Das Abendmahl
Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche
2. Theologische Probleme
Auf den ersten Blick scheint gegenwärtig der Orientierungsbedarf im Blick auf die Praxis des Abendmahls deutlich höher zu sein als der Klärungsbedarf im Blick auf das evangelische Verständnis des Abendmahls. Dafür spricht schon, daß sich für viele Menschen eine Fülle von eher praktischen Fragen stellt, wenn sie zum Gottesdienst kommen: Dürfen Kinder mitgebracht werden? Dürfen römisch-katholische und evangelische Partner konfessionsverbindender Ehen gemeinsam Abendmahlsbzw. Eucharistiegottesdienste der jeweils anderen Konfession besuchen? Was geschieht mit den Elementen Brot und Wein nach dem Gottesdienst? Auf der anderen Seite haben beispielsweise die heftigen Debatten über die Entwürfe für Feierabendmahle auf den Kirchentagen in Stuttgart 1999 und in Frankfurt 2001 gezeigt, daß sich hinter solchen praktischen Fragen in aller Regel theologische Probleme verbergen. Daher müssen, bevor zu den wichtigsten jener Fragen Antworten gegeben werden können (3.), die dahinterstehenden theologischen Probleme analysiert werden (2.2/2.3). Dafür ist aber zunächst darzustellen, welche Elemente des biblischen Befundes von den unterschiedlichen reformatorischen Bekenntnissen einerseits und der gemeinsamen »Leuenberger Konkordie« andererseits als wesentlich und verbindlich hervorgehoben werden (2.1).
2.1 Gibt es ein gemeinsames evangelisches Abendmahlsverständnis?
In der Leuenberger Konkordie von 1973 wird ein gemeinsames evangelisches Abendmahlsverständnis beschrieben, das der theologische Grund der Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern, Reformierten und Unierten ist. Da Positionen, die die evangelischen Konfessionen weiterhin unterscheiden (wie beispielsweise die zur Art und Weise der Präsenz Jesu Christi im Mahl), bei der Formulierung des gemeinsamen Grundverständnisses ausgeklammert wurden, können die Konfessionen die Konkordie in Übereinstimmung mit ihren eigenen Bekenntnistraditionen rezipieren. Aufgrund des fortgesetzten Nachdenkens über die biblischen Texte wie die reformatorischen Bekenntnisse und angesichts der seit 1973 geführten Lehrgespräche in der Leuenberger Kirchengemeinschaft ist für die Interpretation der Konkordie der Gedanke wichtig, daß das Abendmahl in besonderer Weise die neue Gemeinschaft, die aus dem neuen Bund zwischen Gott und Mensch erwächst, erfahrbar macht. Als Sakrament vermittelt es auch hier nichts anderes als die Wortverkündigung, aber es vermittelt dasselbe auf besondere Weise: Zur Verkündigung des biblischen Wortes kommt die Sichtbarkeit und Schmeckbarkeit (das Sakrament wird für bestimmte Sinne leibhaft zugänglich), eine spezifische Verbindung von Individualität und Gemeinschaft (das Sakrament wird an einzelne Personen in der gottesdienstlichen Gemeinschaft ausgeteilt) und der Bekenntnischarakter (das Sakrament muß vom Individuum ausdrücklich begehrt werden).
Im sechzehnten Jahrhundert kam es über das rechte Verständnis des Abendmahls zu scharfen öffentlichen Kontroversen zwischen verschiedenen reformatorischen Gruppen. Sie führten zu unterschiedlichen Abendmahlstheologien, die als kirchentrennend betrachtet wurden: Die lutherische Abendmahlslehre betont die reale Präsenz Jesu Christi nach seiner göttlichen und menschlichen Natur in, mit und unter den Elementen von Brot und Wein. Sie wird durch das göttliche Wort bewirkt und betrifft auch einen Menschen, der nicht glaubt (das Essen des Leibes und Blutes durch unfromme Menschen zum Gericht [1Kor 11,27], lateinisch: manducatio impiorum). Nach der reformierten Abendmahlslehre wird der gekreuzigte und auferstandene Christus im Heiligen Geist präsent und läßt sich als geistliche Speise darreichen. Er wird nur von Glaubenden empfangen (keine manducatio impiorum). Die Elemente sind für diese Tradition leibliche Zeichen, die die heilschaffende Präsenz Christi verbürgen. Nach verschiedenen Versuchen (besonders erfolgreich in der »Wittenberger Konkordie« von 1536) konnte man in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts diese Spaltung der evangelischen Bewegung überwinden, ohne die Geltung der jeweiligen Bekenntnisse der evangelischen Konfessionen in Deutschland deswegen antasten zu müssen.
