die Strukturanpassungspolitiken in Entwicklungsländern deutlich angestiegen.

Globalisierung ist kein neues Phänomen, sondern begleitet und durchdringt die Weltgeschichte spätestens seit der Ausbreitung des Kolonialismus im 16. Jahrhundert. Die derzeitige Globalisierung dringt jedoch nicht zuletzt wegen erheblich vereinfachter Transport- und vor allem Kommunikationsmöglichkeiten seit den 1980/1990er Jahren in immer mehr Lebensbereiche ein. Sie erfasst mehr und mehr Stufen der ökonomischen Wertschöpfungskette und ist durch enge Verzahnungen in vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft gekennzeichnet. Diese beeinflussen direkt und indirekt die Lebenswirklichkeit der Menschen weltweit.

Die Globalisierung stellt die internationale Politik vor neue Herausforderungen. Vielen grenzüberschreitenden, globalen Problemen kann heute auf der Ebene und mit den Instrumenten des Nationalstaates nicht mehr angemessen begegnet werden. Gleichzeitig fehlen den bestehenden internationalen Institutionen die Instrumente und die Durchsetzungskraft, um wirksam eingreifen zu können. Erforderlich ist daher eine politische Konzeption, die heute unter dem Begriff "Global Governance" vertreten wird und die nach Möglichkeiten für globales politisches Handeln sucht.

Mit "Global Governance" ist zum einen gemeint, dass nationale Regierungspolitik und das klassische System internationaler Politik (bilaterale Beziehungen, die Vereinten Nationen, vertraglich gebundene Allianzen) enger zu verweben sind, und zum anderen, dass dieses System für neuartige, an globalen Problemen orientierte Prozesse und für nicht-staatliche Organisationen deutlich geöffnet wird. Global Governance im Sinne einer globalen Steuerung von Politikprozessen ist somit als Weiterentwicklung der klassischen internationalen Politik zu verstehen, die die Zivilgesellschaft sowie neue Akteure einbezieht und neue Wege und Formen des Miteinanders voraussetzt und zugleich hervorruft.

Global Governance bedeutet demnach nicht "Global Government" (Weltregierung). Denn im Rahmen von Global Governance-Prozessen behalten die Nationalstaaten ihre Souveränität, arbeiten auf der Basis freiwilliger oder vertraglich geregelter Kooperation zusammen und unterliegen keiner formalen Hierarchie. Eine Übersetzung des Begriffs "Global Governance" in die deutsche Sprache hat sich nicht durchgesetzt; die Begriffe "Weltinnenpolitik" oder "Weltordnungspolitik" könnten das Missverständnis nahelegen, sie bezögen sich auf eine "Weltregierung". Da mit Global Governance aber allenfalls ein "Weltregieren ohne Weltregierung" ("Governance without Government") gemeint ist, wird heute in der Regel die englischsprachige Bezeichnung benutzt.

An den Prozessen und Strukturen der Global Governance sind verschiedene Akteure beteiligt, vor allem Regierungen und staatliche internationale Organisationen, aber auch Wirtschaftsverbände, zivilgesellschaftliche Organisationen und Zusammenschlüsse sowie Religionsgemeinschaften und Kirchen. Beispielhafte Institutionen Globaler Governance sind z. B. die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich oder die Weltgesundheitsorganisation, aber auch weltweit agierende Organisationen wie der Internationale Gewerkschaftsbund sowie Nichtregierungsorganisationen. Gegenwärtig wird Global Governance durch ein Nebeneinander von drei Governance-Typen gekennzeichnet: durch multilaterale staatliche und nichtstaatliche Akteure (z. B. Vereinte Nationen, Europäische Union, Kirchen), selektive Kooperationen (z. B. Multilaterale Konventionen, Internationaler Strafgerichtshof) und "Club"-Formate (z. B. G8 und G20).

Ob es bei der jetzigen Global Governance-Architektur zu wirksamem kooperativem Handeln kommen kann, ist umstritten. Infolgedessen hat es immer wieder Reformvorschläge gegeben, die bisher aber stets an den Vorbehalten einiger Industrienationen oder Staatengruppen gescheitert sind. Es bedarf aber einer effektiven Global Governance-Architektur, damit Wirtschaft und Politik einen nachhaltigen, menschenrechtsbasierten Entwicklungspfad einschlagen können. Auf der Rio+20-Konferenz der Vereinten Nationen wurden 2012 wegweisende Beschlüsse gefasst, die sowohl auf Institutionen als auch auf Prozesse zielen (etwa den Prozess zur Verabschiedung von Sustainable Development Goals [SDGs], Ziele zur nachhaltigen Entwicklung) und eine Überwindung nationaler Egoismen und damit ein Ineinandergreifen nationalen und globalen Handelns möglich erscheinen lassen, wenngleich eine Umsetzung noch aussteht.

Die hier vorgelegte Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung unter dem Titel "Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben. Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance" beschreibt die zentralen Herausforderungen des globalen Wandels und gibt Empfehlungen für Reformen, die aus Sicht der Kammer zu einer höheren Wirksamkeit der Global Governance im Sinne einer nachhaltigen und menschenrechtsbasierten Entwicklung führen. Im Zusammenhang des weltweiten ökumenischen Prozesses für eine "Wirtschaft im Dienst des Lebens" formuliert die Studie biblisch abgeleitete theologische und ethische Perspektiven für die Gestaltung von globalen politischen und wirtschaftlichen Prozessen. Alle Reformen der Global Governance sind danach daran zu messen, inwiefern sie die Rahmenbedingungen und Instrumente dafür schaffen, dass die Erwartungen aller Menschen heute und die der künftigen Generationen an ein von Gerechtigkeit geprägtes und menschenwürdiges Leben erfüllt werden. Die Kammer geht noch weiter: Sie schlägt vor, einen "Global Council für soziale, ökologische und wirtschaftliche Fragen" einzurichten, der weltweit eine menschenrechtsbasierte nachhaltige Entwicklung vorantreibt.

Im Namen des Rates der EKD danke ich der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung für diese kenntnisreiche, sachlich wie theologisch sorgfältig gearbeitete Studie. Ich lege sie besonders politischen und ökumenischen Verantwortungsträgerinnen und -trägern ans Herz. Es ist meine Hoffnung, dass die Studie und ihre Vorschläge für eine Reform der Global Governance in Kirche, Politik und Gesellschaft zu Diskussionen und zum Weiterdenken einladen und eine breite und intensive Resonanz in Deutschland und der weltweiten Ökumene erfahren.

Hannover, im Februar 2014

Dr. h.c. Nikolaus Schneider

Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

EKD-Text 117 (pdf)

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