Unsterblichkeit und Würde. Kant zu Ehren

Wolfgang Huber

St. Michaelis zu Hamburg

Vortrag am 200. Todestag Immanuel Kants, dem 12. Februar 2004, in St. Michaelis zu Hamburg auf Einladung der Patriotischen Gesellschaft von 1765 und der ZEIT-Stiftung.

I.

Kant verdient Ehre um der Antworten willen, die er hinterlassen hat. Mehr noch aber verdient er Ehre um der Fragen willen, die er stellte. Dabei sind diese Fragen einfach und schnell in Erinnerung gerufen. Knapp zusammengefasst finden sie sich in der berühmten Trias: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“

Im Blick auf Kants Werk kann man den Eindruck gewinnen, der Königsberger Philosoph habe vor allem den ersten beiden Fragen seine Aufmerksamkeit zugewandt. In Gestalt der theoretischen Philosophie hat er darüber Auskunft gegeben, was wir wissen können; in Gestalt der praktischen Philosophie hat er die Frage beantwortet, was wir tun sollen. Doch die keineswegs heimliche Leitfrage seines Philosophierens  liegt in der Frage, worauf wir hoffen dürfen. „Die Verstandeswaage“ – so sagt er schon an einer frühen Stelle – „ist doch nicht ganz unparteiisch, und ein Arm derselben, der die Aufschrift führt: Hoffnung der Zukunft, hat einen mechanischen Vorteil, welcher macht, dass auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Spekulationen von an sich größerem Gewichte auf der andern Seite in die Höhe ziehen. Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann, und die ich in der Tat auch niemals heben will.“ Die Hoffnung der Zukunft  ist also das Thema, dem Kant stets ein besonderes Gewicht zuerkennt.  Um eine Hoffnung geht es dabei, die an der Sterblichkeit des Menschen nicht zu Schanden wird, um eine Hoffnung, die auch angesichts der Verhülltheit des Daseins durch den Tod Bestand hat.

Als Pflichtethiker ist Kant vor allem in Erinnerung geblieben. Aber dieses Insistieren auf den Pflichten der Gegenwart ist eingebettet in die Frage nach einer Bestimmung des Menschen, die über solche irdische Pflichterfüllung hinausreicht. Wörtlich heißt es bei ihm: „Unter diesen Betrachtungen richtet der Weise (aber wie selten findet sich ein solcher!) die Aufmerksamkeit vornehmlich auf seine große Bestimmung jenseits dem Grabe. Er verlieret die Verbindlichkeit nicht aus den Augen, die ihm der Posten auferlegt, auf welchen ihn hier die Vorsehung gesetzt hat. Vernünftig in seinen Entwürfen, aber ohne Eigensinn, zuversichtlich auf die Erfüllung seiner Hoffnung, aber ohne Ungeduld, bescheiden in den Wünschen, ohne vorzuschreiben, vertrauend, ohne zu pochen, ist er eifrig in der Leistung seiner Pflichten, aber bereit, mit einer christlichen Resignation sich in den Befehl des Höchsten zu ergeben, wenn es ihm gefällt, mitten unter allen diesen Bestrebungen ihn von der Bühne abzurufen, worauf er gestellet war. Wir finden die Wege der Vorsehung allemal weise und anbetungswürdig in denen Stücken, wo wir sie einigermaßen einsehen können; sollten sie es da nicht noch weit mehr sein, wo wir es nicht können?“

In zwei Bildern hat die europäische Tradition diese Hoffnung zu erfassen gesucht. Das eine Bild haftet an der Person Jesu Christi und am Glauben an seine Auferweckung von den Toten; die Hoffnung über den eigenen Tod hinaus richtet sich auf die Auferstehung von den Toten. Das andere Bild haftet an einer – vor allem von dem griechischen Philosophen Plato ausgearbeiteten – Unterscheidung im Menschen, nämlich der Unterscheidung zwischen seinem sterblichen Leib und seiner unsterblichen Seele. Die Hoffnung über den eigenen Tod hinaus richtet sich also auf die Unsterblichkeit der Seele. Beide Bilder, so unterschiedlich  sie nach ihrer Herkunft und nach ihrem Aussagegehalt sind, haben sich vielfach miteinander verschwistert. Im christlichen Bekenntnis sind vor allem „die Auferstehung von den Toten und das ewige Leben“ heimisch geworden. In der philosophischen Tradition wurde vorrangig die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele verhandelt. Kant zählt deshalb die Unsterblichkeit – neben Gott und der Freiheit – zu den großen Themen der Metaphysik.

In unserer Gegenwart hat das Thema der Unsterblichkeit einen dramatischen Wandel erlebt. Auf der einen Seite verbindet es sich mit Vorstellungen aus ostasiatischen Religionen, die an Seelenwanderung und Reinkarnation orientiert sind. Solche Vorstellungen sind ja ohne die Voraussetzung einer unsterblichen Seele gar nicht zu denken. Zum andern gewinnt die Vorstellung von einer technisch hergestellten Unsterblichkeit des Menschen an Boden. Autoren wie Ray Kurzweil vertreten eine Denkweise, die als „Immortalitäts-Technosophie“ bezeichnet worden ist. Ray Kurzweil etwa sagt voraus, bereits gegen Ende des 21. Jahrhunderts werde das menschliche Denken mit der vom Menschen geschaffenen Maschinenintelligenz so verschmolzen sein, dass es eine klare Unterscheidung zwischen Mensch und Computer nicht mehr geben werde. Damit werde der Mensch unsterblich; denn die Vorstellung von einer begrenzten Lebenserwartung habe dann im Zusammenhang mit intelligenten Lebewesen keine Bedeutung mehr. Andere verbinden die Vorstellung einer vom Menschen selbst hergestellten Unsterblichkeit nicht mit den Fortschritten der Computertechnologie, sondern mit der Verbindung zwischen Gentechnologie und Reproduktionsmedizin. Sie meinen, der Einsatz des reproduktiven Klonens werde den Menschen zum Herrn über den eigenen Tod machen, da er in identischen Kopien seiner selbst weiterleben könne. Doch solche Formen von abergläubischem Wissenschaftsglauben diskreditieren eher sich selbst, als dass sie die Entwicklung der Wissenschaft adäquat deuten. Freilich führt diese Diskussion dazu, dass umgangssprachlich Unsterblichkeit fast nur noch im Sinn einer Aufhebung der menschlichen Sterblichkeit verstanden wird.