Die gemeinsamen Erfahrungen des Kampfes gegen die nationalsozialistische Ideologie nach 1933 beschleunigten und intensivierten frühere Bemühungen, die Trennungen zu überwinden. Nachdem lutherische, reformierte und unierte evangelische Theologen bereits 1957 auf der Basis der biblischen Texte in den »Arnoldshainer Abendmahlsthesen« eine gemeinsame Formel über das Abendmahl gefunden hatten, wurde diese Formel in leicht modifizierter sprachlicher Form 1973 in die »Leuenberger Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa« aufgenommen, die inzwischen die Basis der Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen den meisten evangelischen Kirchen in Europa darstellt. Sie wird auch in der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland als theologische Basis der Kirchengemeinschaft der evangelischen Landeskirchen in Deutschland benannt (Artikel 1 Absatz 1). Die Formulierung lautet: »Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein. Er gewährt uns dadurch Vergebung der Sünden und befreit uns zu einem neuen Leben aus Glauben. Er läßt uns neu erfahren, daß wir Glieder an seinem Leibe sind. Er stärkt uns zum Dienst an den Menschen. Wenn wir das Abendmahl feiern, verkündigen wir den Tod Christi, durch den Gott die Welt mit sich selbst versöhnt hat. Wir bekennen die Gegenwart des auferstandenen Herrn unter uns. In der Freude darüber, daß der Herr zu uns gekommen ist, warten wir auf seine Zukunft in Herrlichkeit« (Abschnitte 15/16). Weiter heißt es: »Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein. So gibt er sich selbst vorbehaltlos allen, die Brot und Wein empfangen; der Glaube empfängt das Mahl zum Heil, der Unglaube zum Gericht« (Abschnitt 18). Diese gemeinsamen Formulierungen haben sich offenkundig in den evangelischen Konfessionen und darüber hinaus bewährt, was allein daran zu sehen ist, daß sie in vielen Lehr- und Konsenstexten zitiert werden. Sie lenkten den Blick von der alten Auseinandersetzung über die Art der Präsenz Jesu Christi in den Elementen Brot und Wein auf die grundlegende gemeinsame Überzeugung aller evangelischen Konfessionen vom Abendmahl: Jesus Christus ist als der Gastgeber des Abendmahls zugleich auch die Gabe, die im Abendmahl unter Brot und Wein gegeben wird und so den Gästen gegenwärtig wird. Der ganze Christus wird mit Brot und Wein gegenwärtig.
Er wird im Abendmahl also nicht nur über seine hörbaren Worte, sondern durch sichtbare und schmeckbare Zeichen gegenwärtig. Diese besondere Form der Präsenz, deren Art und Weise im Blick auf die Elemente weiter in Übereinstimmung mit der jeweiligen Bekenntnistradition unterschiedlich bestimmt wird, wird von den Konfessionen übereinstimmend als Personalpräsenz des Gekreuzigten und Auferstandenen bezeichnet. Sie ist insofern Realpräsenz Jesu Christi, als sie nicht vom gemeinsamen Akt des Essens und Trinkens getrennt werden kann. Damit wird zugleich deutlich, daß sich das evangelische Abendmahlsverständnis insoweit nicht von dem katholischen unterscheidet. Die Studie »Lehrverurteilungen – kirchentrennend?« des »Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen« hat 1986 verschiedene Gesprächsgänge zusammengefaßt und festgehalten, daß weder bei der Rede von der Gegenwart Christi im Abendmahl noch bei den Vorstellungen vom Modus dieser Gegenwart kirchentrennende Gegensätze zwischen evangelischen Kirchen und katholischer Kirche bestehen, da auch von katholischer Seite das gemeinsame »klare und unzweideutige Bekenntnis zur wirklichen Gegenwart Jesu Christi« nicht notwendigerweise an bestimmte Erklärungsmodelle wie das der Transsubstantiationslehre gebunden ist (S. 107). Allerdings sind diese Ergebnisse von den Kirchen nicht in vollem Umfang rezipiert worden (für Details und die entsprechenden Synodalbeschlüsse vgl. Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, Bd. IV, Göttingen/Freiburg 1994, S. 74-77. 128f. und H. Goertz, Dialog und Rezeption, S. 164-190, bes. S. 174-176).
