75 Jahre Barmer Theologische Erklärung

Barmen gepredigt

Tante Barmen hat Geburtstag

Predigt von Manuel Schilling, Sennestadt


Pfingstsonntag   -   31.5.2009
Kreuzkirche Sennestadt   -   Martin-Luther-Kirche Gütersloh
75. Jahrestag der Barmer Theologischen Erklärung

Liebe Gemeinde,

I.
Tante Barmen wird 75 Jahre alt. Grund genug, ihr mal wieder einen Besuch abzustatten. Man kommt ja nicht alle Tage bei ihr vorbei. Und wie lange wird sie noch unter uns sein? Ein Pläuschchen bei ihr lohnt sich immer. Sie ist schon eine außerordentliche alte Dame.
Außerdem ist sie recht einfach zu erreichen. Nicht einmal 5 Minuten von der Schwebebahnstation Alter Markt hat sie ihr Zuhause. Sie wohnt recht schick in der imposanten neoromanischen Gemarker Kirche des 19. Jahrhunderts, gleich neben einer Moschee und – wieder – einer Synagoge, mitten im Geschäftszentrum der Wuppertaler Innenstadt.
Natürlich spürt man Tante Barmen das Alter an. Sie stammt eben aus einer anderen Zeit, wenn sie spricht, muss man ihren komplizierten Sätzen genau zuhören. Aber Tante Barmen überlegt sich genau, was sie sagt. Und sie hat immer noch Feuer. Wenn es um ihr Lieblingsthema geht: was soll die Kirche heute tun?, dann kennt sie kein Pardon. Was sie schlecht findet, nennt sie auch schlecht, und was sie gut findet, das nennt sie gut. Tante Barmen hat eben einen Standpunkt. Natürlich führt jeder Standpunkt im Extremfall zur Einseitigkeit, aber nichts ist schlimmer als jemand ohne Standpunkt. Bei Tante Barmen weiß man, wen man vor sich hat, und oft genug erstaunt sie einen mit neuen überraschenden Ideen.

II.
Am beeindruckendsten ist es für mich, wenn Tante Barmen aus ihrem Leben erzählt. Das beginnt schon mit ihrer Geburt. Eigentlich hatte es sie gar nicht geben sollen. Ihre Eltern – auf der einen Seite die konservativen Lutheraner, auf der anderen Seite die linksprotestantischen Theologen aus Berlin und dem Ruhrgebiet – waren sich eigentlich spinnefeind. Aber dann kamen sie doch notgedrungen zusammen, und auf einmal war Tante Barmen da. Zunächst haben sich alle über sie gefreut, aber dann trennten sich die Eltern, und Tante Barmen musste in der harten NS-Zeit sehen, wie sie durchkam. Sie wanderte mit in die Verhörzimmer der Gestapo, begleitete junge Pfarrer in die Schützengräben an der Ostfront, fand sich plötzlich in russischen Kriegsgefangenenlagern wieder. In der Nachkriegszeit zur EKD-Gründung stritten sich die Eltern um das Sorgerecht der 12jährigen. Mit 25 Jahren, zum Atomwaffenstreit Ende der 50er Jahre kriegte sie noch eine junge Schwester, die „Frankfurter Erklärung“, die aber bald starb. Bitter wird die Stimme von Tante Barmen, wenn sie erzählt, wie sie in den 60er und 70er Jahren vergessen wurde, bis man zur Zeit der Friedensbewegung sie wieder brauchte, weil Gegner wie Befürworter der Nachrüstung sie jeweils auf der eigenen Seite haben wollten. Aber Glanz kommt in ihre Augen bei der Erinnerung an die Ostberliner Hinterzimmer, wo sie bei den Basisgruppen dabei war und half, die Bürgerbewegung der DDR aufzubauen, die später die DDR-Wende anstieß.