Wenn dagegen heute danach gefragt wird, was auch im Tod des Menschen nicht zerbricht, greifen wir eher zu einem anderen Wort. Die Würde des Menschen ist eines der großen Themen des 20. und wohl auch des 21. Jahrhunderts. Ein Nachdenken über die Würde des Menschen hat sich im 20. Jahrhundert gerade deshalb entfaltet, weil es in ihm immer wieder am Respekt vor demjenigen Kern der menschlichen Person fehlte, der über alle Tode hin Bestand hat. Vor allem gilt das für die totalitären Regime des vergangenen Jahrhunderts. Als Bollwerk gegen totalitäre Verführungen wurde der Begriff der Menschenwürde ins Feld geführt. Sie soll für den Schutz des menschlichen Lebens und die Entfaltungsmöglichkeiten der Persönlichkeit gerade deshalb ein sicheres Fundament abgeben, weil sie unveräußerlich ist, also auch an der Verhüllung des menschlichen Lebens durch den Tod nicht zerschellt.

Doch wie tragfähig ist diese Berufung auf die Menschenwürde? Darüber wird heftig gestritten. Gilt sie für alle Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens? Gilt sie schon für den Embryo im Mutterleib – und erst recht außerhalb desselben, also für den Embryo, der reproduktionsmedizinisch in der Petrischale erzeugt wird? Und wie steht es mit der Menschenwürde am Ende des Lebens? Kann unter Berufung auf die Menschenwürde ein Recht auf den eigenen Tod und damit auch auf aktive Sterbehilfe gefordert werden? Oder verbietet die Menschenwürde gerade jedes aktive Eingreifen zur Beendigung menschlichen Lebens? Um den Begriff der Menschenwürde kristallisieren sich die schwierigsten Fragen der gegenwärtigen bioethischen Debatten.

Unsterblichkeit und Würde – so heißt unser Thema. Kann eine Erinnerung an Immanuel Kant dazu beitragen, den Zusammenhang zwischen beiden aufzuklären? Und kann die Klarheit dieses Philosophen uns in den Unklarheiten unserer eigenen Gegenwart aufhelfen? Das sind die Fragen, denen ich mich in diesem Vortrag zuwenden will – Kant zu ehren, dessen Todestag sich heute zum 200. Mal jährt. Seiner gedenken wir, indem wir miteinander nachdenken. Wie anders sollten wir ihm Ehre erweisen?

II.

Doch zwischenhinein will ich fragen: Was hätte Immanuel Kant wohl davon gehalten, dass ein Vortrag ihm zu Ehren in einer Kirche gehalten wird? Hätte ihn seine Skepsis gegen den Kirchenglauben diesen Ort meiden lassen? Hätten wir ihn mit der Zusicherung umstimmen können, auf das Singen von Chorälen zu verzichten? Denn von denen ist bekannt, dass sie den Philosophen – vor allem dann, wenn sie von den Insassen eines nahe gelegenen Gefängnisses gesungen wurden – beim Denken störten.

Jedenfalls trifft es nicht zu, dass der angeblich „alles zermalmende“ Kant für den Glauben an Gott keinen Raum gelassen hätte. Den großen Fragen der Metaphysik, die Gottesfrage eingeschlossen, hat er vielmehr immer Raum gegeben und Respekt gezollt. Nur war er ein Theoretiker der Vernunft gerade darin, dass er deren Grenzen schärfer markierte als je ein Denker vor ihm. Die Existenz Gottes zu beweisen, lag beispielsweise jenseits  dieser Grenzen. Vom Gottespostulat in der praktischen Vernunft Gebrauch zu machen, lag dagegen innerhalb. Warum sollte ein solcher Gedanke nicht auch in einer Kirche Resonanz und Gehör finden – und Zustimmung sogar bei einem, der die Rede von Gott zum Beruf hat?

Wer sich als Theologe an Kant hält, folgt der Verführung nicht, die Vernunft durch Gefühl zu ersetzen und das Resultat dann Glauben zu nennen. Wenn ein Theologe sich mit Kant beschäftigt, dann bejaht er das Ziel: die Frage nach Gott mit der Klarheit der Vernunft zu verbinden. Das bedeutet freilich nicht, Wissen und Glauben in eins zu setzen. Die Grenzen des Wissens  zu bestimmen und gerade so zum Glauben Raum zu bekommen, war Kants Weg in dieser Frage; so sah sein Bündnis zwischen Glauben und Vernunft aus, in dem er nach meiner Überzeugung als ein, ja sogar als der Philosoph des Protestantismus zu gelten hat. Nicht darin, dass er die Gottesfrage zu Ende gebracht, sondern darin, dass er sie offen gehalten hat, liegt sein großes Verdienst. Die Grundrichtung seines Nachdenkens beschreibt eine späte Äußerung auf provozierende Weise: „Es ist unmöglich, dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde.“ Wer an diesen Zug in Kants Werk erinnert, bagatellisiert damit die Kritik des Königsberger Philosophen an der lutherischen Orthodoxie und am Pietismus seiner Zeit nicht. Und es ist keineswegs ein „antihistorisches Gemütsbedürfnis“, wenn man Kants konstruktiv-kritischen Zugang zu Religion und Glauben ernst nimmt.

Zur Tragödie des deutschen Geistes im 20. Jahrhunderts gehört es, dass Kants kritische Klarheit allzu oft hinter dem Übermenschen verschwand, für den man Nietzsche in Anspruch nahm. Zu den Hoffnungen für das 21. Jahrhundert gehört es, dass es wieder gelingt, Vertrauen in die Klarheit der menschlichen Vernunft mit der Einsicht in ihre Grenzen zu verbinden. Das war Kants Lebensprojekt. Und es ist sein Vermächtnis. Deshalb ist er zu ehren. In diesem Geist gelten unsere Überlegungen dem Verhältnis von Unsterblichkeit und Würde.

III.

