Die Kirchen und der Erste Weltkrieg
Fragen und Antworten
Wie kam es zur Verknüpfung von Gott, Nation und Krieg?
Die Bewegung der Aufklärung und die Französische Revolution hatten die jahrhundertelange Vormachtstellung und Autorität der großen Kirchen in Frage gestellt. Die soziale Frage wurde virulent – Revolutionen, neue Parteien, neue Denkwege auch in der Theologie hatten sich angekündigt. Die konservativen Kirchenvertreter – und das war das Gros – sahen sich dadurch in die Ecke gedrängt. Gestärkt fühlten sie ihre Macht durch das noch immer bestehende Bündnis von Thron und Altar. Die Versuchung war groß, neuen Einfluss zu gewinnen, indem man sich von der Politik willfährig einspannen ließ. Auch bei der moralischen Überhöhung der eigenen Nation. Das Eintreten für das eigene Land oder Volk wurde zur Pflicht gegenüber Gott, zum nahezu heiligen Akt erklärt. So setzten die Kirchen in jedem europäischen Land ihre gesamten Mittel und Möglichkeiten ein, um den Zielen der je eigenen Nation zu dienen: Gottesdienste und Seelsorge, diakonische Dienste. In den ersten Monaten des Krieges waren die Kirchen voll. Die Menschen hörten dort keine Friedensappelle, sondern Aufrufe, den Krieg zu unterstützen, auch mit dem Opfer des eigenen Lebens – für Gott und Vaterland. „Vaterlandsliebe, Kriegslust und christlicher Glaube“ seien in ein hoffnungsloses Durcheinander geraten, wunderte sich 1914 der Theologe Karl Barth.
Haben sich Christen von der Kriegsbegeisterung anstecken lassen?
Ja – und die Pastoren und leitenden Geistlichen haben sie sogar dazu ermuntert. „Nun danket alle Gott“ sangen Tausende Menschen am Tag der Mobilmachung vor dem Berliner Schloss. Der Oberhofprediger Ernst Dryander befeuerte im Dom die Massen: „Wir ziehen in den Kampf für unsere Kultur – gegen die Unkultur! Für die deutsche Gesittung – gegen die Barbarei! Für die freie, an Gott gebundene Persönlichkeit – wider die Instinkte der ungeordneten Massen. Und Gott wird mit unseren gerechten Waffen sein!“ Im „religiösen Kriegsfuror“ erlosch „jedes Verständnis für Jesus, für Demut, Feindesliebe“, bedauerte ein Zeitgenosse. „Die evangelische Kirche verfügte ja nicht über bessere politische Diagnosemöglichkeiten als jeder andere Zeitgenosse auch“, wertet der Berliner Theologe Christoph Markschies heute das Verhalten der Kirche, „sie war so blind, wie es die gesamte Bevölkerung war. Das ist für Nachgeborene schmerzlich nachzuvollziehen.“
Gab es kirchliche/christliche Stimmen gegen den Krieg?
Ja – aber nur sehr wenige. 1914 trafen sich in Konstanz Christen und gründeten den Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen. Schriftführer wurde der friedensbewegte Theologe Friedrich Siegmund-Schultze. Eindringlich appellierte er an den Friedenswillen der Christen: „Jesu Stellung, ganz unabhängig von der Frage des Motivs, [ist] unverkennbar die: Wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen. Wenn aber dies Wort Jesu für unser Verhalten gegenüber seinen Feinden gilt, wie viel mehr muss der Krieg gegen Freunde Christ verboten sein! Wenn Christus selbst gegenüber seinen Feinden den Krieg nicht leiden mag, wieviel mehr ist es widerchristlich, gegen Mitchristen Krieg zu führen!“
Der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom wurde zur deutlichsten kritischen Stimme der christlichen Kirchen Europas. Er kritisierte die „Götter des Nationalismus“, die „dem Gott Jesu Christi und dem Gott der Feindesliebe“ entgegenstünden. Im September 1914 appellierte er an die Kirchen Europas, Hass und Feindschaft zu tilgen und forderte dazu auf, dem Blutvergießen ein Ende zu bereiten. Die Antworten der europäischen Kirchen fielen in ihrer Ablehnung erschreckend unisono aus: Jede fühlte sich weiter im Recht und war der Meinung, einen gerechten Krieg im Namen Gottes zu führen. Sie folgten Söderbloms Einladung zu einer Weltkirchenkonferenz nach Uppsala nicht.
