Umkehr zum Leben
Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels, Denkschrift des Rates der EKD, 2009, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05909-9
Vorwort
Die Herausforderungen, vor die der Klimawandel Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche stellt, sind gewaltig. Es geht um das Überleben vieler und ein würdiges Leben aller Menschen. Am härtesten sind diejenigen betroff en, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen: die Armen in den Entwicklungsländern. Darum vergrößert sich im Klimawandel die Kluft zwischen Arm und Reich. Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise verschärft diese Auswirkungen des Klimawandels. In den vergangenen Jahren ist der Klimawandel zu einem zentralen Thema der Weltpolitik geworden. Jetzt drohen jedoch kurzfristige Interessen die Vorsorge für die mittel- und längerfristigen Lebensbedingungen der Menschheit zu verdrängen. Es besteht die Gefahr, dass wirkungsvolle Maßnahmen verschoben und bisher als konsensfähig erachtete Standards für einen tragfähigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen verwässert werden. Die Kosten einer solchen Politik treffen wiederum in erster Linie die Ärmsten der Armen. Und das sind viele. Nach neuesten Schätzungen leben gegenwärtig fast eine Milliarde Menschen unter der Grenze der absoluten Armut. Sie verfügen nur über geringe Möglichkeiten, sich auf den Klimawandel einzustellen.
Die globale Klimapolitik steht vor neuen Weichenstellungen. Damit ein anderes, zukunftsfähiges Leben möglich wird, dürfen Europa und insbesondere Länder wie Deutschland bei den Beratungen über die Fortführung und Erweiterung bestehender klimapolitischer Ansätze nicht zurückfallen. Die zukünftige Entwicklung hängt entscheidend davon ab, inwieweit es gelingt, in den bevorstehenden Beratungen ein zukunftsweisendes Vertragswerk zum Klimaschutz zustande zu bringen. Die vom Klimawandel ausgehenden Gefahren können von keinem Land allein abgewendet werden; auch die mächtigsten Länder der Erde vermögen das nicht. Aber die wirtschaftlich starken und technologisch fortgeschrittenen Länder verfügen über vergleichsweise größere Fähigkeiten zur Beeinflussung der Klimaentwicklung und zur Anpassung an Veränderungen als andere. Diese Länder sind deshalb verpflichtet, in der Klimapolitik voranzugehen. Dabei geht es nicht nur um ihr materielles Eigeninteresse. Es geht um ihre Identität als Länder, die bereit und in der Lage sind, mit ihren Fähigkeiten in einer gegenüber der Weltgemeinschaft verantwortbaren Weise umzugehen. Ein Scheitern der globalen Klimaverhandlungen wäre deshalb ein verhängnisvolles Signal auch für alle anderen Anstrengungen, die darauf abzielen, die Vereinten Nationen zu stärken, das Völkerrecht weiter zu entwickeln und insgesamt die internationale Zusammenarbeit sowie eine friedliche Konfliktbearbeitung voranzubringen.
Es geht im Kern um die Frage, wie wirtschaftliche Interessen, die grundlegenden Lebensbedürfnisse einer wachsenden Zahl von Menschen, die Rechte künftiger Generationen und die Erhaltung der natürlichen Ressourcen miteinander in Einklang gebracht werden können. Bei der Beantwortung dieser Frage ist mit zahlreichen Zielkonflikten zu rechnen; denn auf vielfältige Weise kommen dabei Interessengegensätze ins Spiel. Einfache Lösungen, bei denen alle unmittelbar gewinnen und keiner verliert, sind unwahrscheinlich. Umso wichtiger ist eine breite gesellschaftliche Debatte über die Umsteuerung der bisher vorherrschenden Nutzung natürlicher Ressourcen und über die Verteilung der Kosten, die bei der notwendigen Begrenzung des Klimawandels und der Anpassung aller Menschen an die schon jetzt nicht mehr abwendbare Klimaveränderung anfallen.