Seit man gefragt hat, wie denn angesichts der Sterblichkeit des Menschen von seiner Fortexistenz über den Tod hinaus überhaupt geredet werden kann, hat man immer wieder drei Antworten in den Vordergrund gestellt: Unsterblich ist ein Mensch in seinem Nachruhm; unsterblich ist er, weil er sich fortsetzt in einem Kollektiv – in der Abfolge der Generationen etwa oder in einem Volk; unsterblich ist er schließlich dank seiner unsterblichen Seele.

An Kants 200. Todestag liegt es zunächst nahe, die erste Antwort zu erwägen: Ein Mensch ist unsterblich durch seinen Nachruhm über den Tod hinaus. Kant ist eine solche Nachwirkung  zu attestieren. Doch ist deren besonderer Charakter zu bedenken. Kants unvergleichliche Wirkung besteht nämlich nicht darin, dass er bestimmte philosophische Lehren entwickelt hat, in denen er, wenn wir sie denn übernehmen, fortlebt. Er will nicht, dass man Philosophie, sondern dass man Philosophieren lernt. Der Impuls, der weiterwirkt, liegt in seinem großen Appell zum Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, in seiner Ermutigung dazu, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Bezwingend ist seine Philosophie gerade darin, dass sie für die philosophische Vernunftkritik keine anderen Maßstäbe gelten lässt als für den „gemeinen Menschenverstand“, den Kant auf folgende Maximen verpflichtet: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“ So versteht Kant einen gemeinen Menschenverstand, der sich am Grundsatz der menschlichen Autonomie ausrichtet. Denn für diese Autonomie ist die Frage danach, welches Gesetz ich mir selber geben kann, mit der anderen Frage identisch, welches Gesetz für alle zu gelten vermag. In vielen zeitgenössischen Vorstellungen von Autonomie besteht wird genau dieser Zusammenhang zwischen Individuellem und Allgemeinem aufgelöst. Die Selbstgesetzgebung verwandelt sich in Selbstverwirklichung. Man meint, man könne an der je eigenen Stelle denken, ohne sich zugleich darum zu bemühen, an der Stelle jedes anderen zu denken; genau darin aber liegt der Gegensatz zwischen Autonomie und Individualisierung. Kants Ruf zur Aufklärung ist an dieser Stelle ein heilsamer Ruf nach vorn. In einer Zeit, in der die Woge der Individualisierung ausläuft, ist es Zeit, die kantische Vorstellung von Autonomie zu erneuern.

„Sapere aude“: Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. So heißt Kants Ruf. Dieser Appell ist nicht ohne Vorläufer. Die Aufforderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, kann man vor ihm beispielsweise schon bei Luthers reformatorischem Partner Philipp Melanchthon finden; das ist keine zufällige Parallele. Und dennoch liegt in der Kombination zwischen der Ermutigung, dem eigenen Verstand zu vertrauen, und der Aufforderung, die Grenzen der eigenen Vernunft kritisch zu bedenken, die entscheidende Wende gegenüber der ganzen vorausgehenden Tradition. Über das eigene Leben hinaus wirkt Kant, weil er anderen etwas zutraut und ihnen dafür Ermutigung hinterlässt.

Dass er selbst bereit war, für die Eigenständigkeit des Denkens Risiken auf sich zu nehmen, zeigt seine Lebensgeschichte eindrücklich. Das lange Warten auf eine Professur hing damit zusammen, dass dieser Denker denken und nicht eine Karriere planen wollte. Und noch als er auf dem Zenith seines Ruhmes stand, in den kurzen zwölf Jahren zwischen 1785 und 1797, ließ er es an riskanten Unternehmungen nicht fehlen: an Stellungnahmen zur Französischen Revolution beispielsweise, die ihm den Vorwurf des Jakobinertums einbrachten, oder an einer Behandlung des Religionsthemas, die ihm die königliche Drohung eintrug, bei „fortdauernder Renitenz“ entlassen zu werden. Es wird Sie nicht wundern, dass Sie mich in diesem Konflikt mit König Friedrich Wilhelm II. und seinem für die Religion zuständigen Staatsminister Wöllner ganz und gar auf Kants Seite finden.

Im Blick auf Kant über Unsterblichkeit zu reden, hat also zunächst einen ganz elementaren Sinn. Wir würdigen Kants bleibende Wirkung und sprechen in diesem Sinn von seiner Unsterblichkeit.  Auf Kant passt eine solche Betrachtungsweise deshalb besonders gut, weil seine Nachwirkung die unmittelbare Wirkung zu Lebzeiten um ein Vielfaches übersteigt. Das gilt, obwohl sein Rang auch von Zeitgenossen wahrgenommen und gewürdigt wurde. Nicht immer geschah das so mit so doppelbödigem Enthusiasmus wie in dem Nachruf von Schelling, der vom „reinen Gold des Denkens“ sprach und damit einem Nachrichtenmagazin aus Hamburg die Überschrift für eine Titelgeschichte verschaffte.

Doch zugleich wissen wir: Die Vorstellung, dass ein Mensch in seinem Nachruhm weiterlebe, ist die unsicherste, weil ungleichmäßigste Form, in welcher der Gedanke der Unsterblichkeit des Menschen überhaupt gedacht worden ist. Weiter reicht schon die Vorstellung, dass es eine solche Fortexistenz  in den eigenen Nachkommen, im eigenen Volk oder in einem anderen Kollektiv geben könne. Oft genug ist die Bereitschaft des einzelnen zum solidarischen Opfer – der Mutter für ihr Kind, des Soldaten für sein Vaterland – unterschwellig mit einer solchen Vorstellung von Unsterblichkeit begründet worden. Doch ob jemand Nachkommen hat oder wie er sich einem solchen Kollektiv verbunden fühlt, versieht auch einen solchen Gedanken einer „kollektiven Unsterblichkeit“ mit großen Unsicherheiten. Uns Heutigen ist es deshalb mehr als fraglich geworden, ob ein solcher Versuch, dem menschlichen Leben einen letzten Sinn zu verleihen, wirklich tragfähig ist. Vielmehr ist es um den Opfertod für das Vaterland genauso still geworden wie um das Lebensopfer von Müttern für ihre Kinder. Aber „solidarische Opfer“ gibt es heute gewiss auch: Polizisten, Soldaten oder Feuerwehrleute, die bereit sind, das eigene Leben einzusetzen, um fremdes Leben zu retten, sind Beispiele dafür. Warum sollte nicht auch der Einsatz von Müttern – und hoffentlich auch von Vätern – für ihre Kinder als solidarisches Opfer anerkannt werden? Warum sollte das nicht auch von der Fürsorge der Kinder für ihre alt gewordenen Eltern gelten? Erstaunlicherweise wird auch der Einsatz menschlicher Embryonen zugunsten von Experimenten, die vielleicht eines Tages zu lebenserhaltendem therapeutischem Einsatz führen können, mit diesem Gedanken des solidarischen Opfers verknüpft. Aber trotzdem wird gemeinhin weder das Fortleben in einem Kollektiv noch das Opfer für dieses Kollektiv als ein zureichender Anker für eine Zukunftshoffnung angesehen, die stärker ist als der individuelle Tod.