Deutlicher als die Haltung der meisten Christen der großen Kirchen war die Haltung der Freikirchen. Mennoniten und Quäker etwa verweigerten den Kriegsdienst und hielten ihre streng pazifistische Haltung durch. Für ihre Konsequenz nahmen sie Gefängnisstrafen in Kauf.
Haben die großen Konfessionen unterschiedlich reagiert?
Zunächst ging es beiden Kirchen darum, ihre nationale Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen, sie wollten nicht wie „vaterlandslose Gesellen“ dastehen. Beide werteten den Krieg auch als Möglichkeit, den neuzeitlichen Umbrüchen in der Wissenschaft Paroli zu bieten und der wachsenden Entkirchlichung entgegenzuwirken. Die evangelische Kirche stand dem preußischen Staat und dem Kaiserreich näher, „war in großen Teilen sogar mit ihm deckungsgleich“ (Münker). Wilhelm II. war Monarch und gleichzeitig Oberhaupt der evangelischen Kirche Preußens. Die katholische Kirche ließ sich auch von den Friedensappellen Papst Benedicts XV. nicht von ihrer Überzeugung eines „heiligen Krieges“ abbringen – sie wertete sie schlicht als politische, nicht als päpstliche Äußerungen.
Wie haben sich Christen in den anderen beteiligten Ländern verhalten?
In den Kirchen jedes beteiligten Landes siegte der Nationalismus über den Glauben. Die französischen Kirchen konnten ihre Nation als Angegriffene sehen und den Verteidigungskrieg deshalb selbstbewusst als „heilig“ bezeichnen. In Großbritanniens Kirchen herrschte die Überzeugung, Deutschland sei von Gott abgefallen, deshalb sei ein Krieg gegen die Deutschen im Sinne Gottes. Ähnlichen Deutschenhass vertrat die russisch-orthodoxe Kirche, hier wurde Kaiser Wilhelm II. gar als Antichrist eingestuft. Eine alte Ikone der Muttergottes wurde an die Front gebracht und sollte Gottes Beistand im Kampf sichern. „Geht hin und bekämpft die Feinde Gottes“, forderte der Wiener Kardinal Friedrich Piffl die Landsleute auf. Kirchenhistoriker Martin Greschat konstatiert „eine erschreckende Preisgabe der christlichen Substanz in den Voten der europäischen Kirchen während des Ersten Weltkriegs“ – „angefangen bei den Exzessen deutscher Soldaten im August 1914 in Belgien und Nordfrankreich bis hin zu den rasant sich steigernden Brutalitäten in den folgenden Kriegsjahren im Westen wie im Osten Europas, den Massakern an den Fronten und dem Massensterben der Zivilisten, belegte jeder Tag, wie wenig das Leben eines Menschen zählte – und wie wenig das Christentum und die Kirchen dagegen ausrichteten. Sie wurden überall und in allen Konfessionen in diesen Strudel hineingerissen: selten gegen ihren Willen, halb freiwillig zumeist, halb gedrängt – doch in aller Regel dann lautstark applaudierend.“ (in: Liturgie und Kultur. Zeitschrift der Liturgischen Konferenz für Gottesdienst, Musik und Kunst, 5. Jahrgang 2-2014)
Welche Rolle spielte die Universitätstheologie?