Wenn man vom oben entfalteten biblischen Befund her fragt, wie sich solche Einsichten über den biblischen Text zu der gemeinsamen Formulierung in der Leuenberger Konkordie verhalten, so wird für die Interpretation der Formel besonders das Stichwort »Gemeinschaft« wichtig. Damit wird sowohl die Gemeinschaft zwischen Jesus Christus und den Gästen an seinem Tisch als auch die dadurch erst ermöglichte Gemeinschaft innerhalb der versammelten Abendmahlsgemeinde in den Blick genommen. Dieser Gedanke hat nicht nur die Theologie, sondern auch die Praxis reformatorischer Kirchen insofern schon immer bestimmt, da sie das Mahl der Gemeinschaft mit Christus grundsätzlich nicht ohne die versammelte Gemeinde gefeiert haben. Die Konkordie hat diesen Aspekt durch die Formulierung von den »Gliedern an seinem Leibe« aufgenommen, die »zum Dienst an den Menschen gestärkt« werden. Grund und
Ausdruck der neuen Gemeinschaft ist, daß uns die Sünden vergeben sind. Also steht das, was uns von Gott trennt, nicht mehr zwischen uns und ihm. Folge des neuen Bundes ist, daß Christen anders mit der Schöpfung Gottes und den Mitgeschöpfen, aber auch mit sich selbst umgehen. Schließlich steht der neue Bund zwischen Gott und Menschen, der im Abendmahl erfahrbar wird, auch in Verbindung mit den Bundesschlüssen des Alten Testamentes und erinnert die christliche Gemeinde an die vorlaufende Geschichte Gottes mit dem jüdischen Volk. Von daher verstanden, impliziert der Begriff »Gemeinschaft«, daß der Mensch durch die Beschädigung der Gemeinschaft mit Gott seine ursprüngliche Bestimmung verfehlt und daß umgekehrt die wieder geschenkte Gemeinschaft die Erfüllung seiner Bestimmung ist. Darum wird bis zur vollendeten Verwirklichung dieser Gemeinschaft im Reich Gottes Abendmahl gefeiert; darum findet sich in der Liturgie ein entsprechender eschatologischer Ausblick. In den gemeinsamen Lehrgesprächen der Leuenberger Kirchengemeinschaft zum Thema Sakramente, Amt, Ordination von 1989-1994 sind die entsprechenden Passagen der Leuenberger Konkordie genau in diesem Sinne interpretiert, und das gemeinsame Verständnis bekenntnisverschiedener evangelischer Kirchen ist in diesen Punkten vertieft worden (Abschnitt II.A.).
Weiter bestehende und teilweise besonders augenfällige Unterschiede zwischen der Abendmahlspraxis lutherischer, reformierter und unierter Gemeinden – wie beispielsweise die in manchen reformierten Gemeinden übliche Kommunion im Sitzen – gehen häufig nur auf regionale Besonderheiten oder Frömmigkeitsstile zurück und nicht auf die unterschiedlichen theologischen Akzentsetzungen der evangelischen Konfessionen, die nach wie vor im Blick auf die Art der Präsenz Jesu Christi in den Elementen bestehen, aber keinen kirchentrennenden Charakter haben. Die bestehenden theologischen Unterschiede sollten auch nicht abgeschliffen werden und durch ein Einheitsmodell von Abendmahlstheologie und -praxis ersetzt werden. Vielmehr sind die konfessionell unterschiedenen Abendmahlstheologien und Liturgien seit der Erklärung voller Abendmahlsgemeinschaft im letzten Jahrhundert kein Zeichen beklagenswerter Spaltungen mehr, sondern ein Zeugnis des Reichtums evangelischer Christen in Deutschland: Jeweils unterschiedliche Züge der pluralen biblischen Überlieferung sind betont, und doch wird der gemeinsame Kern aller individuellen Akzentsetzung nicht aus dem Auge verloren. Dieser theologischen Beobachtung trägt auch die neue Agende für die Evangelische Kirche der Union und die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, das »Evangelische Gottesdienstbuch« von 1999, Rechnung; sie bietet zwei gottesdienstliche Grundformen an, die jeweils ausgestaltet werden wollen. Ähnlichen Leitvorstellungen ist auch das neue reformierte Gottesdienstbuch, die »Reformierte Liturgie« von 1999, verpflichtet.
2.2 Veränderungen und Anfragen
Bestimmte Formen traditioneller evangelischer Abendmahlspraxis haben sich in den letzten Jahrzehnten als überholt erwiesen und sind aufgegeben oder jedenfalls stark verändert worden. Dazu gehört beispielsweise die Verdrängung des Abendmahls in separate gottesdienstliche Handlungen im Anschluß an die Hauptgottesdienste, die Beschränkung der Feier auf vier Termine im Jahr oder weniger, der Empfang von Oblate (bzw. Brot) und Wein unmittelbar aus der Hand der Spendenden in den Mund und anderes mehr. Das Klima der Abendmahlsgottesdienste hat sich geändert: Die bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts einseitig vom Bild des einzelnen Christen als eines Sünders vor Gott geprägte Handlung ist stärker zu einer gottesdienstlichen Feier der ganzen versammelten Gemeinde geworden. Neue Formen wie etwa das gegenseitige Spenden der Gaben in einem Kreis um den Altar herum oder der weitergegebene Friedensgruß sind sinnenfällige Gesten der Gemeinschaft und können Ausdruck der mit dem Abendmahl verbundenen Freude sein (vgl. Apg 2,46).
Für viele dieser Veränderungen können sich evangelische Gemeinden auf die einschlägigen biblischen Texte berufen und auf die neuen Einsichten, die bei ihrer Auslegung gewonnen werden konnten: Viele dieser Veränderungen der liturgischen Praxis des Abendmahls, die die Gabe neuer Gemeinschaft oder den Ausblick auf das endgültige Kommen Jesu Christi deutlicher machen, sind unmittelbare Umsetzungen einer Orientierung an biblischen Texten und insofern Zeichen eines lebendigen Bezugs auf die Heilige Schrift in den evangelischen Kirchen. Aber auch die Erneuerung der Eucharistiefrömmigkeit und -praxis in der katholischen Kirche wirkte anregend.