Deshalb wird nach wie vor am ehesten dort konsequent nach dem tragenden Grund einer solchen Zukunftshoffnung gefragt, wo diese mit jedem einzelnen menschlichen Individuum auf gleiche und gleich unlösliche Weise verknüpft wird. Wie kann das gelingen? Seit alters wird die menschliche Seele als diejenige  Instanz angesehen, die dem Tod nicht unterworfen ist und deshalb eine Fortdauer über den Tod hinaus verbürgen kann. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele gehört zu den drei großen Themen der klassischen Metaphysik. Freiheit, Gott, Unsterblichkeit: so heißen diese drei Themen. Alle drei Themen spielen für Kant eine große Rolle. 

Dass Kant sich dem Thema der Freiheit in epochaler Weise zugewandt hat, ist allgemein bekannt. Die Fähigkeit, eine Kausalität anzufangen, hat er als eine unumgängliche Voraussetzung dafür angesehen, dass von der menschlichen Person überhaupt die Rede sein kann. Dass alle menschlichen Regungen physische Entsprechungen haben, die von heutigen Gehirnforschern staunenswerter Weise nachgewiesen werden können, hätte ihn in dieser Behauptung nicht wanken gemacht. Denn er hätte nicht geschlossen, dass solche Gehirnströme als die Ursache der individuellen Willensbestimmung anzusehen seien. Die Unterscheidung zwischen der geistigen und der natürlichen Existenz des Menschen, zwischen den Sphären des Geistigen und des sinnlich Wahrnehmbaren, hätte ihn daran gehindert – und ich glaube zu Recht. Wer heute die verfeinerten Beobachtungsmethoden moderner Gehirnphysiologie zum Anlass nimmt, die Möglichkeit menschlicher Freiheit in Frage zu stellen, denkt, so scheint mir, von der Freiheit des Menschen, aber auch von den großartigen Möglichkeiten der Gehirnforschung zu gering. Er liefert sich einem erkenntnistheoretischen Materialismus aus, der erkennbare materielle Vorgänge mit dem Wesen der Dinge in eins setzt. Er nimmt das Recht zu einem philosophischen Determinismus in Anspruch, der sich naturwissenschaftlich gerade nicht wird begründen lassen.

So weit zur Freiheit, dem ersten der drei großen Themen der Metaphysik. Dass Kant das zweite dieser Themen, das Gottesthema, intensiv behandelt, steht ebenfalls außer Frage. Die Destruktion der Gottesbeweise wie die Rekonstruktion der Rolle des Gottesbegriffs innerhalb der praktischen Philosophie  sind zwei zueinander komplementäre Denkbewegungen, in denen Kant keineswegs den Abschied vom Gottesbegriff, sondern nur die Unmöglichkeit demonstriert hat, seiner mit den Mitteln der bloßen Vernunft Herr zu werden. Man kann dies durchaus als einen Ausdruck des Respekts vor dem Begriff Gottes deuten. Welche Bedeutung ihm zukommt, zeigt sich nun aber besonders deutlich am dritten dieser Themen, an der Unsterblichkeit der Seele.

IV.

Zunächst geht Kant mit der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele in derselben Radikalität um, die er auch bei der Gottesfrage anwendet. Alle Versuche, eine unsterbliche Seele zu beweisen, destruiert er: Ihre Selbständigkeit, ihre Einfachheit oder ihre Einheit können nicht als tragfähige Beweise dafür herangezogen werden. Vielmehr liegt solchen Beweisen stets eine Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft zu Grunde. Aber mit derselben Gewissheit erklärt Kant, dass auch das Gegenteil nicht mit den Mitteln der Vernunft zu beweisen ist. Weder kann die Vernunft sich aufschwingen zu erklären, es sei kein Gott, noch vermag sie die Unsterblichkeit der Seele zu widerlegen. Dann aber entscheidet sich die Frage nicht durch theoretische Beweise pro und contra, sondern an der Frage, welche Aussagen theoretisch vertretbar und zugleich praktisch notwendig sind. Unter dem Gesichtspunkt der praktischen Vernunft aber ist festzustellen, dass die Forderungen der Moral nur dann den notwendigen Nachdruck erhalten, wenn die menschliche Seele mit dem Tod des Menschen nicht zu existieren aufhört, wenn es also in diesem Sinn ein „künftiges Leben der menschlichen Seele“ gibt.