III.
Dann ist es still. Tante Barmen hat ausgeredet. In die Stille hinein fragt sie mit einem feinen Lächeln: „Und was willst du heute? Womit kann ich dir helfen?“
Da sitze ich. Ja, was wollen wir heute? Wir, die Kirche aus dem Jahre 2009, die junge Generation, die an der Kirche des 21. Jahrhunderts mitbauen soll.
Das allererste, was mir bei meiner Gemeinde einfällt, ist: Wir brauchen mehr Geld. Denn unsere Gebäude sind stark sanierungsbedürftig. Weiß Tante Barmen, wie viel eine historische Kirche kostet? Unsere Mitarbeiter möchten wir gerne alle weiter behalten. Sie arbeiten gut und sind auf das Verdienst bei uns angewiesen. Und wenn es einfach nur ein solides Sponsorenmanagement wäre, das Kontakte zu den finanziell potenten Personen in unserem Umfeld vermittelt. Außerdem brauchen wir vertrauensvolle Beziehungen zu den öffentlichen Körperschaften, Stadt und Land. Unsere Medienarbeit muss dringend professioneller werden, damit wir besser ins Gespräch kommen. Wenn all das stimmt, dann wären wir schon ein Stück weit erleichtert, dann könnten wir die Kirche der Zukunft bauen und womöglich auch gegen den Trend wachsen. Denn das wollen wir.
Das Lächeln von Tante Barmen wird spitzer: „Da kann ich dir nicht helfen.“
„Ist das zu viel verlangt?“, frage ich.
Tante Barmen schüttelt den Kopf: „Nein, zu wenig.“
„Was hast du uns denn anzubieten?“
Tante Barmen blickt zum Fenster heraus: „Gold und Silber habe ich nicht. Aber die Erinnerung. Euer Fall ist ja genau so hoffnungslos wie der meiner Eltern damals zu Beginn des NS. Dennoch sind sie durchgekommen. Nicht, weil sie es besonders gut gemacht hätten, sondern weil Gott sie getragen hat. Und ich habe als junges Ding dabei mithelfen dürfen. Darauf bin ich bis heute stolz. Deshalb will ich euch als alte Dame heute das sagen, was ich damals meinen Eltern gesagt habe, die vor lauter Sorgen gar nicht mehr aus noch ein wussten. Mein Rat, den ich euch gebe, beginnt mit einer Frage: Was ist für euch das Wichtigste? Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben, wenn alles andere verloren gegangen ist? Also, entscheide dich.“

IV.
Alte Worte ziehen durch meinen Kopf, 75 Jahre alte Worte, die ich im Studium kennen gelernt und analysiert habe, die ich aber weggelegt habe wie zerschlissene Kleider beim Eintritt in das Pfarramt: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“
Ein Bild steigt auf, das Bild meines Großvaters im Keller des Kriegsgefangenenlagers, der mit einem Kameraden sitzt, ohne Essen und ohne Licht. Wie lange er dort ist, weiß er nicht, er hat das Zeitgefühl verloren. Er betet mit seinem Kameraden. Später berichtet er seinen Enkeln: Auf einmal hatten wir den Eindruck, wir waren nicht mehr allein. Da war ein dritter im Keller.
Ein anderes Bild schiebt sich darüber, das des krebskranken Regisseurs Christoph Schlingensief: Aus seiner postmodernen Bilderbuchkarriere herausgeschleudert, zwischen Klinik, Bayreuther Festspielen und seiner Frau Aino, schreit er tausend Fragen an den Himmel in sein Diktiergerät. Und weil der Himmel verschlossen ist, fragt er Jesus nach dem Sinn des ganzen Leidens.
Wenn es hart auf hart kommt, dann ist Jesus die richtige Adresse, weil nämlich auch er an der Welt und an Gott gelitten hat, und weil er unsere Schreie weiterleitet mit einem viehischen Schrei am Kreuz, hinein in den dunklen Himmel.
Wenn man wirklich Kraft braucht, dann ist Jesus die richtige Adresse, weil er nämlich in der Helligkeit der Morgensonne vor seinen Freunden steht und sie anhaucht mit einem Hauch voller Zärtlichkeit, und dieser Hauch in uns fällt und unsere Seele zum Jubel hin öffnet.
Ein anderes Wort fällt mir ein: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“
Und ich sehe meinen Freund vor mir, der – Chef eines kleinen Familienbetriebes und ein einfacher Mann ohne große theologische Vorkenntnisse – ganz schlicht erklärt: „Wir halten in unserem kleinen Betrieb die Leute, so lange es geht. Wenn alle in Panik geraten und die Leute auf Teufel komm heraus entlassen, dann geht doch alles den Bach herunter.“
Wenn es hart auf hart kommt und wir nicht mehr wissen, wonach sich richten, dann ist Jesus die richtige Adresse, weil er nämlich immer auf souveräne Weise das Unerwartete tat, sich keinen sogenannten Sachzwängen unterwarf, weil er die weite Pforte und den breiten Weg ausschlug und die enge Pforte und den steilen Weg wählte.
Wenn man wirklich Kraft braucht, dann ist Jesus die richtige Adresse, weil er großzügig seine Kraft an die hoffnungslosen Fälle weggab und nicht danach fragte, wieviel Zinsen er von ihnen zurück bekommen würde.