„Wir stehen mit Gott in diesem Krieg als seine Diener. Darum ist es ein heiliger Krieg und für jeden von uns ein Gottesdienst.“ Der spätere Theologieprofessor Paul Althaus, in Kriegszeiten Lazarettpfarrer, führte theologische Gründe für den Krieg an: „Wir kämpfen für das edlere England gegen das verdorbene, entartete, für den Sieg des Wahren und Guten bei unseren Feinden gegen das Niedrige, Hässliche, Verlogene. Das adelt unseren Zorn und heiligt unser Zerstören.“ Ähnlich dachte die nationalkonservativ gesinnte Mehrheit der Universitätstheologen. Zum Beispiel Reinhold Seeberg, der die These vertrat: Wenn man im Zuge der „Verteidigung des Vaterlandes“ einen belgischen Soldaten erschießt, vollstrecke man das Werk der Nächstenliebe Christi an ihm. „Es gibt nur ganz wenige Theologen, die diese Parallelität – Jesu Opfertod, Opfertod des Soldaten – nicht mitmachen“, erklärte Günter Brakelmann, „das waren einfache Pfarrer, das war nicht die Creme der Kirche. Die Spitzen der Kirche bis 1918 und darüber hinaus sind bei ihrer Theologie ohne Reue und Buße geblieben.“ Anders Paul Tillich: Der Theologe ging als Militärpfarrer an die Westfront. „Das vierjährige Erleben des Krieges riss den Abgrund für mich und meine ganze Generation so auf, dass er sich nie mehr schließen konnte“, resümiert er später und erzählt ein Kriegserlebnis: Nachts sei er in Verdun im Trommelfeuer zwischen Sterbenden umhergirrt und schließlich erschöpft zwischen den Toten eingeschlafen. „Als ich erwachte, sagte ich mir: Das ist das Ende der idealistischen Seite meines Denkens! In dieser Stunde begriff ich, dass der Idealismus zerbrochen war.“
Wie haben die Protestanten das Luther-Jahr 1917 begangen?
Mit großen Feiern, in denen Luther als der deutsche Nationalheld schlechthin stilisiert wurde. Der Reformator mit dem breiten Rücken wurde zum kraftvollen Vorbild erklärt. Sein Kampfesmut und seine Hartnäckigkeit sollten den von den Kriegsfolgen geplagten Deutschen neuen Mut machen. Aus dem Kontext der Reformationszeit herausgelöste Texte Luthers dienten dem Kriegswillen: „Erhalt uns Herr, bei deinem Wort / und steure deiner Feinde Mord, / die Jesus Christus, deinen Sohn, / wollen stürzen von deinem Thron.“
Haben die deutschen Protestanten aus dem Krieg gelernt?
Der Erste Weltkrieg sei ein „konfessioneller Sieg des Katholizismus“ gewesen, stellte der katholische Kirchenhistoriker Hartmann Grisat fest und meint damit: Das der evangelischen Kirche nützliche Bündnis von Thron und Altar wurde mit der Weimarer Verfassung im Jahr 1919 abgeschafft. Die konservativen Protestanten waren unterlegen – für sie waren „Parlamentarisierung und Demokratisierung […] nicht nur gegen die Logik der deutschen Geschichte, sondern Inbegriff eines gegen Gott und seinen Ordnungswillen gerichteten säkularen selbstmächtigen Geistes“ (Brakelmann, Der deutsche Protestantismus im Epochenjahr 1917, 1974, S. 11). Während sich das Gros der Protestanten im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg nochmals auf die Seite der Kriegsparteien stellten und den Krieg befürworteten, setzte nach 1945 eine bahnbrechende Bewegung ein, in der die Glorifizierung des Krieges abgelehnt wird. Stattdessen sucht die evangelische Kirche nach einer verantwortungsvollen Friedensethik und diskutiert engagiert, wie der Friedensauftrag des Evangeliums in die Politik umgesetzt werden kann. Dennoch mahnen Stimmen zur Vorsicht: „Hoffnungszeichen sind nicht zu leugnen. Zu leugnen ist aber auch nicht, dass im nominell christlich geprägten Westen weiterhin die Neigung besteht, militär-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Erwägungen den Vorrang vor einer Politik der gemeinsamen Sicherheit durch gemeinsame Entwicklung zu geben. […] Der Weg zu einer kriegsursachenvermeidenden proaktiven Friedenspolitik ist noch weit. Ein Blick zurück auf den 1. Weltkrieg und seine Folgen trägt aber vielleicht dazu bei, die Plausibilität dieser friedensethischen Perspektive zu verstärken und für die Rolle des Christentums dabei zu sensibilisieren.“ (Dieter Beese)