Nun wird aber auch gefragt, ob nicht bestimmte Züge des evangelischen Abendmahlsverständnisses sich in den letzten Jahrzehnten als überholt erwiesen haben und aufgegeben werden oder jedenfalls stark verändert werden müssen. Diese Elemente sind seit fast dreißig Jahren in der Diskussion, und neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß es sich keineswegs nur um Debatten unter Fachleuten handelt, sondern daß konkrete Anfragen und Bedenken aus Gemeinden hinter den Fachdebatten stehen.
Die Anfragen, die an das evangelische Abendmahlsverständnis gerichtet werden, lassen sich gruppieren:
- Da sind zum einen Anfragen aus der Ökumene. Orthodoxe, römisch-katholische und anglikanische Theologen fragen danach, wer die Feier leitet, und nach der Bedeutung der Ordination für diese Funktion. Sie fragen nach dem Umgang mit den Elementen nach dem Abendmahl und den präzisen Vorstellungen über die Präsenz Jesu Christi in den Elementen. Diese Anfragen werden in den verschiedenen ökumenischen Gesprächsgängen zwischen den Kirchen behandelt und sind hier nicht ausführlicher darzustellen. Auf die Stellen, wo sie zu Korrekturen an der evangelischen Abendmahlspraxis führen sollten, wird im dritten und letzten Abschnitt dieser Orientierungshilfe Bezug genommen.
- Zum anderen gibt es Anfragen aus evangelischen Gemeinden selbst, die darauf hindeuten, daß bestimmte Elemente der evangelischen Abendmahlstheologien nicht mehr bekannt sind oder nicht mehr verstanden werden. Diese Anfragen betreffen vor allem drei Sachverhalte: (1) Weil es Schwierigkeiten mit der Vorstellung von Sünde und Schuld gibt, wird von Gemeindegliedern die starke Bedeutung dieses Themenkomplexes im Abendmahl als problematisch empfunden (»Kommt her, verzagte Sünder«: EG 213,2). (2) Die Rede davon, daß Jesus Christus sein Leben am Kreuz für die vielen geopfert hat und dieses Opfer den Menschen Versöhnung mit Gott brachte, wird von vielen kaum mehr verstanden. Texte wie Lieder, die diese Vorstellung enthalten oder von denen vermutet wird, daß sie diese Vorstellung enthalten, werden abgelehnt. (3) Die Rede von Leib und Blut erweckt offenbar bei einigen Christen unangenehme Assoziationen und abwegige Vorstellungen. Die Vermutung, daß es nicht nur alters- und konfessions- bzw. frömmigkeitsspezifische Zugangsweisen zum Abendmahl gibt, sondern auch geschlechtsspezifische, scheint sich nach neueren Untersuchungen zu erhärten. Manche Menschen haben verletzende Erfahrungen mit dem Thema »Opfer« gemacht, und besonders Frauen denken über die Frage nach, ob auch von Sünde geschlechtsspezifisch geredet werden müsse.
Sicher ist, daß schon aufgrund der zunehmenden Kirchendistanz selbst von Kirchenmitgliedern und aufgrund des allgemeinen Zurückgehens von Grundkenntnissen über das Christentum in der Gesellschaft diese Anfragen ernst genommen werden müssen: Wenn schon engagierten Gemeindegliedern Teile des evangelischen Abendmahlsverständnisses unklar und daher fraglich werden, dann ist erst recht anzunehmen, daß Sinn und Praxis des Abendmahls vielen Menschen, die der Kirche fernstehen, kaum mehr verständlich sind.
Die Frage, ob aufgrund der genannten Anfragen nicht bestimmte Elemente des evangelischen Abendmahlsverständnisses aufgegeben werden oder jedenfalls stark verändert werden müssen, kann nur so beantwortet werden, daß vom biblischen Befund ausgegangen wird, wie er oben dargestellt worden ist.
2.3Evangelische Antworten
Die genannten Elemente des evangelischen Abendmahlsverständnisses, die gegenwärtig einzelnen Christen nicht mehr oder jedenfalls kaum noch verständlich sind (die Rede von Sünde und Schuld, Opfertod und Sühne sowie von Fleisch und Blut), sind biblische Ausdrucksweisen, die unmittelbar mit dem Realitätscharakter der Feier zusammenhängen. Der Mensch, der beim Abendmahl Gast des Gekreuzigten und Auferstandenen ist, ist gleichzeitig ein Sünder und Gerechtfertigter. Er ist gleichzeitig ein Mensch, der die Gemeinschaft mit Gott beschädigt hat und der trotzdem von Gott aus Gnaden allein gerecht gesprochen wird. Deshalb müssen in der Feier immer diese beiden Dimensionen thematisiert werden. Im Abendmahl wird die Sünde vergeben und zugleich die dadurch ermöglichte enge, leibhafte Gemeinschaft mit Gott und unter den Menschen gefeiert; im Abendmahl wird für das eine Opfer gedankt, das die Notwendigkeit aller anderen kultischen Opfer ein für allemal beendet hat. Mit seinem Fleisch und Blut kommt der Gastgeber als Gabe den Menschen näher, als diese sich selbst sein können, und befreit sie aus ihrer Fixierung auf sich selbst. Die von vielen Menschen als problematisch empfundenen Aspekte des Abendmahls beschreiben – recht verstanden – sowohl den Verlust der ursprünglichen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch als auch ihre Wiederherstellung als unzerstörbares gemeinsames Leben der Töchter und Söhne Gottes mit ihrem Schöpfer. Dieses neue Leben wird durch den Heiligen Geist geschenkt und verbindet die Menschen auch untereinander.