Wieso das? Die Antwort liegt auf der Hand: Jede Vorstellung  von einer letzten Rechenschaftspflicht  des Menschen setzt voraus, dass der Mensch im Blick auf das Ganze seines Lebens, und damit über die Grenze des eigenen Todes hinaus, für seine Taten in Anspruch genommen werden kann. Eine Verantwortungsethik, die nicht nur auf die Verantwortbarkeit einzelner Handlungen, sondern auf die Verantwortung für unser Leben im Ganzen ausgerichtet ist, setzt eine Ansprechbarkeit des Menschen voraus, die mit seinem Tod nicht an ein Ende kommt. Diese Ansprechbarkeit des Menschen nennt die Tradition Seele. Dabei kann man sich diese Seele nicht als eine Substanz vorstellen – und sei es, wie man paradoxerweise immer wieder gesagt hat, eine immaterielle Substanz. Denn das führt unweigerlich in eine dualistische Entgegensetzung zwischen dem sterblichen Leib und der unsterblichen Seele. Ein solcher Dualismus aber hat eine Abwertung des Leibes und der Leiblichkeit des Menschen zur Konsequenz. Sogar für die Unsterblichkeit der Seele ist das ein zu hoher Preis. Überwinden lässt sich ein solcher Dualismus nur, wenn die Seele – oder, wie moderne Denker lieber sagen – das Selbst des Menschen relational, also in Beziehungen gedacht wird. Ein Denkansatz gewinnt in der modernen Sozialphilosophie  wieder neu an Bedeutung, der sich auch schon in der Reformation des 16. Jahrhunderts findet. Ein relationales Denken verankert das Ich des Menschen in Strukturen der Intersubjektivität. Die kommunikative Verbindung mit unseren Mitmenschen, das Verhältnis zu unserer Lebenswelt und die reflexive Beziehung zum eigenen Selbst sind für das menschliche Selbst konstitutiv. Doch wenn diesem Selbst Unbedingtheit, Ansprechbarkeit über den eigenen Tod hinaus und somit Unsterblichkeit zuerkannt werden sollen, dann muss auch dies in den relationalen Bezügen des menschlichen Lebens verankert sein. Von einer Unsterblichkeit der Seele lässt sich dann reden, wenn wir die Relation des Menschen zu Gott, die Verbindung zwischen Menschlichem und Göttlichem in die Betrachtung einbeziehen.  Nicht in einer dem Menschen selbst eigenen Substanz, sondern in der Gottesbeziehung wird dann die Unaufhebbarkeit des menschlichen Selbstseins und in diesem Sinn die Unsterblichkeit der Seele verankert. Die Hoffnung des Menschen über die Todesgrenze hinaus stützt sich nicht auf eine unvergängliche Substanz im Menschen selbst, sondern sie ist in der Beziehung auf ein Sein begründet, das selbst der Todesgrenze nicht unterworfen ist. Diese Beziehung bezeichnet die christliche Tradition als „Gottebenbildlichkeit“. Dass der Tod die Identität des Menschen nicht vollständig  aufhebt, können wir uns vorstellen, weil wir diesen Menschen angenommen wissen durch eine Liebe, die nicht der Macht des Todes unterworfen ist. Der Mensch kommt nicht an ein unumstößliches  Ende, wenn er mit dem Gebrauch der eigenen Freiheit am Ende ist; darauf können wir uns einlassen, wenn wir uns einer Freiheit anvertrauen, die nicht selbst an der Macht des Todes zerschellt.

Zwischen der platonischen Vorstellung von einer unsterblichen Seele, die sich im Tod von dem sterblichen Leib trennt, und einer solchen Verankerung einer Zukunft für das menschliche Selbst über den Tod hinaus, die in Gottes Zuwendung zum Menschen begründet ist, liegen gewaltige Verschiebungen. Zu ihnen hat Kant einen gewichtigen Beitrag geleistet. Als Postulat der reinen praktischen Vernunft ist ihm die Unsterblichkeit der Seele vor allem deshalb wichtig, weil sie eine ständige Antriebskraft für unser moralisches Bemühen ist. Denn der Wille, dem Sittengesetz zu folgen, orientiert sich an einem Ziel, das im menschlichen Leben nie vollständig verwirklicht werden kann. Das würde ja bedeuten, dass der Mensch von sich aus zur Heiligkeit im Stande ist; das aber ist nach Kants tiefer – gut lutherischer – Überzeugung ausgeschlossen. Trotz der begrenzten eigenen Kräfte, trotz der Tatsache, dass der Mensch aus krummem Holze geschnitzt ist, ja und vor allem: trotz der Anfechtung des Menschen durch das radikale Böse an dem Willen zur Verwirklichung des moralischen Gesetzes festzuhalten, ist überhaupt nur möglich, wenn dies unter einer Perspektive geschehen kann, die nicht der Begrenztheit der menschlichen Kräfte und der Endlichkeit der menschlichen Lebenszeit unterworfen ist. Das ist die Perspektive, unter der Kant die Unsterblichkeit der Seele thematisiert. Sie gewährleistet also einen Sinn des menschlichen  Handelns, der an dessen Schuldanfälligkeit, Vorläufigkeit und Endlichkeit nicht zerbricht. Sie ermutigt, das innerhalb der eigenen Kräfte Mögliche zu tun und dann getrost darauf zu vertrauen, dass es die Ergänzung, deren es immer bedürfen wird, auch tatsächlich findet. Lakonisch kommentiert Kant dieses Verhältnis zwischen der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten und der Vervollkommnung, auf die menschliches Handeln immer angewiesen bleibt, mit folgendem Grundsatz: „’Es ist nicht wesentlich, und also nicht jedermann notwendig zu wissen, was Gott zu seiner Seligkeit tue, oder getan habe’; aber wohl, was er selbst zu tun habe, um dieses Beistandes würdig zu werden.“

Dieser Satz enthält den Kern derjenigen Überlegungen Kants, deretwegen manche seine Bezeichnung als „Philosoph des Protestantismus“ abgelehnt haben. Denn es scheint so, als sei Kants Erwägung mit Luthers Prinzip „allein aus Gnade“ unverträglich. Vergeblich wartet man auf ein Echo zur reformatorischen Absage an alle Formen der Werkgerechtigkeit. Das Hauptaugenmerk soll gerade nicht der Frage gelten, was Gott zu meiner Seligkeit tut; vielmehr gilt die Aufmerksamkeit der Frage, was ich selbst zu tun habe, um mich seines Beistands als würdig zu erweisen.

