Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt

Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. April 2015, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05977-8

Vorwort

Dass der Mensch von Gott beauftragt ist, in der Schöpfung zu arbeiten, sie zu gestalten und sie zu bewahren und dies in Kooperation mit anderen zu tun, ist grundlegende christliche Überzeugung, die wir Christen mit anderen Religionen teilen. Das klassische Gebot lautet: Ora et labora - bete und arbeite. Ein christliches Leben verbindet beide Dimensionen des menschlichen Daseins, die Kontemplation und die Aktion.

Diese Grundhaltungen des christlichen Glaubens sind in der Reformation vor 500 Jahren mit Nachdruck erneuert worden. Es war Martin Luthers tiefste Überzeugung, dass alle Menschen von Gott berufen sind, in der Gesellschaft für sich selbst und vor allem im Dienst für den Nächsten tätig zu sein. Darin haben alle Menschen einen Beruf. Sie sollen nicht nur irgendwie arbeiten, sondern ihr Arbeiten erfüllt sich von daher mit Sinn. Nicht das rastlose Tätigsein als solches ist das Ideal des Christlichen, sondern die sinnvolle Einbeziehung aller Menschen in eine Wirtschaft, die mit allen geschieht und in der die Arbeit als ein großes Gemeinschaftswerk erbracht wird. Auch in diesem Denken spielen Märkte und der Wettbewerb eine große Rolle - aber sie sind nie ein Selbstzweck, sondern dienen immer dem Ziel, alle am dadurch geschaffenen Wohlstand teilhaben zu lassen. Die Wertschätzung der Arbeit liegt in ihrem Beitrag zum Gemeinwohl begründet. Gleichzeitig ist eine Wirtschaft, die dem Gemeinwohl dient, ohne Wertschätzung der Arbeit gar nicht möglich. Der Grundsatz des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt: »Wertschöpfung durch Wertschätzung« bringt den Grundgedanken christlicher Arbeitsethik ganz wunderbar zum Ausdruck.

Entspricht die heutige Arbeitswelt diesen Grundsätzen? Um diese Frage dreht sich der hier vorliegende Text der Kammer für soziale Ordnung, der vom Rat der EKD als Denkschrift angenommen worden ist. In ihm werden zunächst evangelische Kriterien zur Gestaltung der Arbeitswelt entwickelt (Kap. 2), dann wird die Entwicklung der Arbeitswelt in den letzten Jahren ausführlich analysiert und beschrieben (Kap. 3), bevor dann Schlussfolgerungen angestellt (Kap. 4) und Konsequenzen für Diakonie und Kirche gezogen werden (Kap. 5 und 6). Deutlich wird, dass sich die Arbeitswelt in den letzten Jahren immer schneller verändert hat. Die Einflüsse der Digitalisierung, der Globalisierung und der Entgrenzung von Arbeit und Leben zeigen sich in aller Deutlichkeit. Aber auch politische Entscheidungen, wie die Umsetzung der Agenda 2010 und die damit verbundene Schaffung eines erheblich gewachsenen Niedriglohnsektors, in dem sich prekäre Arbeitsverhältnisse finden, prägen das Bild. Die Arbeit selbst hat sich für viele erheblich gewandelt. Es gibt heute in qualifizierten Berufen größere Freiheiten und mehr Möglichkeiten, auch eigene Vorstellungen zu verwirklichen - auf der anderen Seite sind ganze Berufe verschwunden und es haben sich bisweilen Arbeitsbedingungen ausgebreitet, die nichts mehr mit der Entfaltung der Fähigkeiten der Beschäftigten zu tun haben.

Die Entwicklungen werden in dieser Ambivalenz geschildert und der Finger wird in einige Wunden gelegt. Insbesondere die Auseinanderentwicklung der Einkommen und noch stärker der Vermögen ist Anlass zur Sorge. Noch nie nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Unterschiede so groß wie heute. Auf die Dauer ist eine wachsende soziale Ungleichheit in keiner Gesellschaft der Welt positiv für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die Erfahrung sozialer Gerechtigkeit. Wer gesellschaftliche Teilhabe für die Menschen in der Gesellschaft fordert, wie dies in christlicher Ethik unabdingbar ist, der kann sich mit sozialer Ungleichheit nicht abfinden.

Der Text der Denkschrift wirft am Ende dann auch einen Blick auf die Situation in Kirche und Diakonie. Auch hier haben sich die Arbeitswelten aufgrund politisch gesetzter veränderter Rahmenbedingungen erheblich geändert. Seit spätestens 1995 ist ein Sozialmarkt entstanden, der unter Wettbewerbsbedingungen operieren muss und dessen mangelhafte Regulierung bisher vor allem auf Kosten der Löhne der Beschäftigten geht. Der Diakonie fällt es unter diesen Rahmenbedingungen zunehmend schwerer, ihren Auftrag der Gestaltung einer nach allen Seiten befriedigenden Dienstgemeinschaft zu erfüllen. Gleichzeitig will und muss sie sich an den ethischen Maßstäben messen lassen, die sich aus der christlichen Ethik ergeben und die auch in dieser Denkschrift vertreten werden.

Mit diesem Text legen wir Maßstäbe zur Gestaltung der Arbeitswelt vor. Sie sind im Dialog mit Gewerkschaften und Arbeitgebern erarbeitet worden und werden in vielfältigen

Veranstaltungen und Initiativen in der nächsten Zeit in die Gesellschaft eingespeist werden. Ich danke den Mitgliedern der Kammer für soziale Ordnung, insbesondere ihrem Vorsitzenden Gustav Horn, für die geleistete Arbeit.

Hannover, im April 2015

Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

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