2.3.1 Sünde und Schuld – Gottesferne und neue Gemeinschaft
Der Tod am Kreuz läßt sich als Eröffnung einer neuen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch beschreiben. Deswegen wird auf der einen Seite von der Sünde des Menschen geredet, die diese Gemeinschaft zerbrochen hat, und auf der anderen Seite davon, daß Jesus Christus die Gemeinschaft wiederhergestellt hat, indem er die Sünden der Welt auf sich genommen hat.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Thematik von Sünde und Schuld unmittelbar mit dem Abendmahl, wie es im Neuen Testament beschrieben wird, verbunden ist: Jesus feiert sein letztes Mal in der Nacht des Verrates, und die Identifikation des Verräters fand nach dem Zeugnis von zwei Evangelien unmittelbar vor der Einsetzung des Abendmahls statt, nach Lukas unmittelbar danach (Lk 22,21-23). Matthäus erläutert das »für euch gegeben« bzw. »für euch vergossen« mit der Hinzufügung »zur Vergebung der Sünden« (Mt 26,28). Auch die Formulierung »neuer Bund« in den Einsetzungsworten ist an ihrem ursprünglichen Ort im Buch des Propheten Jeremia (Jer 31,31) eng mit dem Thema verbunden: »Ich will ihnen ihre Missetaten vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken« (Jer 31,34). Zudem verweist auch die enge Verbindung des letzten Mahles Jesu mit dem Passa-Fest, die mindestens bei den drei Evangelisten Matthäus, Markus und besonders bei Lukas die Berichte prägt, auf die mit diesem jüdischen Fest verbundene Tilgung von Sünde und Schuld. Sünde ist dabei nach biblischem Verständnis ein verfehltes Verhältnis zu Gott, ja ein tiefes Gefangensein in der Gottesferne, eine Bestimmung allen Denkens und Handelns durch gottferne Mächte, Normen oder Instanzen. Sie verdirbt die Beziehung zu anderen Menschen und das Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Sünde ist also gerade nicht die ethische Qualifikation einer bestimmten Handlung (wie in der Umgangssprache: »Verkehrssünde«). Schuld beschreibt die Konsequenz aus der Verantwortlichkeit des Menschen für bestimmte Handlungen, die aus dieser falschen Lebensorientierung heraus ausgeführt werden und hinter der Forderung zurückbleiben, die Gott selbst zu Recht an das Verhalten von Menschen stellen darf. Schuld bezeichnet das Zurückbleiben hinter dieser legitimen Forderung. Auch im Neuen Testament setzt die Rede von einer neuen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, von der Versöhnung, stets ein Ernstnehmen der Tatsache voraus, daß die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch schwer beschädigt war und erst wiederhergestellt werden muß. Jesus Christus hat die Gemeinschaft wiederhergestellt, indem er die Sünden der Welt auf sich genommen hat.