Doch wenn man erkannt hat, dass die Bereitschaft, das Meine zu tun, schon immer von dem Postulat Gebrauch macht, dass mir mehr gegeben ist, als ich selbst hervorzubringen vermag, dann stellt sich die Sache anders dar. Wenn das Postulat der Unsterblichkeit, also des Angenommenseins von Gott, schon meiner Bereitschaft vorausgeht, zu tun, was mir selbst möglich ist, dann begegnet auch in dieser Überlegung Kants die Verhältnisbestimmung zwischen göttlicher Anerkennung und menschlichem Handeln, die sich bei Luther in der Vorordnung der göttlichen Gnade vor die Werke des Menschen Ausdruck verschafft. Auf diesem Hintergrund konnte bekanntlich auch Luther deutlich von den guten Werken reden, die der Mensch selbst zu vollbringen hat. Überschwänglich konnte er sie sogar als Mitarbeit am Werk Gottes selbst bezeichnen: „Er will, dass wir mit ihm wirken, und tut uns die Ehre an, dass er mit uns und durch uns sein Werk wirken will. Und wenn wir von dieser Ehre keinen Gebrauch machen wollen, dann wird er allein es doch ausrichten.“ Ebenso wie die Annahme des Menschen durch Gottes Gnade menschlichem Handeln entzogen ist, so kann auch die Unsterblichkeit kein Resultat menschlicher Anstrengungen sein. Aber ebenso wie das Postulat der Unsterblichkeit in einer vorbehaltlosen Bereitschaft zur Befolgung des moralischen Gesetzes zur Wirksamkeit kommt, so zeigt sich die in Gottes Gnade begründete Gewissheit des Glaubens in der vorbehaltlosen Bereitschaft, in der Liebe tätig zu werden. Im einen wie im andern Fall erweist sich die Bereitschaft zum Handeln als Folge eines Angenommenseins durch Gott, nicht etwa als das Mittel, die Annahme durch Gott zu erreichen.

Im einen wie im andern Fall wird also das sittlich verantwortliche Handeln des Menschen an eine unbedingte Anerkennung der menschlichen Person geknüpft, die von aller eigenen Leistung unabhängig ist. Dass wir durch unser Handeln diese letzte Anerkennung nicht selbst hervorbringen müssen, bildet die entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Bereitschaft zu solchem Handeln sich immer wieder erneuert – allen Fehlschlägen und Enttäuschungen, allen widrigen Umständen und allem eigenen Versagen zum Trotz.

Nicht in seinen einzelnen Vorschlägen zum Umgang mit Fragen der Moral, sondern in dem ihnen zu Grunde liegenden Menschenbild sehe ich den entscheidenden und in die Zukunft weisenden Beitrag Kants. Zu diesem Menschenbild aber gehören die Postulate Gottes und der Unsterblichkeit genauso wie das Postulat der Freiheit. Dass der Mensch in seinem begrenzten Dasein einem höchsten Dasein gegenübersteht und dass er aus einer Anerkennung seiner Person lebt, die all seinem Handeln vorausgeht: darin liegen auch heute und morgen zwei entscheidende Voraussetzungen für den Wert und für den Gebrauch menschlicher Freiheit.

V.

Aber behält es nicht doch etwas Befremdliches, wenn wir solche Überlegungen so beharrlich mit dem Begriff der Unsterblichkeit  der Seele verknüpfen? Wir können es jedenfalls nur dann tun, wenn wir uns dabei scharf und unmissverständlich von der Haltung abgrenzen, die ich vorhin als abergläubischen Wissenschaftsglauben bezeichnet habe. Denn Kants Postulat der Unsterblichkeit der Seele hat mit der Vorstellung von einer selbst produzierten Unsterblichkeit des Menschen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Sie lässt sich nicht von der verwegenen Vorstellung leiten, die menschliche Sterblichkeit aufzuheben. Ihr Pathos liegt vielmehr darin, die menschliche Sterblichkeit anzunehmen. Diese Annahme aber ist nur möglich, wenn man mehr kennt als nur den sterblichen Menschen. Heutige Unsterblichkeitsvorstellungen dagegen haben zum Ausgangspunkt, dass der sterbliche Mensch mit sich selbst allein ist und deshalb vor sich selbst fliehen möchte. Der Glaube, mit den Mitteln des wissenschaftlichen Fortschritts könne der Mensch seine Sterblichkeit aufheben und so Unsterblichkeit erlangen, ist das Resultat einer solchen Fluchtbewegung. Die für den Umgang mit der conditio humana entscheidende Frage wird dadurch freilich gerade verdrängt. Sie richtet sich darauf, was angesichts unserer Sterblichkeit und damit in unserem Sterben wie über unseren Tod hinaus Bestand hat. Heute wird diese Frage zumeist mit anderen Begriffen beantwortet als mit dem der Unsterblichkeit. Den Begriff des Selbst habe ich dafür schon verwendet; auch der Begriff der Person wird für solche Überlegungen immer wieder ins Spiel gebracht. Aber vor allem tritt der Begriff der Würde auf den Plan, wenn eine Anerkennung des Menschen zur Sprache kommen soll, die über die endlichen Möglichkeiten seines Handelns  und über die Grenzen seines sterblichen Lebens hinausreicht. Schon bei Kant selbst tritt der Begriff der Würde neben den traditionellen Begriff der Unsterblichkeit, um eine Anerkennung zum Ausdruck zu bringen, die nicht davon abhängt, was wir aus unserem Leben machen und wofür es gut ist. Nicht weil er zu etwas taugt, sondern weil er ein „Zweck an sich selbst“ ist, hat der Mensch Würde.

In Deutschland hat die Achtung vor dieser Würde Verfassungsrang. Ihre Unantastbarkeit wird ohne Einschränkungen gewährleistet; ihre Achtung und ihr Schutz bilden den normativen Kern allen staatlichen Handelns. Gewiss hat der Verfassungsgeber des Jahres 1949 damit Konsequenzen aus der Missachtung der Menschenwürde durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gezogen. Aber er hat damit nicht einen deutschen „Sonderweg“ beschritten. Vielmehr war dem Parlamentarischen Rat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekannt, die von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 beschlossen wurde. Dort war von der Achtung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie eigenen Würde die Rede. Es hat in Deutschland einen besonderen Grund, auf der Unantastbarkeit der Menschenwürde zu beharren; aber es hat keine exklusive Bedeutung, wenn dies geschieht.