Die vorliegende Denkschrift will einen Beitrag zu dieser Debatte leisten. Der Rat der EKD legt sie der Öffentlichkeit in dem Bewusstsein vor, dass die Kirchen in dieser Frage unmittelbar in der Verantwortung stehen. Als Einrichtungen in der Gesellschaft sind sie in die vorherrschenden Formen des Wirtschaftens eingebunden; schon deshalb müssen sie sich darüber Klarheit verschaff en, was mit dem Klimawandel auf dem Spiel steht und wie sie selbst zu tragfähigen Lösungen beitragen können. Dabei wissen sie sich dazu verpflichtet, die Lebensinteressen derjenigen zur Geltung zu bringen, die in den großen weltpolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart nur über schwache Verhandlungspositionen verfügen.
In der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise besteht zwar ein weitgehender Konsens darüber, dass in Wirtschaft und Politik umgesteuert werden muss. Aber es droht zugleich die Gefahr, dass die Krise gerade von wirtschaftlich starken Akteuren genutzt wird, um ihren eigenen Beitrag zu einem konstruktiven Umgang mit der Klimaproblematik über Gebühr zu beschränken und die Folgekosten des bisher vorherrschenden Raubbaus auf andere abzuwälzen. Dieser Gefahr gilt es entgegenzuwirken. Die Synode der EKD hat im November 2008 in ihrer Kundgebung zum Klimawandel und in ihrem Beschluss zur aktuellen Finanzkrise darauf hingewiesen, dass zwischen Finanzkrise und Klimawandel ein innerer Zusammenhang besteht. Demgemäß sind Leitbilder für eine nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels und der Weltwirtschaftskrise zugleich zu entwickeln.
Dazu soll diese Denkschrift beitragen. Mit ihr werden die Grundaussagen der Denkschrift "Der Entwicklungsdienst der Kirche. Ein Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt" von 1973 sowie der Stellungnahme der Kammer für nachhaltige Entwicklung "Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung. Die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen" von 2005 bekräftigt und zugleich im Blick auf den Zusammenhang von Armutsbekämpfung und Klimawandel aktualisiert. Die vorliegende Denkschrift ermutigt dazu, auf die wirtschaftliche Krise im Geist der Solidarität, der Zuwendung und der Nachhaltigkeit zu reagieren. Die Chance zu einer solchen Reaktion wird sich allerdings nur nutzen lassen, wenn die Vielschichtigkeit der Problemzusammenhänge berücksichtigt wird. Es geht darum, gerade angesichts dieser Vielschichtigkeit umzudenken, einem neuen Geist Raum zu geben und zu neuen Regelungen zu gelangen. Heute wächst das öffentliche Interesse an einem Lebensstil, der dem Gebot der Nachhaltigkeit entspricht, und nach politischen Rahmenbedingungen für ein wirtschaftliches Handeln, das diesem Gebot gerecht wird. Die vorliegende Denkschrift möchte zum Nachdenken über einen nachhaltigen Lebensstil und über nachhaltiges Wirtschaften im globalen Maßstab einladen und zu einem entsprechenden Handeln ermutigen. Die Größe der dafür notwendigen Schritte ist uns bewusst. Auf sie deutet der Titel dieser Denkschrift hin: "Umkehr zum Leben".
Die Denkschrift zeigt nach einer Darstellung des Klimawandels (Kapitel 2) und der globalen Armutsentwicklung (Kapitel 3) auf, in welchem Ausmaß der Klimawandel die Erreichung der UN-Entwicklungsziele und eine dauerhafte Armutsüberwindung gefährdet (Kapitel 4). Kapitel 5 zeigt, warum die Kirche aufgerufen ist, sich dieser Herausforderung zu stellen, und bietet eine biblisch-theologische Orientierung für die Suche nach Schritten der Umkehr in Politik und Gesellschaft. Kapitel 6 beschreibt, warum das Konzept der nachholenden und auf Wirtschaftswachstum basierenden Entwicklung nicht mehr zukunftsfähig ist, und konkretisiert das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung. Das Schlusskapitel beschreibt den Auftrag der Kirche, klimagerechte Entwicklungen auf der Südhalbkugel der Erde zu unterstützen und selbst zu einem Leben umzukehren, das sich an den Leitwerten der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit orientiert.
Der Rat der EKD dankt der Kammer für nachhaltige Entwicklung für die Erarbeitung dieser Denkschrift. Er wünscht diesem Text eine breite und intensive Resonanz in Deutschland, aber auch in der weltweiten Ökumene.
Berlin/Hannover, im Mai 2009
Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)