Eine Vermittlung dieses biblischen Befundes in den Gemeinden ist nach wie vor möglich, weil die durch das Vokabular der Tradition beschriebene Wirklichkeit von Sünde und Schuld in den Gemeinden und in der weiteren Öffentlichkeit ja ungeachtet aller Schwierigkeiten mit diesen Begriffen präsent geblieben ist: Viele Menschen nehmen in ihrem eigenen Leben nicht nur Schuld in verschiedensten Formen und Intensitäten wahr, sie empfinden darüber hinaus schmerzlich, daß die Grundorientierung ihres Lebens fehlgeleitet war oder ist. Diese empirische Beobachtung läßt sich keineswegs allein nur an der Weltkriegsgeneration machen, sondern auch bei erheblich jüngeren Menschen. Es kommt alles darauf an, die Rede von der Sünde im Kontext des Abendmahles in den Gemeinden so zu formulieren, daß Menschen sie verstehen und nachempfinden können. Zugleich darf aber nicht verschwiegen oder banalisiert werden, daß Tilgung von Sünde das individuelle Bekenntnis voraussetzt. Es schließt die Aufdeckung der großen und kleinen Lebenslügen von Menschen vor Gott ein (vgl. Röm 3,4). Es muß deutlich werden, daß diese Zusammenhänge zu dem besonderen Realitätscharakter des Abendmahls gehören. Wie die neue Gemeinschaft mit Jesus Christus im Abendmahl unter den Elementen von Brot und Wein in einer ganz besonderen sinnlichen Dichte und Realität erfahrbar ist, so wird auch in einer ganz realistischen Weise im Abendmahl vom Menschen geredet: Er wird einerseits als der von Gott getrennte Mensch angesprochen, er wird aber andererseits auch als der in einer neuen Gemeinschaft mit Gott befindliche Mensch angeredet und darf diese Gemeinschaft unmittelbar erfahren. Wird die erste Hälfte dieses doppelten Blicks auf den Menschen, die eine Seite der Erfahrung im Abendmahl, weggestrichen, so verliert die Feier ihren Realitätscharakter und damit letztlich einen guten Teil ihrer tröstlichen Funktion: Es ist die konkrete Realität eines Individuums, das in eine reale Gemeinschaft mit Jesus Christus hineingenommen wird, nicht eine verklärte Feiertagsexistenz. Im Abendmahl werden die inneren und äußeren Bedrohungen dieser Welt, der individuellen Existenzen zum Thema. Im Verrat des einen Jüngers Judas, der nach dem Verrat am Abschiedsmahl teilnahm, werden die vielen zum Thema, die andere verraten und sich kaufen lassen. In den nach dem Mahl schlafenden Jüngern werden die vielen zum Thema, die nicht wachen Auges ihren Aufgaben Gott und ihren Mitmenschen gegenüber gerecht geworden sind. In der dreifachen Verleugnung des Petrus werden die vielen zum Thema, die sich unter äußerem Druck ihres Glaubens schämen.
Die fehlgeleitete Lebensorientierung wird allein aus Gnaden umgewendet und neu auf Gott ausgerichtet; aus Lebenslügen wird befreit zu wahrem und wahrhaftigem Leben. Die Schuld ist vergeben, und so werden den Menschen auch untereinander konkrete Gesten und Worte möglich: »Ich bitte um Verzeihung«. Auf diese Weise wird die Rede von Sünde im Abendmahl existentiell konkretisiert, als Beschreibung des Zustandes der ganzen Welt wahrgenommen und bleibt vor einem schlichten Mißverständnis als rein moralisierender Aussage über individuelle Handlungen bewahrt. So kann auch die seelsorgliche Dynamik der alten Texte und Lieder entdeckt werden: »Kommt her, verzagte Sünder, und werft die Ängste weg« (EG 213,2) oder »... laß die dunkle Sündenhöhle, komm ans helle Licht gegangen« (EG 218,1). Dabei ist schon aus seelsorglichen Gründen deutlich zu machen, daß es nicht einfach um bestimmte Sprachgestalten, sondern um den Realitätsgehalt der biblischen Passagen und der auf ihnen beruhenden Texte geht.
Menschen, deren Situation durch Ohnmacht, Unterwerfung und Demütigungen charakterisiert ist, wird hoffentlich keiner ausschließlich auf ihre Gottesferne und deren ethische Konsequenzen ansprechen wollen, wie umgekehrt in unseren Gesellschaften auch nicht jeder, der sich selbst zum Opfer erklärt, auch ein Opfer genannt werden sollte.
2.3.2 Opfertod und Sühne – Lebenshingabe und Lebensgewinn
Angesichts der verbreiteten Kritik an den Vorstellungen eines Opfers Jesu am Kreuz und der sühnenden Wirkung dieses Opfers ist es wichtig, zunächst darauf aufmerksam zu machen, daß es sich um biblische Deutungen des Lebensschicksals Jesu handelt (Eph 5,2; Hebr 8,2). Von Opfer kann man in zweierlei Hinsicht reden: Jesus von Nazareth war zunächst ein Opfer bestimmter politischer Umstände (englisch: victim), und diese unmittelbare Identifikation Gottes mit einem Opfer kann Menschen trösten. Aber Jesus hat durch die opfernde Hingabe seines Lebens (englisch: sacrifice; vgl. aber Gal 3,10-14) zugleich auch neue Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch möglich gemacht. Wenn im Neuen Testament der Tod Jesu als »Opfer« verstanden wird, dann werden damit drei verschiedene Dimensionen zum Ausdruck gebracht: Der Tod Jesu ist einerseits ein Akt vollständiger Hingabe an Gott, andererseits eine besondere Selbsthingabe Gottes, die alle kultischen Opfer überflüssig macht, und schließlich die definitive Tilgung menschlicher Sünde.
Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß das Abendmahl mit dem Thema »Opfer« verbunden ist. Dieses Thema ist eines der schwierigsten und wird nicht erst in der Gegenwart äußerst kontrovers debattiert. Während lange zwischen katholischen und evangelischen Theologen darüber gestritten wurde, ob das Abendmahl als Opfer verstanden werden kann und wie es sich zum Kreuzesopfer verhält, ist heute das Opfer Jesu Christi am Kreuz selbst strittig. Diese Verlagerung der Debatte ist insofern sachgemäß, als auch katholische Theologen heute versichern, daß das einmalige Kreuzesopfer Jesu »weder fortgesetzt noch wiederholt, noch ersetzt, noch ergänzt werden« kann (Das Herrenmahl, Abschnitt 56, S. 288), und von dieser Versicherung die umstrittene kirchenhistorische Frage getrennt werden kann, ob so die einschlägigen Bestimmungen des Konzils von Trient 1562 über das Meßopfer angemessen ausgelegt sind.
Seit dem Mittelalter ist die Rede vom Opfer in der theologischen Tradition als Kompensation für die vom Menschen nicht überwindbare Sünde der Welt gedeutet worden, als Voraussetzung für die Besänftigung des göttlichen Zorns. Diese spezifische Funktion des Opfers wurde dann mit der Tradition als »Sühne« bezeichnet. Die mit einer solchen Interpretation des Kreuzes als »Sühnopfer« verbundenen unbiblischen Bilder von einem zornigen Gott, der eine Kompensation für die Sünde der Menschheit verlangt, haben nicht nur seit vielen Jahrhunderten mehr oder weniger deutliche Kritik, sondern immer wieder auch Polemik erfahren. Exegetische und historische Arbeiten der letzten Jahre haben zeigen können, daß durch diese Deutung der Zusammenhang von Opfer und Sühne falsch interpretiert worden ist. Sie wird biblischen Rechtsvorstellungen nicht gerecht, weil sie übersieht, daß Gott selbst die Initiative zur Versöhnung zwischen sich und den Menschen ergreift. Vor allem im letzten Jahrhundert hat die Vorstellung von einem Opfertod am Kreuz völlig neue und schreckliche Assoziationen bekommen; sinnloses Massensterben ist als »Opfertod fürs Vaterland« verklärt worden und hat den alten theologischen Begriff erkennbar kontaminiert. Menschen, die von wem auch immer in eine Opferrolle gedrängt wurden, hören die Rede von einem heilsamen Opfer mit Widerwillen. Dagegen ist aus dem Neuen Testament zu lernen, daß das »Opfer des Leibes Jesu Christi« ein für allemal jede andere Art von kultischem Opfer überflüssig macht (Hebräer 10,10) und auch die Rede von der Pflicht eines menschlichen Opfertodes höchst problematisch ist.
Entscheidend für den gegenwärtigen Umgang mit solchen durch das Thema »Opfer« aufgeworfenen Problemen ist, zunächst den neutestamentlichen Befund differenziert darzustellen und sich dann zu fragen, wie der Tod Jesu heute angemessen als Opfer verstanden werden kann.
- Zunächst ist der Tod Jesu ein »Opfer« im übertragenen Sinne eines Aktes der völligen Hingabe Jesu an Gott, im Sinne einer Zustimmung zu seinem Geschick als dem Willen des Vaters (Mk 14,36). Entsprechend ist das Abendmahl keine allgemeine Aufforderung zur Hinnahme von beliebigem Leiden oder Dulden, und eine Kritik an entsprechender Mißdeutung ist berechtigt. Die Deutung des Opfers am Kreuz als Hingabe impliziert vielmehr, daß Jesus sich und seinem Leben für andere Menschen bis ans Kreuz treu geblieben ist. In Jesus ist Gott selbst diesen Weg gegangen und so den Menschen unendlich nahe gekommen. Er wurde zugleich ein Opfer (englisch: victim) ganz bestimmter politischer und religiöser Machtverhältnisse. Schon eine solche Explikation der Rede vom »Opfer Jesu« kann eine erhebliche tröstliche Funktion entfalten.
- Dann ist der Tod Jesu am Kreuz ein »Opfer« im eigentlichen Sinne des Begriffes (englisch: sacrifice), das sich allerdings radikal von anderen kultischen Opfern in den Religionen unterscheidet: Hier versöhnt nicht ein Mensch durch sein Opfer einen zornigen Gott, sondern in Jesus Christus opfert Gott sich selbst durch seinen Tod am Kreuz für die Sünde der Menschen: »Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung« (2Kor 5,19). In dem Akt der freiwilligen Selbsthingabe Jesu überwindet die Liebe Gottes die Macht menschlicher Sünde. Das Verständnis des Kreuzes als Opfer macht also die religiöse Institution der menschlichen Opfer vor Gott überflüssig.