Dass die Menschenwürdeformel der Deutung bedarf, hat man von Anfang an gesehen; Theodor Heuß hat in diesem Sinn von einer „nicht interpretierten These“ gesprochen. Kaum einen Interpretationsversuch hat es seitdem gegeben, der sich nicht an Kants begrifflicher Unterscheidung von Wert und Würde orientiert hätte. Von Wert spricht man dort, wo eine Sache durch ein Äquivalent ersetzt werden kann; was einen Wert hat, hat damit auch einen Preis. Würde dagegen hat das, „was ... über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet.“ Gewiss hat die Arbeit eines Menschen einen Wert; die Arbeit des einen lässt sich durch die Arbeit eines andern oder auch durch die Arbeit technischer Geräte ersetzen. Aber so weit der Mensch ein autonomes Wesen ist, das seinen Zweck in sich selbst trägt, kommt ihm eine Würde zu, der man nicht mit Bezahlung, sondern nur mit Achtung gerecht werden kann. Den Menschen als Zweck an sich selbst zu achten, ist deshalb selbst ein Ausdruck menschlicher Autonomie; darum trägt diese Pflicht den Charakter eines kategorischen Imperativs. Der Begriff der Würde ist auf Wechselseitigkeit angelegt. Insofern zielt die Rechtsordnung darauf, Verhältnisse wechselseitiger Achtung zu ermöglichen und zu fördern. Die Pointe von Kants Würdebegriff besteht darin, dass sich in ihm Autonomie und Wechselseitigkeit oder – mit einer anderen Begrifflichkeit – Freiheit und Verantwortung miteinander verbinden.

Man hat die beschriebene Differenz zwischen Wert und Würde auch in der Unterscheidung zwischen Sache und Person zum Ausdruck gebracht. Auch wo die Existenz oder insbesondere die Arbeit eines andern Menschen für mich einen Wert hat, wo ich ihn also als Mittel zum Zweck verwende, darf er doch nicht zum bloßen Mittel werden; ich darf ihn niemals nur als Mittel verwenden. Denn dann betrachte ich ihn als Sache. Wenn ich ihn in all solchen Bezügen stets zugleich als Zweck an sich selbst ansehe, betrachte ich ihn als Person.

Hier, in der Unterscheidung von der bloßen Sache, hat der Begriff der Person seinen Ort. Dagegen führt es in die Irre, den Begriff der Person auf die Weise zur Geltung zu bringen, dass man Person und Mensch einander gegenüberstellt. Wenn man auf diese Weise einen weiteren Begriff des Menschen von einem engeren der Person unterscheidet, führt das beispielsweise zu dem Ergebnis, dass dem Menschen im weiteren Sinn der Schutz des Lebens, aber nur der Person im engeren Sinn die Achtung der Würde zuerkannt wird. Diesen Weg hat beispielsweise Bundesjustizministerin Brigitte Zypries beschritten. Damit verkehrt sich freilich das Verhältnis zwischen der Achtung vor der menschlichen Würde und dem Schutz des menschlichen Lebens. Die Menschenwürde, aus der sich die Fürsorge für das menschliche Leben ergibt, wird nun zu einer abgeleiteten Folge, die sich – vielleicht – im Verlauf des menschlichen Lebens einstellt.

Wann soll sie sich einstellen? An welche Voraussetzungen wird sie geknüpft? An die Verbindung des menschlichen Embryos mit einem mütterlichen Körper, so sagen die einen. An die Fähigkeit, sich von sich aus zum Menschen zu entwickeln, sagen die andern. An die Geburt, mit welcher der Mensch erst ins Leben tritt, so heißt es auf der einen Seite. An die Fähigkeit, von sich aus Präferenzen und Optionen zu entwickeln, also an den Nachweis individueller Autonomie, so ist es auf der anderen Seite zu hören. Man braucht diese – jederzeit der Ergänzung fähige – Liste nur zu nennen, um deutlich zu machen: Die Unterscheidung zwischen Mensch und Person, bei der die Menschenwürde an die Voraussetzung des Personseins geknüpft wird, führt in den Bereich der willkürlichen Setzungen; sie nimmt dem Begriff der Menschenwürde den Wesenskern, nämlich seine Unbedingtheit.

Sie scheitert übrigens auch an unserer elementaren Erfahrung: Wir achten einen Menschen als Person, bevor er die Merkmale erkennen lässt, an die wir das Personsein knüpfen. So geben wir dem Heranwachsenden einen Vorschuss an Vertrauen, durch den allein er sein Personsein auch auszubilden vermag. Diese uns allen vertraute Erfahrung zeigt, was geschehen würde, wenn wir die Menschenwürde an die Voraussetzung binden, dass ein Mensch sich dieser Würde als würdig erweist. Es gehört eben gerade nicht zu den Voraussetzungen, sondern zu den Folgen der Menschenwürde, dass wir in einer Weise leben und handeln, die der Menschenwürde würdig ist. Dass diese Würde voraussetzungslos ist, bedeutet gerade nicht, dass sie folgenlos bleibt.

Man mag einwenden, dass in der Sphäre des Rechts Unbedingtes ohnehin keinen Ort hat. Doch unsere Verfassungsordnung hat – neben der Präambel jedenfalls an dieser Stelle – dem Unbedingten Raum gegeben. Sie wollte damit verhindern, dass das Recht selbst den Charakter des Absoluten, des Unbedingten, des Bindungslosen annimmt. Deshalb verweist unsere positive Rechtsordnung an dieser Stelle auf ein Prinzip, das nicht zur Disposition des Verfassungsgebers – damit aber auch nicht zur Disposition der Verfassungsinterpreten – steht.

Zwar bilden die Erfahrungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert den konkreten Hintergrund für die Formulierung der Grundrechte unseres Grundgesetzes. Aber die unbedingte Achtung der Menschenwürde hängt nicht von diesem historischen Kontext ab. Ihre Bedeutung für den internationalen Menschenrechtsschutz spricht gegen eine solche Einschränkung. Gegen sie spricht aber vor allem ihre klare Grundlegung in Kants Bild vom Menschen, in dem sich christliches und aufklärerisches Denken miteinander verbinden.