V.
„Entschuldigung, was ist los mit dir? Hat dir der Tee nicht gut getan?“ Tante Barmen steht vor mir, ihr Gesicht besorgt über mich gebeugt.
„Nein danke, alles in Ordnung. Ich bin nur durcheinander.“
„Das ist gut. Durcheinander war ich auch oft. Das hält jung.“
Tante Barmen richtet sich auf: „Entschuldige mich, ich ziehe mich etwas zurück. Du weißt ja, alte Leute brauchen Ruhe. Und ich möchte euch noch lange erhalten bleiben. Auf Wiedersehen, und bis zu meinem 80!“ Mit erstaunlicher Behendigkeit ist sie zur Tür hinaus.
Ich habe ihr gar nicht die Hand geschüttelt. Ich eile über den Mittelgang zwischen den Bänken zur Haupttür, um sie einzuholen. Ich reiße die Tür auf und sehe auf die Straße. Tante Barmen ist fort.
Die Junisonne fällt auf mein Gesicht. Da stehe ich in Wuppertals Innenstadt, ein jugendliches Paar schlendert mit einem Eis in der Hand, eine verschleierte Muslima hält ihr Kind, ein Rentner wartet an der Ecke auf seinen Hund.
Jesus Christus, das eine Wort Gottes, der Gottessohn, der stirbt und aufersteht – das ist ein grandioses Hoffnungsbild, das noch im Sterben hält. Zumindest hat es schon viele Menschen gehalten.
Und Jesus Christus, das eine Wort Gottes, der Menschensohn, der in seinem Leben Zeit fand für die Unproduktiven, die Versager und die Unnützen – das ist ein begeisterndes und anstrengendes Vorbild, das noch in der Weltwirtschaftskrise vor der Kopflosigkeit bewahrt. Zumindest versuchen viele Christen, sich daran zu orientieren.
Dieses eine Wort Gottes, wird es auch in Zukunft halten? Das frage ich im Blick auf die Wuppertaler Einkaufsstraße, im Blick auf diese bunte Welt, die jeder Kontrolle entrissen zu sein scheint. Werde ich es schaffen, „durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“? An dieses Volk?
Da taucht oben über der Straße auf dem Bahnsteig der Schwebebahn Tante Barmens Gestalt auf. Zu weit, um sie noch einzuholen. Sie formt die Hände vor ihrem Mund zum Trichter und ruft durch die Fußgängerzone mir zu: „Umgekehrt wird ein Schuh draus. Willst du dich selber an das eine Wort halten?“
Bevor ich zurückrufen kann, ist der Zug eingefahren. Tante Barmen verschwindet. Ein paar Sekunden später schwebt sie davon.
Du weißt doch, Tante Barmen. Wie gerne möchte ich mich an das Wort halten. Vielleicht hat das ja noch Sinn, inmitten der ganzen Finanz- und Strukturfragen, umgeben von den hoffnungslosen Fällen meiner Vorstadtgemeinde und angesichts der katastrophalen Bilanzen Kirche zu sein, „mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass wir allein sein Eigentum sind, allein von seinem Trost und seiner Weisung leben und leben möchten.“
Ja, das möchte ich, das möchten wir.
Dazu helfe uns Gott.
Amen.

Manuel Schilling