- Schließlich ist der Tod Jesu am Kreuz für bestimmte neutestamentliche Autoren ein Opfer im kultischen Sinne des sogenannten »Sühnopfers« (Röm 3,25 und 1Joh 2,2; 4,10). Zu den Voraussetzungen für ein solches Sühnopfer im Alten Testament gehört vor allem das vierte Lied vom Gottesknecht (Jes 52,13-53,12), der »um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen« wurde (Jes 53,5). In diesem Text ist die Vorstellung ausgedrückt, daß ein Mensch in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes stellvertretend für die Schuld des Volkes und zu deren Vergebung Leiden auf sich nimmt; das Lied hat in die Karfreitagsliturgie der Kirche Eingang gefunden. Im alttestamentlichen »Heiligkeitsgesetz« wird der Stellvertretungsgedanke aufgenommen und in den Kult verlagert (3. Mose 17,11). Hier stirbt ein Tier, dessen Blut auf den Altar hingegossen wird und aufgrund des darin enthaltenen Lebens für das Leben des Opfernden Sühne wirkt. Die enge Verbindung zwischen dem Opfernden und dem Opfertier kommt im Ritus der Handaufstemmung beim Schlachten zum Ausdruck (vgl. 3. Mose 4,4.15.24-29 und öfters). Theologisch bedeutsam ist, daß nach alttestamentlicher Vorstellung das Opfer zur Sühne nicht Menschenwerk, sondern eine Gabe Gottes in einer Situation ist, in der der Mensch Sünde und Schuld nicht mehr selbst entfernen kann: Denn »ich (Gott) habe es (das Blut) für euch auf den Altar gegeben, um Sühne zu erwirken für eure Leben« (3. Mose 17,11). Ein Verständnis des alttestamentlichen Kultes als Selbsterlösung des Menschen ist damit ausgeschlossen. Daher konnten neutestamentliche Autoren den Tod Jesu am Kreuz nicht nur als Opfer, sondern als Sühnopfer im Sinne der alttestamentlichen Vorstellung interpretieren.
Die Vorstellung, Jesus sei am Kreuz als Gottesknecht stellvertretend für die Sünden der vielen gestorben, ist heute für viele Menschen nur schwer nachvollziehbar, weil sie davon ausgehen, daß Schuld von einem mündigen Individuum nicht auf ein anderes übertragen werden kann und jeder selbst für seine Schuld aufkommen muß. Allerdings zeigen viele Erfahrungen aus der jüngeren deutschen Vergangenheit (wie beispielsweise die Arbeit der »Aktion Sühnezeichen«), daß eine grundsätzliche Ablehnung der Möglichkeit von stellvertretender Sühne schon empirisch nicht überzeugt. Vor allem muß man aber gegenüber solchen Bedenken vom Neuen Testament her einwenden, daß Gott die innerweltliche Regel der unabweisbaren Eigenverantwortlichkeit gerade durchbricht. Auch dieser Hinweis hat für viele Menschen einen nicht zu unterschätzenden tröstlichen Charakter.
2.3.3 Leib und Blut – Leiblichkeit und Nähe Jesu Christi
Zu dem besonderen Realitätscharakter des Abendmahls gehört, daß in ihm die Leiblichkeit Jesu beständig thematisiert wird und nicht an eine ins rein Geistige verflüchtigte Erscheinung erinnert wird. Wie die Debatten zeigen, von denen im Johannesevangelium berichtet wird, hat diese konkrete Leiblichkeit im Abendmahl von Anfang an Anstoß erregt und wird bis in die Gegenwart mißverstanden: »Da stritten die Juden untereinander und sagten: ›Wie kann der uns sein Fleisch zu essen geben?‹« (Joh 6,52). Deswegen hängt viel davon ab, ob es gelingt, die für das Abendmahl konstitutive Rede vom Essen des Leibes und Trinken des Blutes verständlich zu formulieren und Mißverständnisse zu vermeiden.
Wenn gesagt wird, daß Gott im Abendmahl unter Brot und Wein den Menschen in Leib und Blut Jesu Christi nahe kommt, dann kann das so verdeutlicht werden: Jesus Christus wendet sich uns nicht nur in seiner göttlichen Realität zu, sondern als der Mensch, der für uns gelebt und gelitten hat. Die neue Gemeinschaft mit Gott betrifft nicht nur den Geist oder irgendwelche anderen scheinbar »besseren Teile« menschlicher Existenz, vielmehr wird das ganze irdische Leben mit Leib und Blut in die Gemeinschaft mit Gott hineingenommen. Daß im Abendmahl sein Leib und Blut ausgeteilt wird, zeigt: Gott kommt den Menschen näher, als diese sich selbst nahe zu sein vermögen. Leib und Blut meinen die äußerlich wahrnehmbare Lebendigkeit und zugleich die innere Lebenskraft, die »gegessen«, die also mit der eigenen Lebendigkeit und Lebenskraft unmittelbar und konkret verbunden wird. Mit Leib und Blut schenkt Jesus Christus seine Lebendigkeit und Lebenskraft und stärkt so unser eigenes ebenso schwaches wie bedrohtes Leben. Gäste am Tisch des gekreuzigten und auferstandenen Herrn sind nicht mehr sich selbst die Nächsten, sondern sind sich in einem bestimmten Sinne endlich los, sind ihre Fixierung auf sich selbst und damit sich selbst in ihrer Selbstfixierung los. Sie werden gestärkt: Gott kommt mir »noch näher als mein Innerstes und höher noch als mein Höchstes« (Augustinus, Bekenntnisse III 6,11).