Deshalb halte ich es für richtig, auch im Wandel der konkreten Bedingungen, die wir gegenwärtig erleben, menschliches Leben, wann immer es in den Horizont unserer Verantwortung tritt, unter dem Gesichtspunkt anzusehen, dass es ein „Zweck an sich selbst“ und damit ein „Dasein um seiner selbst willen“ ist. „Wann immer es in den Horizont unserer Verantwortung tritt“, sage ich. Ein Embryo, den wir reproduktionsmedizinisch in der Petrischale erzeugen, tritt auf andere Weise und zu einem anderen Zeitpunkt in den Horizont unserer Verantwortung als ein natürlich gezeugter Embryo vor der Einnistung in die Gebärmutter. Die Tatsache, dass ein erheblicher Anteil natürlich gezeugter Embryonen vor der Nidation unerkannt abgeht, ist deshalb keine hinreichende Begründung dafür, künstlich erzeugte Embryonen zu anderen Zwecken zu verwenden als zur menschlichen Reproduktion. Denn jede andere Verwendung verstößt gegen das Instrumentalisierungsverbot, das sich aus der Menschenwürde ergibt. Ein irgendwie vergleichbarer Gesichtspunkt lässt sich gegenüber dem unerkannt abgehenden Embryo nicht geltend machen. Dadurch, dass der frühe Embryo überhaupt in dieser Weise in den Horizont unserer Verantwortung tritt, ist es notwendig geworden, die Grenze zu definieren, von der an wir diese Verantwortung auch wahrzunehmen haben. Die Fortschritte der Reproduktionsmedizin haben zu dieser Klärung genötigt. Es war und bleibt folgerichtig, gerade im Blick auf künstlich erzeugte Embryonen die Fürsorgepflicht mit der Befruchtung und nicht erst mit der Einnistung beginnen zu lassen. Ein Eingriff in den Lebensschutz für den frühen Embryo kann deshalb nur vertretbar sein, wenn es sich um einen Konflikt handelt, der mit anderen, milderen Mitteln nicht gelöst werden kann. Selbst wenn man den Konflikt zwischen der Forschungsfreiheit und dem Schutz des Embryos als sehr schwerwiegend einschätzt, ist damit allenfalls die Verwendung schon existierender embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken, nicht aber die Herstellung von Embryonen zum forschenden Verbrauch gerechtfertigt. Die in Deutschland herrschende Rechtslage zum Import embryonaler Stammzellen ist also keineswegs so haltlos, wie manchmal behauptet wird. Freilich weckt der geringe Umfang, in dem von den neuen Forschungsmöglichkeiten mit importierten embryonalen Stammzellen Gebrauch gemacht wird, Zweifel daran, ob der Konflikt zwischen Embryonenschutz und Forschungsfreiheit wirklich so gravierend war, wie das in manchen alarmierenden – oder soll ich sagen: alarmistischen – Äußerungen dargestellt wurde.

Entsprechende Überlegungen gelten auch für die Präimplantationsdiagnostik. Auch hier wird eine Grenze überschritten. Es geht nicht mehr nur darum, aus einem schweren Konflikt einen Ausweg zu suchen und dabei keine mildere Lösung zur Verfügung zu haben als den Eingriff in das Lebensrecht des Embryos. Vielmehr werden Embryonen nur hergestellt, um in einem anschließenden Auswahlverfahren diejenigen zu bestimmen, die implantiert werden sollen. Die planmäßige Verwerfung der für ungeeignet gehaltenen Embryonen ist der Wesensgehalt der Präimplantationsdiagnostik. Er ist mit dem Instrumentalisierungsverbot unvereinbar. Unvereinbar ist mit ihm aber auch die andere Seite dieses Verfahrens: nämlich die Planung der gewünschten Eigenschaften eines künftigen Menschen. Dass wir Kinder hinsichtlich der Haarfarbe und des Intelligenzquotienten wählen werden, mag noch Zukunftsmusik sein; dass wir sie nach dem Geschlecht oder der Blutgruppe wählen, ist bereits Realität. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Praxis der Präimplantationsdiagnostik sich auf den Ausschluss schwerster genetisch bedingter Behinderungen beschränken ließe. Sie enthält vielmehr einen Sog, der mit der Vorstellung vom Menschen als einem „Dasein um seiner selbst willen“ unvereinbar ist.

Dass dies erst recht für das reproduktive Klonen gilt, liegt auf der Hand. Wer sagt, in dieses Urteil sei das Forschungsklonen – auch therapeutisches Klonen genannt – nicht einzubeziehen, muss erst einmal erklären, wodurch die Handlung des Forschungsklonens selbst – nicht etwa nur der Zweck, für den es geschieht – sich vom reproduktiven Klonen unterscheidet. Auch das Forschungsklonen ist dazu geeignet, einen Menschen hervorzubringen; deshalb kann es von dem Urteil über das reproduktive Klonen nicht ausgenommen werden.

Dass der Mensch ein „Dasein um seiner selbst willen“ ist, bedeutet, dass wir in der Fürsorge für ihn tun sollen, was wir können. Das Auffinden von Wegen zur Heilung bisher unheilbarer Krankheiten gehört gewiss dazu. Aber nicht einmal dieses hohe Ziel berechtigt zu einer ethischen Argumentation, die nach dem Muster verfährt, der Zweck heilige die Mittel. Das gilt ganz besonders dann, wenn der Mensch selbst es ist, den wir als ein Mittel zu einem – noch so hochrangigen – Zweck einsetzen wollen.

VI.

Vom Werk Immanuel Kants kann man ganz gewiss nicht sagen, es sei ein „nicht interpretierter Text“. Es wurde vielfach gedeutet; und dieses Kantjahr beschert uns neue Lesarten. Doch es bleibt dabei: Kant nachzudenken, bedeutet selbst zu denken. Auf Kants Denken zu antworten, bedeutet, unser heutiges Denken zu verantworten. Und nicht nur das Denken, sondern auch das Handeln.

Und wenn es immer wieder einmal mühselig wird, Denken und Handeln zu verantworten, können wir uns auch dann an Kant halten, von dem der Satz überliefert ist: „Der Himmel hat uns Menschen gegen die Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben: Die Hoffnung, den Schlaf, das Lachen.“

Damit schließt sich der Kreis. Nicht nur für Kant ist die „Hoffnung der Zukunft“ das wichtigste Thema; sie ist es auch für uns.